Als Cage in Donaueschingen die Vogelpfeife blies

John CageDer Auftritt von John Cage in Donaueschingen 1954 markiert den Moment, in dem die neue Musik in Europa  zum ersten Mal in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Anfang der zwanziger Jahre hatte der Österreicher Arnold Schönberg noch hochgemut gemeint, seine Zwölftontechnik würde der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre sichern. 1933 zerstob der Traum, und auch seine Wiederbelebung nach dem Ende der Naziherrschaft war – nicht nur für die deutsche, sondern überhaupt für die europäische Kunstmusik – nur noch von kurzer Dauer.

Das Wetterleuchten, das die Suezkrise 1956 für das Ende der europäischen Kolonialherrschaft darstellte, kam für die Musikwelt schon zwei Jahre früher. Der Zeitpunkt lässt sich auf die Stunde genau bestimmen: Sonntag, 17. Oktober 1954, elf Uhr dreissig vormittags. Damals gab John Cage sein erstes Konzert in Europa. Er konfrontierte das Publikum mit einer Musik, die dem Kunstbegriff der Alten Welt ein fundamental anderes Konzept entgegenhielt: das Zufallsprinzip als Kompositionsmethode. Damit verbunden war nicht nur die Aufwertung des Geräuschs gegenüber dem Ton, sondern auch die Negation der zentralen Rolle des künstlerischen Subjekts.

Dem kompositorischen Genie, das sich als Herrscher über die Welt der Töne auch noch um die Jahrhundertmitte fest im Sattel fühlte, schlug das Sterbeglöckchen in Form von denaturierten Klavierklängen und Vogelpfeifen. Der philosophische Hintergrund dieser neuen Ästhetik war die Zen-Philosophie, die Cage 1945-47 beim Zen-Meister Daisetz Suzuki studiert hatte, die Methode basierte auf dem chinesischen I-Ching, das Cage 1950 in die Hände geraten war. Es sollte ihm nun, zusammen mit Würfel, Zentimetermass, Papier und Bleistift, jahrzehntelang als Ausgangsmaterial für seine Kompositionen dienen. Manche abendländisch gesinnten Gemüter vermag das auch heute noch gelegentlich in Wallung zu bringen. Cage nahm’s zeitlebens mit buddhistischem Gleichmut hin.

John Cage und der Pianist David Tudor spielten in ihrem denkwürdigen Donaueschinger Konzert an zwei präparierten Klavieren Cages Komposition 12’55.6078 – der Titel ist die Dauerangabe -, außerdem die Tonbandkomposition Williams Mix sowie Kompositionen von Cages Freunden Earle Brown und Christian Wolff. Es waren alles Stücke, die einer offenen, zufallsgesteuerten Form und der Einbeziehung des Geräuschs bis hin zu Tierpfeifen und Füßescharren verpflichtet waren. Die Reaktion von Publikum und Presse auf diesen Auftritt von Cage in Donaueschingen war denn auch entsprechend. Sie reichte von Kopfschütteln bis zu aggressiver Verachtung.

Hans Heinz Stuckenschmidt beschränkte sich vorsichtigerweise aufs Beschreiben: ‚Cages Partner (…) nimmt gelegentlich ein Flötchen oder eine bunte Kinderplärre in den Mund und bläst einen Katzenruf. Er nimmt einen Hammer und schlägt auf etwas Metallenes. Er kriecht sogar unter den Flügel, um zu reparieren, während Cage ungerührt weiterspielt.‘ Andere Kritiker nahmen kein Blatt vor den Mund. Sie sprachen von stümperhaft kindlichen Geräuschen, Sensationsmacherei, Unfug und nihilistischer Witzlosigkeit. Und natürlich Scharlatanerie. Der allgemeine Tenor lautete: ‚So etwas brauchen wir hier nicht.‘

Die Selbstgewissheit, mit der die Ablehnung formuliert wurde, verdeckte indes nur schlecht die Angst vor dem gefährlich Anderen, Unberechenbaren, das so irrationale Kräfte freisetzen konnte. Die europäische Avantgarde arbeitete gerade erfolgreich daran, die Vorherrschaft des Schönbergschen Erbes wieder zu installieren. Komponisten wie Stockhausen, Pousseur, Boulez und Nono hatten, angeregt durch Messiaen, die Dodekaphonie zur seriellen Technik weiterentwickelt und in den frühen fünfziger Jahren das total kontrollierte musikalische Kunstwerk geschaffen. Das war ein Triumph der ordnenden Rationalität und in seiner Konsequenz zugleich Tod einer freien Kunst, die immer auch vom Unberechenbaren lebt.

Nono wandte sich vom abstrakt-seriellen Denken bald ab, während Stockhausen, Boulez und andere an einer Aufweichung des totalen Determinismus herumlaborierten, ohne grundsätzlich neue Wege zu finden. Bereits im April 1954 warnte Theodor W. Adorno in seinem berühmten Radiovortrag Das Altern der Neuen Musik vor dogmatischer Verhärtung und Materialfetischismus. Doch die Kompositionsweise, die von sich behauptete, das Erbe der grossen europäischen Tradition dialektisch weiterzuführen, befand sich in einer Sackgasse.

In diese Situation hinein platzte nun 1954 der Auftritt von John Cage in Donaueschingen. Erstaunlicherweise blieb er vorerst ohne hörbare Folgen. Die Ablehnung war so geschlossen, dass die Provokation verpuffte – die Zeit war noch nicht reif, wie der Donaueschingen-Chronist Josef Häusler später konstatierte. Doch die Frontlinie, die bis in die Gegenwart hinein bestehen bleiben sollte, war eröffnet: Hier die europäische Tradition mit ihrem im wesentlichen an der Klassik geschulten Werkbegriff, dort die alles vermischenden Tendenzen, die unter dem Etikett von Klangexperiment und offene Form alle vertrauten Kategorien zersetzen.

Erst 1958, als John Cage als Dozent nach Darmstadt eingeladen wurde und in Köln, Düsseldorf und Stockholm mit seinem anarchistischen Klavierkonzert Musiker und Publikum verstörte, zündete der Funke. Die Musikgeschichte der zweiten Jahrhunderthälfte ist seither ohne ihn nicht mehr denkbar.

Printversion: Neue Zürcher Zeitung, 23.11.1999, S. 65

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