Der nachfolgende Text über den Antisemitismus im Kulturbereich ist unter dem Titel „Nach dem 7. Oktober 2023“ in der Februarnummer 2024 der Schweizer Musikzeitung (SMZ) erschienen.
Politische Themen in einer Musikzeitschrift sollte man vermeiden, denn sie bringen nur Streit und lenken von der Musik ab. Das hier ist eine Ausnahme – gut begründet, wie ich meine, denn es geht um ein Ereignis, das an den Kern unseres Kulturverständnisses rührt: das Pogrom der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit über 1200 Opfern und unsere Reaktionen darauf.
Diese sind denkbar verschieden, und selbstverständlich steht es jedem und jeder frei, auf welche Seite er oder sie sich stellen will: Auf die der hingemetzelten und gefolterten Israelis oder auf die der Palästinenser, die jetzt unter den kriegerischen Folgen des Massakers leiden.
Was dabei aber sprachlos macht: Auf die unvorstellbare Grausamkeit, mit der die Terrortruppe ihre erklärte Absicht demonstrierte, den Staat Israel auszulöschen, reagierten viele westliche Kulturschaffende, Kritiker und Intellektuelle mit skandalösen Relativierungen und sogar Applaus. Anders als im Fall der Ukraine zeigten sie Verständnis für die Angreifer – nach den Maximen des modischen Antikolonialismus und dem alten Motto: «Die Juden sind eben selbst schuld.»
Der Antisemitismus sei wieder hip, empörte sich deshalb eine Berliner Kritikerkollegin auf Facebook. Und der Pianist Igor Levit, der sich bis dahin im Lager der Progressiven pudelwohl gefühlt hatte, erlebte ein böses Erwachen. In der Zeit sagte er, er habe das Grundvertrauen in Deutschland verloren: «Merkt ihr eigentlich nicht, dass es gegen euch geht? ‹Tod den Juden!› heisst ‹Tod der Demokratie!›.»
Es geht indes nicht nur um die recht neue Errungenschaft der Demokratie. Dass die Juden, dieses in alle Welt verstreute Völklein von vielleicht vierzehn Millionen, gegen alle Verfolgungen durch Babylonier, Ägypter, Römer, Christen und zuletzt Deutsche ihre Identität bewahren, am Ort ihres Ursprungs vor 76 Jahren ihren eigenen Staat gründen und nebenbei 205 Nobelpreisträger hervorbringen konnten, ist vielen ein Dorn im Auge. Sie überlebten dank ihrer an der Schrift geschulten Intelligenz und ihres Glaubens. Und ihre Kultur wurde, neben dem griechischen Erbe, zu einem Baustein der unseren. Das reicht vom Monotheismus über die Zehn Gebote bis zum Christentum, begründet vom jüdischen Dissidenten Jesus.
Auch in der Musikgeschichte ist der jüdische Einfluss nicht zu übersehen. Einige Beispiele: die frühchristlichen Psalmen und der Westminster Psalter um 1200, die Klagelieder Jeremias von Orlando di Lasso bis Krenek und Strawinsky, die alttestamentarischen Oratorien Händels, diverse Opernstoffe, die Werke von Mendelssohn oder Mahler und der Roi David von Arthur Honegger. Und Harpo Marx.
«Tod den Juden» heisst vor diesem Hintergrund auch: Tod der europäischen Kultur. Wollen wir das zulassen?
Max Nyffeler
Sehr präzis und klar auf den Punkt gebracht, danke!
Künstler sind hochsensible Menschen. Igor Levit beweist überdies unerschütterliche Zivilcourage und Mut, sich politisch wie sozial tatkräftig zu engagieren, und zwar ohne Rücksichtnahme darauf, dass es seiner Karriere als Pianist schaden könnte, weil für ihn beides zusammengehört.