Die Meinungsherrschaft der traditionellen Medien ist in jüngster Zeit ins Wanken geraten. Das Internet hat auch hier alle festen Strukturen verflüssigt, und nach den lügenhaften Relotius-Stories beim „Spiegel“ steht nun auch das Wort vom Betrug am Kunden im Raum – ein publizistischer Abgasskandal ohnegleichen. Seither fragt sich das Publikum, wem es noch glauben kann. Der politische Journalismus befindet sich jetzt in der ungemütlichen Situation, dass er sich dauernd rechtfertigen muss.
Wir Musikjournalisten fristen demgegenüber ein vergleichsweise gemütliches Dasein. Wir betreiben zwar zu einem guten Teil den in Verruf geratenen Meinungsjournalismus, aber anders als in der Politik sind in der Kultur subjektive Meinungen gefragt, denn sie sind das Salz in der Kultursuppe. Gleichwohl stellt sich die Frage: Gibt es nicht auch bei uns Gefälligkeitstexte, Wunschdenken, Herdentrieb, mangelnde Distanz zum Betrieb? Und ganz leidenschaftslos muss man feststellen: Ja, das gibt es.
Der Grund ist wahrscheinlich der, dass das breite Publikum Musikkritik vor allem als Dienstleistung betrachtet: als Verständnishilfe, Kaufempfehlung, Bestätigung der eigenen Meinung. Wir sind nicht nur kritische Rezensenten, sondern auch Vermittlungsinstanz und daher Interessenkonflikten ausgesetzt. Mit unserem Wissensvorsprung sollen wir dem Leser, der Hörerin und Zuschauerin die unbekannten Phänomene erklären, Verständnis für das Schwerverständliche wecken und die Hintergründe ausleuchten. Ohne empfehlende Haltung und ohne vertraulichen Kontakt zu den betreffenden Künstlern, Veranstaltern und anderen Verantwortlichen im Medienbetrieb geht das nicht.
Musikkritik als intellektuelles Verschönerungsinstitut?
Hofberichterstattung ist damit aber nicht gemeint. Man darf von der Musikkritik auch erwarten, dass sie unbequem ist und auch mal stört: dass sie ihre Tätigkeit nicht als intellektuelle Verschönerung des glitzernden Klassikbetriebs begreift, sondern auch einen Blick hinter die Kulissen wirft und kritische Fragen stellt.
Zum Beispiel, warum in den Medien immer nur dasselbe Dutzend kameragewohnter Dirigenten – oder in der neuen Musik: festivalkompatibler „Komponist*innen“ – mit dem Grossteil des Kuchens verköstigt wird. Oder wie Jungstars gemacht werden und ästhetische Wertungen entstehen. Und nicht zuletzt sollten wir Kritiker auch Selbstkritik üben und uns eingestehen, dass unsere vermeintliche Macht nur eine geliehene ist: geliehen von den Medieninhabern, die auf unsere Sachkunde bauen, von den Veranstaltern, die uns die teuren Freikarten geben, vom Publikum, das uns vertraut.
Nicht nur bei den Dirigenten, auch bei uns ist die Zeit des Machtgehabes abgelaufen. Das macht frei für neue Praktiken, die so neu aber gar nicht sind. Dazu gehört, der vertieften Information wieder mehr Gewicht vor der privaten Meinung einzuräumen; sachkundig zu schreiben, aber so, dass das Lesen Lust macht; das Gute zu loben, das Problematische deutlich zu kritisieren und dabei den eigenen Standpunkt kenntlich zu machen. Das lässt den Verdacht auf lauen Gefälligkeitsjournalismus gar nicht erst aufkommen. Und das Publikum nimmt die Kritik dann sogar ernst.
Eine leicht veränderte Fassung dieses Textes ist in der Schweizer Musikzeitung Nr. 4/2019 erschienen.