Die Internationale Bachakademie Stuttgart hat unter dem Titel Barock@home eine Serie von Podcasts gestartet, und der erste ist dem Oratorium „Messias“ von Bachs Zeitgenossen Georg Friedrich Händel gewidmet. Wer nun denkt: „Messias, den kennen wir doch längst“, wird beim Hören des fünfviertelstündigen Streams eines Besseren belehrt. Man ist danach um vieles klüger und hört das Werk, das in einer Eigenaufnahme ausschnittweise eingeblendet wird, mit anderen Ohren.
Im Podcast unterhält sich Hans-Christoph Rademann, seit 2016 Leiter sowohl der Internationalen Bachakademie Stuttgart als auch der unter ihrem Dach musizierenden Gaechinger Cantorey, mit seinem Chefdramaturgen Henning Bey über Händels Oratorium. Das Gespräch gibt einen faszinierenden Einblick in das Werk, das seit seiner Uraufführung in Dublin 1742 zu den weltweit populärsten Chorkompositionen gehört und in England bis heute den Status eines nationalen Kulturguts besitzt.
Das Erhabene, das Große und das Zarte
Rademann erläutert Idee und Großform des in der englischen Originalsprache gesungenen „Messiah“ und erklärt, was es mit den Merkmalen des Erhabenen, des Großen und des Zarten an sich hat, die schon in der Uraufführungskritik diesem „vollkommensten aller Musikstücke“ zugeschrieben wurden. Er philosophiert über den ungeheuren Zeithorizont, der sich im Libretto zwischen den Prophetien des Alten und den Berichten des Neuen Testaments auftut und das Werk einer genauen Verortung im Kirchenjahr entzieht, und als historisch informierter Praktiker erläutert er am klingenden Detail Händels reflektierte, stets am Textinhalt ausgerichtete Dramaturgie der Form und seine Anwendung der barocken musikalischen Figuren.
Rademann verfügt über die seltene Begabung, komplexe Sachverhalte ohne zu simplifizieren in Alltagssprache zu übersetzen, und wenn von der Drastik der musikalischen Mittel bei der Ankunft des Messias die Rede ist, wenn die Mächtigen gestürzt und die Schwachen erhöht werden, scheut er sich nicht vor dem einzig hier passenden Wort: Revolution. Ein Kerngedanke christlicher Theologie, auf zwingende Weise anschaulich gemacht in Händels Musik.
Verdeutlicht werden diese Ausführungen durch Musikbeispiele: die dunkel getönte, zum Licht drängende Bassarie „The People that walked in darkness“, den wunderbar leicht und transparent gesungenen Chor „For unto us a Child is born“, die Zornesarie „Why do the nations so furiously rage together“ beim Kampf um das Evangelium, oder den hochvirtuosen Chor, der das Zerbrechen der Ketten ankündigt.
Manchmal wären zur akustischen Veranschaulichung des besprochenen Details zusätzliche, kurz angespielte Tonbeispiele nützlich gewesen. Auch hätte man im Video bei den Musikbeispielen gerne die Partitur mitgelesen und nicht nur die erste Seite gesehen. Aber Wort und Musik bilden insgesamt eine stimmige Einheit.
Hohes Reflexionsniveau
Die Form dieses Gesprächs über Musik ist im Prinzip die einer Rundfunksendung, und mit ihrer hohen inhaltlichen und technischen Qualität stellt die aufwendige Produktion die öffentlichen Medien glatt in den Schatten. Sie macht keine Kompromisse in der Art von „Das müssen wir locker rüberbringen“, sondern hält von Anfang bis Ende am hohen Reflexionsniveau fest, was ein konzentriertes Zuhören erfordert. Nix Begleitradio.
Eine Videofassung wäre nicht zwingend nötig gewesen, da außer Händels Originalpartitur kein Dokumentationsmaterial eingeblendet wird; dieses hätte allerdings den intendierten Charakter einer Bildungssendung unterstützt. Bei den weiteren Folgen wird das jedoch anders aussehen, denn dann sollen die vorgestellten Werke mit live-Aufnahmen in Bild und Ton dokumentiert werden.
Eine Medienoffensive der Bachakademie Stuttgart
Die Internationale Bachakademie Stuttgart eröffnet mit diesem Podcast eine digitale Medienoffensive. Er ist auf der eigenen Webseite und in mehreren frei zugänglichen Musikportalen zu sehen und zu hören (siehe Links am Ende dieser Seite). Weitere Podcasts folgen im Dreiwochenabstand. Behandelt werden unter anderem die „Kleinen geistlichen Konzerte“ von Heinrich Schütz, die Madrigale von Claudio Monteverdi und die Choräle von Johann Sebastian Bach.
Für die Bachakademie, die sich als Zentrum barocker Musik lange von den neuen Medien ferngehalten hat, spielt der Aspekt der Selbstdarstellung natürlich auch eine Rolle – man ist sich bewusst, dass die Präsenz im Netz heute unverzichtbar ist. Aber Hans-Christoph Rademann geht es um mehr. Er sieht Institutionen wie die Bachakademie Stuttgart in einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. In einer Zeit, sagt er, in der die musikalischen Traditionen schwächeln und der kulturelle Sektor durch Corona nun zusätzlich ins Wanken gerät, müssten die Werte der Hochkultur stärker als bisher in die Gesellschaft hineinwirken und über die digitalen Kanäle gerade auch das junge Publikum ansprechen.
Und mit Blick auf Stuttgart darf man hinzufügen: Solche Aktionen sind auch das beste Antidot gegen die antizivilisatorischen Tendenzen, die sich nicht nur in dieser Stadt gegenwärtig ausbreiten.
Hier sind die Podcasts der Bachakademie Stuttgart abrufbar:
www.bachakademie.de und alle Social-Media-Kanäle der Bachakademie
www.youtube.com/bachakademie
https://open.spotify.com/show/4wA9f18YQvclFvSLjcJZv5
https://podcasts.apple.com/de/podcast/barock-home/id1521460025
https://www.google.com/podcasts?feed=aHR0cHM6Ly9hbmNob3IuZm0vcy8yNmQ4YjM1Yy9wb2RjYXN0L3Jzcw
https://pca.st/0hi0t5ig
https://radiopublic.com/barockhome-6Ler3v
Eine Printversion dieses Texts ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.7.2020 erschienen.