Eine unverstellte Freude am Klang, starke Energieströme und ihre Kehrseite, die Konzentration auf das Verborgene und Leise, gehören zu den prägenden Merkmalen der Werke von Bettina Skrzypczak, und in jüngster Zeit haben sie sich noch verfeinert. Ihre Musik ist durch all die Jahre hindurch stets jung geblieben und legt eine kommunikative Offenheit an den Tag, die in ihrer Art einzigartig ist. Der nachfolgende Text nimmt einige ihrer früheren Werke näher unter die Lupe und entwirft ein Portrait der Komponistin, die im Februar 2020 mit dem renommierten Heidelberger Künstlerinnenpreis ausgezeichnet wurde.
Der raffinierte Umgang mit der musikalischen Zeit, ein ausgeprägter formaler Instinkt und die Fähigkeit, psychische Tiefenschichten auf subtile Weise musikalisch auszuleuchten, sind weitere Merkmale ihrer Kunst. Sie teilen sich oft schon beim ersten Hören mit. Das zeigt sich zum Beispiel im Liederzyklus „Landschaft des Augenblicks“ über Gedichte polnischer Autorinnen und Autoren, den sie 1992 für Mezzosopran, Viola und Klavier komponierte. Einer der fünf Liedtexte ist denkbar knapp gehalten:
„Jemand bekam einen Brief. Jemandem klopfte das Herz. / Er geht, ihn zu lesen, unter den Apfelbaum. / Er liest, fasst sich an den Hals / und verliert den Boden, und versinkt in der Luft.“
Das Gedicht mit dem Titel „Der Brief“ stammt von Maria Pawlikowska-Jasnorzewska (1891-1945). Die telegrammartige Kürze der Aussage spiegelt sich auch in der Vertonung, die Textdeklamation ist zeitlich gerafft. Doch die komprimierten Gedichtzeilen sind Auslöser für einen musikalischen Kommentar, der im Klang einlöst, was sie nur andeuten. Ein inneres Drama entfaltet sich, eine Welt bricht zusammen. Die starke Wirkung dieser Szene basiert auf einem Instinkt für das genaue Timing. Der durch die freigesetzten Emotionen gesteuerte Zeitverlauf wird gedehnt und gestaucht; in einem Moment bleibt die Zeit stehen, um im nächsten gleich wieder loszustürmen.
Zwei Dimensionen der Wirklichkeit
Ausgangspunkt für den Vokalzyklus war eine musikalische Vorstellung, die Verschachtelung verschiedener Zeitebenen; erst danach suchte sich die Komponistin die dazu passenden Texte aus. Der Fluss der realen Zeit wird in diesen Liedern immer wieder durchbrochen von Momenten der Erinnerung, der Reflexion und Fantasie, in denen eine Dimension aufblitzt, die jenseits der Erfahrung liegt. Im flüchtigen Augenblick eröffnet sich damit eine Perspektive auf das Unbekannte, das hinter unserer täglichen Realität verborgen ist.
Für diese doppelte Art von Wirklichkeitswahrnehmung beruft sich Bettina Skrzypczak auf den französischen Epistemologen und Mathematiker René Thom. Er vergleiche, sagt Bettina Skrzypczak, die jenseitige Dimension mit einem Gas, das durch die Ritzen unserer Wirklichkeitsoberfläche eindringt und so zur Bildung von visuellen Figuren und Vorstellungen führt:
„Es gibt bei Thom zwei wahrnehmbare Komponenten. Die eine ist sichtbar, und die andere ist die verborgene Welt. Für mich ist die Kunst der Moment, wo diese beiden Welten zusammenstoßen. Die geistige Substanz ist etwas, was außerhalb der Realität liegt, aber in die Realität eindringt und eine Form annimmt.“
Hier, an diesem osmotischen Punkt, befindet sich der Ort auch ihrer eigenen Kunst. Komponieren ist für Bettina Skrzypczak mehr als die zeitliche Organisation von Klängen nach bestimmten, aufs Material und seine Wahrnehmung bezogenen Gesetzen. Nicht dass sie die Aspekte von Material und Struktur geringschätzen würde. Doch sie verabsolutiert sie nicht. Musik ist für sie vielmehr ein Medium, das die beiden erwähnten Dimensionen unserer Wirklichkeitserfahrung umgreifen und uns dadurch für kurze Momente das Glücksgefühl einer umfassenderen Existenz vermitteln kann. Daraus resultiert auch ihre stets wache künstlerische Neugierde.
„Dieser Aspekt ist für mich zentral. Es gibt eine Vielfalt an Möglichkeiten, diese Begegnung ausdrücken. Das ist das Faszinierende: das Suchen und die Freude am Entdecken solcher Möglichkeiten, die immer wieder andere Formen annehmen. Es ist so etwas wie die Freude, das Leben zu entdecken – die sichtbaren Formen, die uns umgeben.“
Musikalische Bilder aus der Weite des Alls
1995 schloss Bettina Skrzypczak ihr Orchesterstück „SN 1993 J“ ab, das im gleichen Jahr bei der Biennale in Venedig uraufgeführt wurde und danach unter anderem auch in Berlin, beim Weltmusikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Bern (beide Male unter der Leitung von Peter Hirsch) und bei der Münchner Musica Viva erklang. Der kryptische Titel bezieht sich auf den Namen einer 1993 neu entdeckten Supernova, und damit ist auch das inhaltliche Assoziationsfeld der Musik angedeutet: die Vorstellung einer ständig im Werden begriffenen, in sich unendlich bewegten Materie. Es entsteht der Eindruck eines gasförmigen Aggregatzustands, aus dem sich immer wieder feste Partikel herauslösen.
Das zeigt sich musikalisch in fluktuierenden Klangballungen und wirkt in seinem strukturierten Chaos wie eine mit weiblicher Sensibilität geschaffene Neuauflage dessen, was Edgard Varèse einst „organised sound“ nannte. Die Energieverläufe sind nicht nur durch einen unablässigen Wechsel von Dynamik, Dichte und Geschwindigkeit gekennzeichnet, sondern auch durch eine Instrumentierung, die mit ihrem Changieren, ihren weit gefächerten, irisierenden Klanggemischen und blitzschnellen Wechseln von Licht und Schatten an die Nervenkunst eines Claude Debussy erinnert.
Das wäre auch – bei aller gebührenden Vorsicht – ein Hinweis auf die Traditionslinien, in denen diese strikt persönliche Musiksprache steht, die sich so von allen aktuellen Ismen und Tendenzen abhebt. Das französische Klangverständnis steht der gebürtigen Polin Bettina Skrzypczak zweifellos näher als der Expressionismus der Schönbergschule oder die Nüchternheit des Neoklassizismus. Anknüpfungspunkte gäbe es, was Strukturbildung angeht, vermutlich auch bei Lutosławski und bei der polnischen Avantgarde um 1960 zu finden, etwa Kazimierz Serocki, wo der Klang eine formbildende Funktion hat.
„SN 1993 J“: Dialektik von Ich und Welt
In „SN 1993 J“ verbindet sich die Idee eines vielfarbig leuchtenden Orchesterklangs mit der Vorstellung eines Ichs, in dem das objektive Geschehen reflektiert wird. Es bildet den subjektiven Gegenpol zur unbelebten Materie, die sich im Orchestertutti manifestiert, und verlebendigt sie dadurch. Aus der kochenden Materie treten immer wieder kurze instrumentale Soli hervor, in denen sich die kollektive Energie bricht und aus denen sie auch wieder neu hervorschießt. Dichte und Instrumentierung sind in diesem Stück extremen Wechseln unterworfen. Es gibt neben den kurzen Soli auch viele kammermusikalische Partien, in denen sich das Orchesterstutti auflöst.
„Das ist ein ständiger Kampf, eine ständige Verwandlung. Obwohl sie sehr dynamisch und unüberschaubar angelegt sind, sollten diese Vorgänge den Eindruck erwecken, dass sie einen Schwerpunkt, ein Ziel haben – so etwas wie einen Punkt, auf den sie sich richten. In diesem Fall ist es das, was ich als das ‚Subjekt‘ dieses Stücks bezeichnen würde. An dieses wenden sie sich.“
Die Dialektik von unbelebter, wenn auch extrem bewegter Materie und wahrnehmendem Subjekt durchzieht das ganze Stück als spannungsvolles Ineinander von Tutti und Soli. Doch erscheint das Subjekt keineswegs nur als erleidendes, passiv wahrnehmendes Element. Gegen Schluss wird ein längeres Violinsolo sogar zum dezidiert agierenden Part: Es ist Auslöser eines tumultuösen, vorwärtstreibenden Prestos, dessen motorische Energie sich in einem Auflösungsfeld bricht und einer abschließenden Reflexion der Soloflöte Platz macht. Das letzte Wort hat also das Subjekt. Das ungreifbar ferne galaktische Geschehen wird aufgehoben durch menschliche Nähe, im Inneren des beobachtenden Ichs.
Ein souveräner Umgang mit der Farbenpalette des Sinfonieorchesters kennzeichnet Bettina Skrzypczaks Komponieren von Anfang an. Schon in „Verba“ zeigt sich ein ausgeprägter Sinn für sprühende Farben und die Gestaltung von weiten Klangräumen; das Orchesterstück wurde 1988 an der Biennale Zagreb unter der Leitung von Arturo Tamayo uraufgeführt und erhielt dort einen Kompositionspreis. 1987, als sie das Werk schrieb, war die Komponistin 26 Jahre alt und in Polen bereits so etwas wie ein Shooting Star mit zahlreichen Aufführungen in Warschau, Posen, Krakau und andern Orten.
Von Posen nach Basel
Bettina Skrzypczak wurde 1961 in Poznan/Posen geboren. Sie studierte erst Klavier, dann Komposition bei Andrzej Koszewski sowie Musikwissenschaft. Ihre frühen Studienjahre fielen in die Zeit des Kriegsrechts in Polen und der politischen Unruhen, die den Auftakt für den Zusammenbruch des „sozialistischen Lagers“ bildeten und zehn Jahre später zum Fall der Berliner Mauer führten. Die Menschen in Polen beschäftigten sich damals mit fundamentalen Fragen; sie kreisten um Begriffe wie soziale Verantwortung und Freiheit, Selbstbestimmung des Individuums und die Rolle der Kultur im Kampf um politische Unabhängigkeit. Es waren Fragen, die für die polnische Nation von existenzieller Bedeutung waren und es auch heute noch sind. Es wäre noch zu untersuchen, inwieweit sie auch im Werk der Komponistin bleibende Spuren hinterlassen haben.
Ab 1984 besuchte sie in Kazimierz, dem „polnischen Darmstadt“, Kurse bei Luigi Nono, Henri Pousseur, Witold Lutosławski und Iannis Xenakis – alles Komponisten, die ihre künstlerische Arbeit nachhaltig beeinflusst haben.
Damals entstand auch ihre kurze Tonbandkomposition „ABC“, eine verspielt-poetische Arbeit, der der Klang ihrer eigenen Stimme und eines kleinen Schlagzeugs zugrundeliegt.
Dann kam 1988 ihre Übersiedlung in die Schweiz, wo sie seither lebt. Hier, in Basel, begann sie gleichsam wieder am Punkt Null: Da und dort kleine Aufführungen, ergänzende Studien in Elektronik und in Komposition, Improvisationserfahrungen mit Walter Fähndrich, Computermusik in Köln bei Klarenz Barlow, weitere Studien in Philosophie und Musikwissenschaft bei Jürg Stenzl in Freiburg/Schweiz und bei Heimataufenthalten in Krakau. Hier wurde Bettina Skrzypczak 1999 promoviert, 2016 habilitierte sie sich. An der Musikhochschule Luzern unterrichtet sie seit 1995 Theorie, Musikgeschichte und Musikästhetik. Ein Leben zwischen der polnischen Heimat und dem freigewählten Schweizer Exil, mit zahlreichen Aufführungen und wachsendem künstlerischem Ansehen in beiden Ländern. Auch in der dazwischenliegenden Bundesrepublik Deutschland wurden die Veranstalter langsam auf sie aufmerksam.
Landschaft als politisches Symbol
Die „Fantasie über polnische Landschaften“ für Oboe solo aus dem Jahr 1997 ist ein Werk, das in Polen mehr gespielt wird als in der Schweiz. Das hat mit dem gedanklichen Hintergrund des Werks zu tun. Der Titel klingt nach Naturbild und Landschaftsromantik, doch mit solchen Klischees hat es nichts zu tun. Von den Landschaftsmalern des 19. Jahrhunderts bis zu einem Schriftsteller wie Czesław Miłosz ist der Begriff der Landschaft in der polnischen Kunst von komplexen Bedeutungsschichten überlagert, die insgeheim auf den Begriff der Nation verweisen, wie Bettina Skrzypczak erläutert:
„Weil die Identität des polnischen Volkes historisch immer wieder gefährdet war, verband man mit der Landschaft Vorstellungen des Überlebens und des Verwurzeltseins. Das gilt besonders für die Landschaft der Tatra. Man kann es in der Musik von Szymanowski beobachten, aber auch in der Bewegung Junges Polen, der künstlerischen Elite von Krakau zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch die Schriftsteller der Gegenwart befassen sich mit dem Thema Landschaft. In all diesen Werken ist sie mit einer Symbolik verbunden, mit etwas Verzaubertem, das dahinter liegt. Auch für mich bedeutet Landschaft mehr als etwas rein Bildliches. Man kann noch weiter zurück gehen. Die Musik von Chopin ist eigentlich voll von Bildern der Landschaft. Das klingt jetzt sehr programmatisch, aber ich meine es nicht so. Ich meine damit eine Art Atmosphäre der Landschaft. Es gibt sogar so etwas wie einen Duft in der Musik, etwas Übersinnliches, was dadurch hereinkommt.“
In der polnischen Mentalität, sagt Bettina Skrzypczak, hat sich so etwas wie eine doppelte Sprache entwickelt, sowohl in der Kunst als auch im täglichen Leben:
„Das hängt mit der geschichtlichen und politischen Situation zusammen. Parallel zur normalen Sprache existiert eine Art Metasprache: Man sagt etwas, meint aber etwas ganz anderes und trotzdem verstehen die Menschen einander. Alle wissen, welche Symbolik sich hinter bestimmten Bildern verbirgt. Ich würde diese Symbolik als etwas Metaphysisches, etwas außerhalb der Realität Liegendes bezeichnen – als einen Raum, in den man fliehen kann, wo man sich geborgen fühlt und überleben kann, wo man sich anders verständigen kann. Das eröffnet einem die wunderbare Möglichkeit, anders als nur in direkter verbaler Sprache zu kommunizieren.“
Diese Dimension versucht Bettina Skrzypczak mit ihrer Musik zu erschließen. Das schlägt sich zum Beispiel in ihrem Konzept des musikalischen Raums nieder. „Raum“ ist in der zeitgenössischen Musik ein fast inflationär benutzter Begriff, mit dem – eine Plattitüde – häufig nur gerade die Verteilung der Musiker im Konzertsaal mit entsprechenden Effekten gemeint ist. Für Bettina Skrzypczak hat der Raum jedoch mehrere Dimensionen: Er ist physikalischer Raum, musikalischer strukturierter Raum und imaginärer Raum, in dem innere und äußere Dimensionen ineinanderfließen und sich durchdringen. Verwirklicht wird das etwa in der Fantasie für Oboe, in anderer Form im eruptiven Orchesterstück „SN 1993 J“ und in anderen Stücken.
Das Gedächtnis des Körpers
Der letztgenannte, imaginäre Raum besitzt für Bettina Skrzypczak zugleich einen eminent diesseitigen Bezug. Vermittelt ist er durch Körpererfahrung, genauer: durch die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit in dem Sinne, wie es der Philosoph Georg Picht beschrieben hat. Leib, so Picht, ist etwas anderes als Körper. Der Körper wird in seiner mechanischen Funktionalität wahrgenommen, den Leib empfindet der Mensch jedoch als eine Potenz innerhalb einer unendlichen Vielzahl sich überschneidender Kraftfelder.
„Die Emotionen, die in meine Musik einfließen, sind oft mit dem Gefühl des Raumes und des Körpers verbunden. Als junges Mädchen habe ich getanzt und Kunstgymnastik betrieben. Und ich erinnere mich immer an das Gefühl des Im-Raum-Seins und der Körperlichkeit im Raum. Etwas davon ist mir bis heute geblieben, in ganz anderer Form natürlich. Meine räumlichen Vorstellungen sind mit dieser körperlichen Raumwahrnehmung verbunden, den Raum gehend auszumessen, die unterschiedliche Geschwindigkeit, die Dynamik und Statik des Raums usw. zu spüren. Dazu gehören auch körperlicher Schmerz und Entspannung, die Anstrengung des Körpers und die ganze Dynamik, die damit verbunden ist. Ich würde sogar sagen: Immer wenn ich eine Idee habe, ist sie mit einem körperlichen Schmerz verbunden. Das ist so etwas wie Geburtsschmerz, bei dem man zugleich auch glücklich ist, weil etwas geboren wird. Ich habe dann ein ganz starkes Gefühl, dass mit mir körperlich etwas passiert.“
Bei ihrer Einschätzung der Rolle, die die Körperlichkeit im künstlerischen Schaffensprozess spielt, sieht sich Bettina Skrzypczak durch die Wissenschaft bestätigt:
„Es wird einem noch bewusster, wie wichtig dieses Element im künstlerischen Schaffen ist, wenn man die neusten Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Neurologie, Biologie oder Medizin anschaut. Man hat nämlich entdeckt, dass es so etwas wie ein Gedächtnis der verschiedenen Körperteile gibt. Das heißt, verantwortlich für unser Gedächtnis ist nicht nur das Gehirn. Unser ganzer Körper ist mitbeteiligt. Dass wir uns durch unsere Körperlichkeit artikulieren und dass unser ganzes emotionales Leben damit verbunden ist, wird oft vergessen.“
Chaos und Ordnung
Eine ganzheitliche Auffassung von Musik und von Komponieren findet sich bei Bettina Skrzypczak nicht nur in diesem Konzept von Leiblichkeit, sondern auch in ihrem Interesse für die Chaostheorie. Als sie diese Anfang der neunziger Jahre für sich entdeckte, fand sie darin eine Bestätigung für ihre eigenen musikalischen Spekulationen, die in dieselbe Richtung zielten. An der Chaostheorie interessierten sie jedoch nicht in erster Linie die mathematischen oder physikalischen Methoden der Materialorganisation, sondern ihre ästhetischen Implikationen.
„Ausgegangen bin ich von etwas ganz anderem: von der romantischen Literatur, vor allem von Novalis. Er spricht vom ‚vernünftigen Chaos‘ und meint damit eine komplexe, unüberschaubare Welt, die aber einen großen Sinn in sich hat. Diese Aspekte haben mich besonders interessiert. Auch mein eigenes Komponieren empfinde ich als einen Versuch, immer neue Fragmente der Welt zu erforschen und einen Sinn in ihnen zu finden. Mir ist bewusst , dass ich nur eine sehr beschränkte Anzahl solcher Entdeckungen machen kann. Aber ich glaube, gerade das gibt uns sowohl im Leben als auch im Schaffensprozess die notwendige Dynamik. Diese immer veränderbare Perspektive, der Horizont, den wir nie erreichen – das ist die Ursache für das Bedürfnis, immer neue Fragmente zu entdecken und zu fassen. Das ist der Motor von allem.“
Das Bewusstsein, das Ganze oder die Vollkommenheit immer nur anstreben zu können und im Fragmentarischen stecken bleiben zu müssen, ist für Bettina Skrzypczak eine allgemein menschliche Voraussetzung, die sie dankbar akzeptiert. Als eine Art fröhlicher Sisyphus sieht sie in den Begrenzungen vor allem die Chance des jederzeit möglichen Neubeginns. So versinkt sie weder in faustischem Grübeln, noch überlässt sie sich dem unfrohen Stochern in reinen Materialproblemen. Komponieren erschöpft sich für sie ohnehin nicht in reiner Verstandestätigkeit. Das beste Korrektiv gegen die in der neuen Musik früher oft zu beobachtende Verabsolutierung der intellektuellen Seite war für sie das bereits erwähnte Moment der Körperlichkeit.
„Wenn man nur intellektuell ein System gestaltet und sich nur in diesem System bewegt, dann fehlt dieses Moment der Körperlichkeit. Doch es ist etwas fundamental Menschliches. Der Mensch nimmt die Welt durch seinen Körper wahr. Und nur durch den Körper kann er auch entsprechend kommunizieren. Wenn das dann ins Emotionelle hineinfließt, nimmt es unglaublich viele Formen an, die uns wahrscheinlich gar nicht bekannt sind.“
Form und Fragment
In ihrem 1993 entstandenen dritten Streichquartett drückt sich das Gefühl, in einem immer wieder neu zu erschließenden Raum mit der Welt kommunizieren zu können, in einem ständigen Wechsel der Perspektiven und Ausdruckshaltungen aus. Anders als in dem zwei Jahre älteren zweiten Quartett werden hier nicht mehr große Blöcke und Entwicklungen nebeneinander gestellt, sondern die Kontraste erfolgen auf kleinstem Raum: Kaum hat etwas begonnen, bricht es schon wieder ab oder schlägt um in etwas Neues.
Auch hier liegt, wie im fast gleichzeitig entstandenen Liederzyklus „Landschaft des Augenblicks“, die Wahrheit der Musik im momenthaften Aufblitzen einer andern Realität. Doch eine nur auf den Moment bezogene, fragmentarisierte Form besitzt das Werk ebenso wenig wie alle anderen. Ein Netz von unauffälligen Orientierungspunkten gewährleistet ein hohes Maß an struktureller Konsistenz. Dazu gehören eine Art von Leitakkorden, die an wichtigen Punkten auftreten, melodische Kernmotive und Ähnlichkeiten von Satztypen und Ausdruckscharakteren. Es sind variable Elemente und keine unveränderlichen Größen, wodurch die Konturen dieser hintergründigen Ordnungsstruktur bewusst verwischt werden.
Im Orchesterstück „SN 1993 J“, arbeitet Bettina Skrzypczak konsequent mit Intervallfeldern und genau determinierten Akkordstrukturen, um die Form zu gliedern. Weitere Parameter sind der harmonische Dichtegrad – die Harmonik kann gleichsam „voll“ oder „leer“, also unterschiedlich komplex klingen -, der Klangfarbenverlauf und die Bewegungsintensität.
Manche dieser Verfahren kristallisieren sich zu musiksprachlichen Qualitäten. Eine öfters wiederkehrende melodische Figur entsteht zum Beispiel durch die Verengung der Intervalle; die Melodie pendelt um zwei oder drei Halbtöne, wobei sich die Bewegung manchmal auch zu Mikroglissandi verfeinern kann. Bei Überlagerung zweier Stimmen kann das zu einer unerhörten Ausdrucksintensität im Mikrobereich führen.
Im Zyklus „Miroirs“ spiegeln sich vier Kulturen
Ein Werk, in dem diese mikrotonal schwankenden Strukturen klar in Erscheinung treten, ist „Miroirs“, der zweite kammermusikalische Liederzyklus nach „Landschaft des Augenblicks“, uraufgeführt im Jahr 2000 in Sankt Moritz. Sie stehen auch hier unmittelbar im Dienst einer Verdeutlichung des Inhalts. Die verwendeten Texte stammen von Autoren aus vier Kulturen: vom Lateinamerikaner Jorge Luis Borges, vom Chinesen Li Tai-bo, vom provenzalischen Troubadour Bernart de Ventadorn und vom sufistischen Dichter und Mystiker Sachal Sarmast; alle vier umkreisen die Thematik des Spiegels.
Die Komposition geht dieser Thematik bis in ihre philosophischen Verästelungen hinein nach und bricht sie, oder, um im Bild zu bleiben: reflektiert sie immer wieder im Affekt des wahrnehmenden Ichs. Im letzten Lied über einen Text von Sachal Sarmast wird die Frage der Selbsterkenntnis, das „Wer bin ich?“, zugespitzt zur Frage „Bin ich überhaupt?“ Ganz der Sufi-Tradition folgend fallen Fülle des Lebens und Vergeistigung paradox ineins; der üppige musikalische Figurenreichtum und die kapriziös-beredte Singstimme weichen nach dem klanglichen Höhepunkt einem erschrockenen Innehalten.
Wenn Bettina Skrzypczak davon spricht, dass jedes Kunstwerk immer nur Fragmente eines möglichen Ganzen darstellen könne und sich dabei auf Novalis beruft, bedeutet das kein Plädoyer für die sogenannte offene Form. Alle ihre Kompositionen sind vielmehr auf eine überlegte Weise durchgestaltet, formale Konsistenz verbindet sich mit einem sicheren Gespür für eine spannungsvolle Dramaturgie. In ihren jüngeren Werken hat sich die Tendenz zur Durchkomposition verstärkt. Der Klangfluss hat einerseits eine hohes Maß an Geschmeidigkeit erreicht, andererseits wird er vermehrt auch akzentuiert durch dramatische Zuspitzungen und heftige Energieentladungen.
Aggrgegatszustände des Klangs, Virtuosität als Körperkunst
Das gilt nicht nur für ein wortgebundenes Stück wie „Miroirs“, sondern auch für ein Instrumentalwerk wie die 1999 entstandene „Toccata sospesa“ für Flöte und zwei Schlagzeuger. Hier wechseln sich verschiedene Agreggatszustände des Klangs ab: Blitzhafte Explosion, vorwärtstreibende Linearität, Auflösung in Klangflächen. Ein veritables Schlagzeugsolo gibt es in der Mitte auch. Es kippt – im Sinn des Titels „Toccata sospesa“ – nach zweiminütigem Temporausch um in eine weitgehende Leere, ein kaum hörbares Abtasten von Raum und Zeit.
Die geistig-körperlichen Gespanntheit, die der Musik von Bettina Skrzypczak innewohnt, manifestiert auch in der Form von instrumentaler Virtuosität. In zwei Instrumentalkonzerten – einem Oboen- und einem Klavierkonzert – wird dieser Aspekt ins Zentrum gerückt. Die Konzeption der Solostimme und ihres Verhältnisses zum Orchester ist beide Male jedoch sehr unterschiedlich. In dem 1996 von Emanuel Abbühl uraufgeführten Oboenkonzert erscheint die Oboe wie ein obligates Orchesterinstrument; es löst sich in immer neuen Ansätzen vom Gesamtklang ab und entfaltet dabei ein breites Spektrum von Blastechniken, um sich von seinem klanglichen Umfeld zu emanzipieren.
In dem zwei Jahre jüngeren, für Massimiliano Damerini geschriebenen Klavierkonzert hingegen steht das sehr virtuos geführte Klavier ganz im Mittelpunkt des Geschehens. Das Orchester dient als Projektionsfläche für die vielfältigen Klangfiguren, die aus dem Energieüberschuss des Soloinstruments heraus entstehen. Das Stück zeichnet sich durch geballte Kürze aus; es dauert keine Viertelstunde und endet nach einer längeren reflexiven Passage in einer fulminanten Klimax. Selten wird die Kunst zu schließen auf so überzeugende Weise formuliert.
Der Text wurde im Jahr 2000 geschrieben und 2020/2023 überarbeitet.
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Analyse von „SN 1993 J“
Intuition und Ratio im Werk von Bettina Skrzypczak