Aldeburgh ist noch immer eine erste Adresse unter den internationalen Musikfestivals. Dies nicht nur in musikalischer Hinsicht, sondern auch was tiefere Erkenntnisse zu aktuellen Befindlichkeiten angeht, und das heißt im Jahr 2019: Zum allgegenwärtigen Streit um den Brexit. Um die Brexitsehnsucht der angeblich so störrischen Briten besser zu verstehen, sollte sich der Kontinentaleuropäer vielleicht nicht nur das englische Rechtssystem und das merkwürdige Ritual der Parlamentseröffnung einmal etwas genauer anschauen, sondern sich auch musikalisch etwas umhören.
Den englischen Sonderweg gibt es auch in der Musik
Die britischen Uhren ticken auch in der Musik vernehmlich anders – sie klingt konsonanter, verbindlicher und ist näher am Publikum. Prominentes Beispiel ist der 1976 verstorbene Benjamin Britten. Von der deutschen Avantgarde und der mit ihr verbundenen Publizistik wurde er stets mit Verachtung gestraft, doch auf der Insel gilt er als Jahrhundertfigur. Zwei Welten, die Mühe haben, sich gegenseitig zu verstehen.
Der englische Sonderweg existiert im Grunde genommen seit dem ausgehenden Mittelalter, mit durchaus fruchtbaren Auswirkungen auf Kontinentaleuropa. Als im Hundertjährigen Krieg England mit den Burgundern gemeinsame Sache machte, sickerte über John Dunstable, Musiker im Dienst des englischen Regenten in Frankreich, eine neue Klangsinnlichkeit in die burgundische Hofmusik ein. Die englische Lust an parallelen Terzen und Sexten wurde zum sogenannten Fauxbourdon und hellte die spätgotische konstruktive Strenge der französischen Musik nachhaltig auf. Heute würde Dunstable mit seinen einfachen, wahrnehmungsortientierten Klangfiguren vermutlich der Minimal Music zugerechnet – ein No-go für kontinentale, zumal deutsche Zeitgenossen.
Benjamin Britten, zeitlos frisch
Wie hartnäckig sich dieses englische Klangideal am Leben erhalten hat, zeigte sich nun auch wieder beim Aldeburgh Musikfestival. Die Strahlkraft der Musik von Benjamin Britten, der 1948 das Festival gegründet hatte, ist ungebrochen. Das ausgezeichnete junge Castalian Quartet spielte sein zweites Streichquartett von 1945, eine als grosse architektonischen Form gestaltete Hommage an Henry Purcell. Wenn am Schluss des ersten und des letzten Satzes der C-Dur-Dreiklang richtiggehend zelebriert wird, wirkt das keineswegs befremdlich, sondern als gleichsam natürliche Konsequenz aus dem Vorangegangenen.
Solche Spiele mit der Tonalität wirken beim postmodernen Nachwuchs nach. Das uraufgeführte Streichquartett des jungen Briten Edmund Finnis bot ein Fest der schönen Oberfläche, immer kurz vor dem Umkippen ins Gefällige, aber beeindruckend in seiner Konsequenz und überraschend mit dem abrupten Schluss.
Von ganz anderer Seite lernte man Britten im Liederzyklus „The Holy Sonnets of John Donne“ kennen. Er entstand ebenfalls 1945, unmittelbar nach der Serie von Konzerten, die Britten kurz nach Kriegsende zusammen mit Yehudi Menuhin vor befreiten Häftlingen in deutschen Konzentrationslagern gegeben hatte. Der Schrecken und die Empörung über das Gesehene hallen in den Liedern nach und verbinden sich mit der inneren Zerrissenheit der Gedichte zum aufwühlenden persönlichen Bekenntnis. Der Tenor Mark Padmore, der auf der Bühne mit der Schriftstellerin Lavinia Greenlaw ein kenntnisreiches Gespräch über die Lieder und ihre Autoren führte, traf den Tonfall perfekt.
Konzerte mit Werkstattcharakter sind ein Markenzeichen des Festivals, das sich erfolgreich um den Abbau kultureller Barrieren bemüht und ein stark durchmischtes Publikum von regionaler bis internationaler Provenienz anzieht. Der ästhetische Horizont des Festivals ist gleichwohl weit gefasst, auch Sperriges von Boulez, Carter oder Birtwistle findet seinen Platz. Oder, wie im Klavierabend von Pierre-Laurent Aimard, kaum Bekanntes von Luigi Dallapiccola und die pianistisch imposanten „Shadowlines“ von George Benjamin.
Den Gegenpol markierte das englische Vokalensembles Tenebrae mit polyfonen Werken der englischen Renaissance, vorgetragen in vollendeter Reinheit und gemischt mit Vokalsätzen von James MacMillan, der an diese Tradition anknüpft. Inspirierender Konzertort war die spätgotische Kirche in Blythburgh, eine halbe Autostunde hinter Aldeburgh landeinwärts gelegen. Sie steht auf der grünen Wiese am Rand eines alten Dorfes und erinnert an die Zeiten, als hier die Schafzucht und der Export der Wolle nach Europa viel Reichtum schafften.
Thomas Larcher komponiert für Mark Padmore
Als Artist in Residence wurde diesmal neben Padmore und der Sopranistin und Dirigentin Barbara Hannigan auch Thomas Larcher nach Aldeburgh eingeladen. Der 1963 in Innsbruck geborene Pianist und Komponist gehört einer Generation an, die sich längst von den Geboten und Verboten der einstigen Avantgarde verabschiedet hat.
In einem Porträtkonzert erklang von Larcher nun der Liederzyklus „A Padmore Cycle“, den er dem befreundeten Sänger gleichsam auf den Leib geschrieben hat. Fein gearbeitete Strukturen stehen darin neben bewusst einfachen Formulierungen, poetische Gedanken neben unerwartet auftauchenden Dreiklangsfolgen. Die subjektive Perspektive hat den bedingungslosen Vorrang, das empirische Ich kommt ausgiebig zu Wort. Der Bogen spannt sich von persönlichen Alltagsempfindungen und kulturkritischen Reflexionen bis zur romantischen Suche nach einer verlorenen Heimat.
Auch in „Poems, zwölf Stücke für Pianisten und andere Kinder“, sind diese Themen allgegenwärtig, und so war es nur folgerichtig, dass Larchers Werke in diesem Porträtkonzert eingerahmt wurden von Klavierstücken von Schubert, dem wirkungsmächtigsten aller Nostalgiker. Der kammermusikalisch-intime Perspektivenreichtum von Larchers Musik ist enorm. Er vermochte denn auch mehr zu überzeugen als die in Dauerespressivo und Tritonus-Melodik festgefahrene Oper „Das Jagdgewehr“, die nach der letztjährigen Uraufführung in Bregenz nun in Aldeburgh ihre englische Erstaufführung erlebte.
Aldeburgh und Snape, das kulturelle Potenzial an der Ostküste
Aldeburgh, wo sich Britten nach dem Krieg niedergelassen hatte, war einst ein gemütliches Fischerdorf an der englischen Ostküste. Heute ist es eine internationale Kulturdestination und der Name Britten ist der Magnet, der alle anzieht. Auch als Feriendorf zieht Aldeburgh Gäste und ganze Familien an, die hier in Ruhe einige Ferientage verbringen wollen und sich auch bei Regenwetter die Stimmung nicht trüben lassen.
In Aldeburgh ist auch die finanzstarke Britten-Pears Foundation angesiedelt, im „Red House“ ein Stück landeinwärts, wo Britten und Pears einst wohnten. Die Stiftung hat sich jüngst mit den Snape Maltings zusammengeschlossen, einem weitläufigen Kulturareal in der näheren Umgebung, wo heute bereits ein Grossteil des Aldeburgh Festivals über die Bühne geht. Langfristig wachsen das Fischerdorf Aldeburgh und die Snape Maltings zu einer Kulturlandschaft im englischen Hinterland zusammen. Die international ausstrahlenden Aktivitäten werden jedenfalls künftig mit vereinten Kräften weiter ausgebaut. Und Grenzen spielen dabei bestimmt keine Rolle, Brexit hin oder her.
Aldeburgh Festival
Bericht zu Aldeburgh 2018