Rede zum Andenken an den am 2. Oktober 2017 in Perugia im Alter von 92 Jahren verstorbenen Klaus Huber
Lieber Klaus! Ich weiß, dass du jetzt unter uns bist und uns zuhörst, deshalb spreche ich dich auch so direkt an. Fast fünfzig Jahre lang haben wir uns gekannt, du hast mir tiefe Einblicke in deine so vielgestaltige, zerklüftete Musik gewährt und mich an deinem Leben teilhaben lassen. Auch ich konnte diese Zuwendung erfahren, von der alle deine Schüler berichten, und die einer der ersten Studenten deiner Freiburger Zeit, Arturo Tamayo, in die schönen Worte fasste: „Wir konnten uns immer auf seine unbeirrbare Treue, sein Vertrauen und seine Solidarität verlassen.“
Unsere gemeinsame Zeit begann 1968, als ich, aus Zürich kommend, ein Jahr lang bei dir in Basel studierte. In jenem ominösen Mai ’68 erzählte ich dir eines Tages – brühwarm, denn ich wohnte damals mitten in dem Getümmel –, wie die hilflose Obrigkeit in Gestalt noch hilfloserer Polizisten auf die Demonstranten eindrosch, und wir empörten uns gemeinsam über die Gewalt. Für uns beide war diese Erfahrung neu, und dich hat es besonders tief getroffen.
Ich glaube, hier liegt ein verborgener Kern der Klang gewordenen Empörung, mit der du fünfzehn Jahre später in deinem politischen Oratorium „Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet …“ das weitaus brutalere Geschehen in Lateinamerika kommentiert hast. Dieselbe Empörung bricht auch in deiner Oper „Schwarzerde“ über den Poeten Ossip Mandelstam wieder aus, wenn der kommunistische Kommissar in Mandelstams Wohnung eindringt und sagt: „Leute wie Sie interessieren uns nicht.“ Dann lässt er seine Bibliothek abtransportieren: „Ihre Bücher gehören jetzt dem Volk.“
Gewalt gegen das schutzlose Individuum war für dich völlig inakzeptabel. Deine Sensibilität in politischen Dingen entstand aber nicht aus einem oberflächlichen Aktionismus heraus, sondern sie hatte ihre Wurzel in der entfalteten Innerlichkeit, die sich schon in deinen frühen Werken unverstellt äußert. Geistliche Lyrik mit mystischem Einschlag, die Gedanken des Augustinus, in dem du damals einen Geistesverwandten gefunden hast, die christliche Ethik des Mitleids ganz allgemein: Das ist die Kraftquelle, aus der sich deine Individualität entwickelt hat. Diese Kraft des Inneren durchzieht als versteckter Cantus firmus dein Werk auch noch dort, wo es sich mit äußerster Konsequenz der Welt der Dinge zuwendet. Und in diese reiche Innenwelt hast du dich in den letzten Jahren zunehmend zurückgezogen, was deiner Erscheinung eine still leuchtende Heiterkeit verliehen hat.
Zum Stichwort „Welt“: Die Neugier, mit der du dir die äußere Welt erschlossen hast, war unbeschreiblich. Das zeigt sich nicht nur im menschlichen Interesse, das du deinen Studentinnen und Studenten entgegengebracht hast und das über rein fachliche Belange weit hinausging. Die Neugier ist auch ein Grundzug deines musikalischen Werks. Auf der inhaltlichen Ebene zeigt sie sich in der Wahl der großen Themen, die du bis ins hohe Alter mit jugendlicher Frische angepackt hast und denen du auf eine für dich typische, radikale Weise auf den Grund gegangen bist: die Ungerechtigkeit in Lateinamerika, das kulturelle Desaster der arabischen Welt, der gefährliche Glitzer des Kapitalismus, die zerbrechliche Existenz Ossip Mandelstams, um nur einige zu nennen.
Und fast noch mehr zeigt sich diese Neugier in deinem ureigenen Bereich, dem kompositorischen Metier und der Arbeit am Klang. Kaum ein Zweiter hat sich so wie du immer neue Methoden und Ausdruckweisen erschlossen, um die Fülle des Lebens kompositorisch zu erfassen. Das geht von der Zwölftönigkeit und postseriellen Techniken über subtile Montageverfahren mit historischen Rückblenden, über das Komponieren mit Dritteltönen und arabischen Skalen bis zu den späten Meisterwerken, in denen du unsere große Tradition der Vokalpolyphonie auf raffinierteste und zugleich vergeistigte Weise wiederbelebt hast.
Diese Weite der Methoden ist stets einhergegangen mit der Weite der Sicht auf die Welt, und nicht zuletzt mit der Weite deines Herzens. Dem düsteren Weltlauf wolltest du die von Pascal eingeforderte „Raison du cœur“, die Vernunft des Herzens, entgegensetzen und als Künstler und Mensch danach handeln.
Lieber Klaus, du warst nicht nur ein großer Komponist und Pädagoge, sondern in vielen Dingen auch ein Vorbild. Selbst wenn ich es manchmal nicht gleich merkte: Mit deinen Einsichten warst du mir meist eine ziemlich große Nasenlänge voraus. Und so haben es vermutlich auch andere erlebt.
Jetzt bist du dorthin gegangen, wo auch wir einst hingehen werden. Auch da bist du uns ein Stück weit voraus. Dieser Schritt lag nun nicht mehr in der Macht deines hellen Verstandes, aber du bist ihn klaglos gegangen. Wir sagen dir Adieu, in der Hoffnung auf jene bessere Welt, die du in deiner Musik so eindringlich beschworen hast.
Diese Rede wurde am 19.10.2017 bei der Trauerfeier für Klaus Huber in der Peterskirche in Basel gehalten. Die Printversion erscheint in dem Klaus Huber gewidmeten Schwerpunkt der Zeitschrift MusikTexte Nr. 155, November 2017.