Das Calancatal – italienisch Val Calanca – muss einem Städter vermutlich als Inbegriff von Provinz erscheinen: ein Alpental im Abseits, kaum bevölkert, der Zugang durch eine Schlucht erschwert. Also bestenfalls ein bescheidener Ferienort, denkt er sich, hier kann man beim Anblick des einfachen Landlebens den Stress ein wenig abbauen, aber sonst: tote Hose.
Doch die Realität sieht anders aus, und ein genauer Blick in die Mikrowelt des Val Calanca hilft da weiter. Es gibt ein reges, wenn auch nach außen kaum sichtbares Kulturleben, und bei aller Identifikation mit ihrem Tal sind die Einwohner, ob alteingesessen oder neu hinzugezogen, unter dem Strich durchaus aufgeschlossen gegenüber dem Neuen. Die beliebte Vokabel „weltoffen“ trifft die Sache aber nicht ganz; sie ist das Lieblingswort der schweizerischen urbanen Intelligenz, die es gerne benutzt, um sich selbst als leuchtendes Beispiel eines modernen Weltbürgertums darzustellen, das von den sicheren Ufern des Zürichsees gerne mal einen Sprung nach Berlin oder New York macht und den Guardian liest.
Abgrenzung und Öffnung, Nähe und Ferne
Mit diesem globalen Anspruch kann ein Calanchin – so nennen sich die Bewohner des Calancatals – natürlich schwer mithalten, grenzt er sich doch schon von seinen nächsten Nachbarn subtil ab. Von seinem Hochtal auf über 1000 m.ü.M., das vom Mesolcina – auf Schweizerdeutsch „Misox“ genannt – abzweigt, sind es nur etwa 20 Kilometer bis Bellinzona, der Hauptstadt des Tessin. Aber Tessiner? Bitte nicht, wir sind Calanchini, und das Calancatal gehört zu Graubünden! Aber Graubünden? Die Kantonshauptstadt Chur ist weit entfernt hinter den Bergen im Norden und nur über den San Bernardino-Pass zu erreichen.
Die Talgemeinschaft ist zwar in feste staatliche Strukturen eingebunden, doch aufgrund des früheren Lebens in der Abgeschiedenheit hat die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation hier vermutlich einen höheren Stellenwert als anderswo. Wie eine vom Fernsehen RSI (Radio Svizzera Italiana) vor Jahren gedrehte Filmdokumentation zeigt, haben wegen der Arbeitsemigration der Männer die Frauen dabei stets eine tragende Rolle gespielt. Auch heute gehen viele Initiativen noch immer von Frauen aus. In den überschaubaren Strukturen überschneidet sich dabei das Private mit dem Öffentlichen.
Auf dem Papier sind die Calanchini also Bündner, doch kulturell stehen sie dem italienischsprachigen Tessin zumindest sprachlich nahe. Sie sind, zusammen mit den südlichen Alpentälern Mesolcina, Bregaglia (Bergell) und Poschiavo (Puschlav) eine der vier Regionen des „Grigioni italiano“, auf Deutsch „Italienischbünden“. Und sie sprechen das alpine Lombardisch. Es ist hier noch viel stärker in Gebrauch als in den urbanen Regionen des Tessin und hat mit Hochitalienisch etwa so viel zu tun wie der Oberwalliser Dialekt mit Hochdeutsch.
Abgrenzung also geografisch, landespolitisch und sprachlich, aber zugleich Offenheit nach mehreren Seiten. Das Abwägen zwischen Abgrenzung und Öffnung, zwischen Nähe und Ferne ist charakteristisch für einen Bergbewohner, der sich erst seiner selbst vergewissern will, bevor er in die weite Welt aufbricht. Und gerade darin haben die Calanchini eine generationenlange Erfahrung. Über Jahrhunderte hinweg waren viele wegen der kargen Erde zum Auswandern gezwungen, und wer heimkehrte, brachte Wissen, Erfahrung und fremde Sprachen mit nach Hause. Und erspartes Geld.
Im Dörfchen Augio, hinten im Calancatal, steht ein stattliches Hotel mit einem Restaurant und einem Spiegelsaal, der einem Pariser Schickerialokal der Belle Époque nachempfunden ist. Errichtet wurde dieser Palazzo im Florentiner Stil von Carlo Spadino, einem Handwerker, der vor dem Ersten Weltkrieg aus Paris zurückgekehrt war, und seiner Frau Maria Spadino. Als Hotel und Ristorante „La Cascata“, benannt nach einem nahen Wasserfall, zieht er heute die Gäste überregional an.
Von der Splendid Isolation zur wirtschaftlichen Teilhabe
Die Abgeschlossenheit des Val Calanca war historisch gesehen ein Vorteil. Im Spätmittelalter hatte die Mailänder Herrschaft kaum Zugang zum Tal, und erst recht nach dem Anschluss an den „Grauen Bund“ (heute: Graubünden / Grigioni) am Ende 15. Jahrhunderts führten die Menschen mehr oder weniger das Leben eines armen, aber freien Bauernvölkleins. Nur der Pilgerort Santa Maria am Ausgang des Tals mit seiner mittelalterlichen Kirche und dem weitherum sichtbaren Wehrturm aus dem 13. Jahrhundert, hoch oben mit Blick ins Misox gelegen, war relativ leicht zu erreichen. Der historische Pilgerweg durch die Kastanienwälder ist noch gut erhalten.
Heute ist das Calancatal nicht mehr von der Welt abgeschnitten. Es ist in der Vereinigung Pro Grigioni italiano (Pgi) vertreten, die sich bei Politik und Medien für die Belange von Italienischbünden einsetzt, und seit in den 1960er Jahren eine neue Strasse angelegt wurde, ist es verkehrsmäßig gut erschlossen. Manche Bauernhöfe sind auf Bioprodukte spezialisiert und bieten sie über ihre Netzwerke bis in die Deutschschweiz an. Im verkehrsfreien Dörfchen Braggio auf einer Sonnenterrasse hat der Agroturismo Fuß gefasst. Im Tal hat ein sanfter Wander- und Familientourismus eingesetzt, und viele Einwohner pendeln jetzt täglich im Auto oder Postauto ins Misox und nach Bellinzona zur Arbeit.
Jahrzehntelang hatte sich das Tal schleichend entvölkert, und heute leben in den verstreuten Weilern und Dörfern nur noch etwa siebenhundert Einwohner. Aber dank der Initiative nicht zuletzt von neu Hinzugezogenen, auch dank den Strukturhilfen aus Chur und Bern, erwacht das Val Calanca heute zu neuem Leben, das Zusammengehörigkeitsgefühl wächst. Die aktiven Calanchini tauschen sich inzwischen auch in der nach einem Volkslied benannten Facebookgruppe „Dicono che la Calanca…“ aus. Volkskultur und digitale Kommunikation sind unter einem Hut.
Kaum zu glauben, dass noch 2005 eine ETH-Projektgruppe um die „Stararchitekten“ Herzog und de Meuron allen Ernstes vorschlug, man sollte Bergtäler wie das Calancatal durch einen Stopp der Investitionen in die Infrastruktur gezielt «entleeren» und das freiwerdende Geld in die Stadtentwicklung stecken.
Die Eigeninitiative als Motor der Entwicklung
Alles in allem also die typische Situation eines Bergtals, das sich erfolgreich gegen Abwanderung und strukturelle Verödung wehrt. Die Kultur im weitesten Sinn spielt für den Zusammenhalt im Calancatal eine wichtige Rolle. Die Anstösse kommen stets von der Basis, von engagierten Einzelnen und Gruppen, wobei sich auch immer wieder die Zugezogenen hervortun. Die vielbeschworene Zivilgesellschaft hat hier noch eine konkrete Funktion.
Es begann 1973 mit dem passionierten Bergwanderer Wilfried Graf aus Binningen bei Basel, der zusammen mit zahllosen Helfern zehn Jahre lang in den Sommermonaten den Sentiero Alpino wieder begehbar machte, ein spektakulärer Höhenweg auf über 2000 Metern Höhe, der heute von San Bernardino über fünfzig Kilometer und zwei Berghütten bis nach Santa Maria führt.
1984 erfolgte die Gründung der gemeinnützigen Fondazione Calanca delle Esploratrici (Pfadfinderinnenstiftung Calanca), deren historisches Bauernhaus in Bodio sich inzwischen zu einem kulturellen und sozialen Treffpunkt mit enormer Integrationskraft entwickelt hat. Ihre Aktivitäten reichen vom sommerlichen Ferienlager über freiwillige Einsätze von Jugendlichen bei der Landschaftspflege bis zum alljährlichen Apero am Neujahrsmorgen, zu dem alle Talbewohner eingeladen sind. Die Pfadfinderinnenstiftung ist auch Trägerin des Archivio regionale, des Regionalarchivs in Cauco, das die Geschichte des Tals dokumentiert.
Darüber hinaus engagieren sich im Calancatal viele Einzelne in privaten Projekten, einfach aus Liebe zum Tal, wie der aus der Deutschschweiz zugezogene Arzt, der auf eigene Rechnung einige jahrhundertealte Kapellen und Beinhäuser im Tal renovieren liess.
Ein anderer aktiver Neubürger ist der pensionierte Verwaltungsfachmann Ernst Menzi aus Zürich, der sich vor Jahren im Calancatal niederließ. Mit seiner Motorsäge säuberte er damals die überwucherten Bergpfade rund um das Dorf Buseno vom Gestrüpp und pinselte neue rotweisse Wanderweg-Markierungen auf die Felsen. Heute sind sie schon wieder langsam am Verbleichen.
Volkslieder
Die kulturellen Aktivitäten im Val Calanca sind vielgestaltig und gehen quer durch die Generationen und sozialen Schichten. Musiziert wird bei vielen Gelegenheiten. Wenn anfangs Dezember der von der Arbeitsgemeinschaft Calancatal aufgebotene Nikolaus durch die Dörfer zieht und bei der gemeinsamen Feier allen, die über fünfundsechzig sind, eine Flasche Wein und einen Panettone schenkt, singt das ganze Lokal regionale Volkslieder.
Eine Gruppe von Sangesfreudigen trifft sich im Winter auch alle vierzehn Tage in der alten Stube des Pfadfinderinnenhauses. Die lockere Runde ist offen für jedermann, Mitmachen geht über Belcanto. Angeführt wird sie von Giuseppe, einem ehemaligen Assistenten der Bauleitung beim Jahrhundertprojekt des Gotthard-Eisenbahntunnels. Er kennt die Volkslieder vom Calancatal und Misox bis in die Lombardei hinunter alle auswendig. Sie haben terzenselige Melodien und handeln von Liebe, Tod und Auswandern.
Neben solchen Basisaktivitäten ist das Tal auch Schauplatz von größeren musikalischen Aktivitäten. In der etwa dreihundert Plätze fassenden Kirche von Santa Maria tritt einmal in der Saison das OSI, das Orchestra della Svizzera italiana auf. Die aus populärer Klassik und weniger bekannten Stücken zusammengesetzten Programme ziehen viel Publikum aus der näheren und weiteren Umgebung an.
Back to the roots: Das Demenga Festival
Aus Augio, wo heute das Hotel „La Cascata“ steht, ist einst ein Giovanni Demenga in die Deutschweiz ausgewandert, und nun kehren die musikalischen Mitglieder der weitverzweigten Familie alle drei Jahre in die Heimat ihres Vorfahren zurück, um hier zusammen mit befreundeten Musikern eine Woche lang hochkarätige Konzerte zu geben. Das Demenga Festival ist ein musikalisches Grossereignis für das Val Calanca. In der Vergangenheit waren schon Heinz Holliger, Christoph Schiller und die Perkussionisten Matthias Würsch und Fritz Hauser zu hören, letzterer in einem viel beachteten Konzert mit den Klangsteinen des Thurgauer Künstlers Arthur Schneiter vor der gigantischen Kreissäge in der Werkhalle des Steinbruchs von Arvigo.
Vom 2. bis 9. August 2020 treten nun neben den beiden Cellisten Patrick und Thomas Demenga, der Pianistin und Programmverantwortlichen Annina Demenga und ihrer cellospielenden Tochter unter anderem die beiden Geiger Ingolf Turban und Sebastian Bohren, der Violaspieler Hariolf Schlichtig und der Kontrabassist Joseph Gilgenreiner auf, dazu mehrere Bläser.
Das Festivalmotto heisst „Humor“, und illustriert wird es mit Stücken von Joseph Haydn bis Richard Strauss, von der „Minimax-Suite“ von Hindemith bis zum Schreibmaschinenspass „The Typwriter“ des amerikanischen Entertainers Leroy Anderson. Im Eröffnungskonzert mit der Kammerphilharmonie Graubünden und im Schlusskonzert mit dem OSI in der Kirche von Santa Maria erklingt mit dem Doppelkonzert von Brahms und dem ersten Cellokonzert von Saint-Saëns aber auch Schwergewichtiges. Grosse Kammermusik ist mit dem Septett von Beethoven und dem Oktett von Schubert zu hören.
Manche Besucher des Festivals kommen auch aus Lugano, Chur und Luzern angereist. Aber es sind die Einheimischen, die dafür sorgen, dass die Dorfkirchen, die einzige Turnhalle im Val Calanca und die sonstigen Räume stets voll sind. Hochkultur trifft auf wilde Natur und auf eine Bevölkerung, die offen ist für das Neue.
Die Berghänge im Calancatal sind zwar steil, doch der Horizont der Menschen ist weit. „Entleert“ werden muss hier nichts.
Eine kürzere Printversion dieses Beitrags ist erschienen in der Schweizer Musikzeitung Nr. 4/2020
Lieber Herr Nyffeler,
Danke für Ihre Sicht auf das Tal. Gerne kommen Sie hinauf bis Rossa um die 3 Kappellen von David Tremlett zu sehen. Es hat etwas mit Musik zu tun.
Ich bin im letzten Januar schon zur Kapelle hinter Rossa hochgewandert, um sie mir einmal aus der Nähe anzusehen. Vielleicht können wir uns einmal treffen, wenn die Corona-Zeit vorbei ist und ich wieder im Tal bin?
Habe den Beitrag von meiner Tochter bekommen.
Sehr gut getroffen die verschiedenen Aspekte des Tales.
Meine Eltern waren noch beide im Calancatal zur Welt gekomnen.
Ich, nun im Pensions-Alter verbringe die Vegetaionszeit im Tal. Bin Imkerin und halte mein Ferienhaus im Schuss.
Daneben bin ich Mitglied der Kommission des ArC (Archivio Regionale Calanca).
Selbstverständlich werde ich an verschiedenen Konzerten während des Demenga-Festival teilnehmen.