Das Stuttgarter Eclat-Festival ist ein gutes Barometer nicht für die aktuelle Wetterlage in der neuen Musik, sondern auch für den Stand der Festivalkultur ganz allgemein. Und die hat sich im Lauf der Jahre erkennbar gewandelt. Vor ein paar Jahrzehnten, als der Begriff des Fortschritts musikalisch noch etwas galt, verstanden sich auch die tonangebenden Festivals noch als ein Ort, wo Zukunftstrends verhandelt wurden. Heute geht es eher nach dem Motto: Wo sind wir letztes Jahr stehen geblieben? Doch Stagnation bedeutet nicht Einheitlichkeit. Wie sich nun auch beim Stuttgarter Eclat-Festival wieder zeigte, gibt es ein permanentes Nebeneinander zweier Hauptströmungen: hier die Digital Natives, die den traditionellen Werkbegriff in Richtung Installation, Performance und erweitern oder gleich ganz negieren, dort diejenigen, die nach alter Väter Sitte Partituren schreiben.
Wer nun aber glaubt, die Technikfreaks seien die letzten Fortschrittler und wer Noten schreibe sei per se konservativ, wurde diesmal bei Eclat eines besseren belehrt: Die besten Notenschreiber stecken im grenzenlosen Terrain des klingenden Materials ihre individuellen Claims ab und erfinden qualifizierte neue Methoden der klanglichen Organisation, neue Ausdruckmöglichkeiten und Sprachformen – lauter kleine Mosaiksteine zum Bild einer Musik von morgen. Die gedanklichen Sitzenbleiber befinden sich hingegen unter den Technikspezialisten. Enttäuscht vom Lauf der Welt, aber apparatetechnisch gut gerüstet beklagen sie bloß die gefühlten Widrigkeiten der Gegenwart.
Ein Hochamt der Betroffenheit
Das zeigte sich gleich in zwei großräumigen, technisch aufwendigen Produktionen. Acht junge Performer aus Frankreich brachten einmal mehr das Thema Klimawandel aufs Tapet. Nach einem einleitenden Kreativitätstraining mit klimaneutralem Lufballonaufblasen und Schwirrholzkreisen im Halbdunkel folgte die Großprojektion einer Sitzung des EU-Parlaments, wo vor leeren Sitzreihen die Präsidentin der Marshall Islands vor dem steigenden Meeresspiegel warnte. Anschließend zerlegten die Akteure in einer furiosen Zerstörungsorgie das Mobiliar, während Mutter Erde als einsamer Luftballon am Bühnenhimmel entschwand.
Ließ dieses Hochamt der Betroffenheit immerhin noch Momente der Nachdenklichkeit aufkommen, so dominierte in einer zweiten Großperformance – sie fand in einer Sporthalle statt – der Aktionismus. Zu Endlosschlaufen, Böllerschüssen und anderen Geräuschen aus den Lautsprechern sowie Videoprojektionen zeigten die Darsteller, diesmal aus Deutschland, stilisierte Posen von Gewalt und Unterdrückung. Die Botschaft – laut Programmheft ging es um die Psyche von Terroristen – verlor sich im Einerlei des optisch-akustischen Zeichensalats.
Komik und Ernst
Dass es auch ohne weltpolitischen Bedeutungshorizont geht, zeigte die agile Darstellerin Ixchel Mendoza Hernandez zur Live-Elektronik von Dmitri Kourliandski in „Sous Vide“. Aha, dachte man, Performance ist ja eine Kunstform! In einer engen Kühlvitrine mit großem Glasfenster richtete sich die kleine Person mit akrobatischer Biegsamkeit ein, mal den Kopf, mal die Füße oben und dazu noch das Outfit wechselnd. Eine schräge Idee, konsequent auf den Punkt gebracht und witzig obendrein.
Ansätze zur Buffonnerie zeigten sich auch in den Uraufführungen von Johannes Boris Borowski und Sara Glojnarić mit dem Trio Catch, und in den fünf Gesangsnummern von Gordon Kampe mit Daniel Gloger und dem Ensemble Ascolta steigerte sich das zum virtuosen Klamauk. Vom gut gelaunten, stets aufnahmebereiten Publikum werden solche Programmbonbons heute mit Jubel quittiert, nicht nur in Stuttgart.
Auf der ernsten Seite dann die musikalischen Tüftler und Poeten mit ihrer skrupulösen Arbeit am Klang: Rebecca Saunders und ihr neues Streichquartett, vom Quatuor Diotima mit delikater Entdeckerfreude interpretiert, oder Sven-Ingo Koch mit seinem Ensemblestück, dessen sorgfältig gesponnene Klangfäden sich aufmerksam verfolgen ließen – bis zur Unterbrechung durch eine technische Panne. Dass danach das Stück – immerhin eine Uraufführung – nicht in unbeschädigter Gestalt wiederholt wurde, verrät einiges über den Niedergang des Werkbewusstseins. Im Werkzyklus „Portulan“ mit dem Ensemble L’Itinéraire, das er einst mitgegründet hatte, demonstrierte Tristan Murail seine Meisterschaft im Umgang mit der spektralen Harmonik, und Obertöne, wenn auch in strikt reduzierter Form, prägten auch „ Eine alpenländischen Volksweise von Krieg und Tod“ von Fabio Nieder: Das alte Soldatenlied im kärntnerisch-windischen Dialekt wurde durch den raffinierten Einsatz der Naturtonreihe gleichsam in artifizielle Ferne gerückt. Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart als Hausensemble des Festivals und das holländische Calefax-Bläserquintett brachten das zerbrechliche Stück mit hoher Konzentration zum Erklingen.
Aber was singen die eigentlich?
Beim Auftritt der Neuen Vocalsolisten mit dem norwegischen Ensemble asamisima beim Eclat-Festival zeigte sich ein merkwürdiges, für die neue Musik aber typisches Phänomen: Es werden zwar Texte komponiert, doch ihr Inhalt scheint beim Hören keine Rolle zu spielen. „Daily Transformations“ von Clemens Gadenstätter für Instrumente, Live-Elektronik und Videoprojektionen (Anna Henckel-Donnersmarck) über einen ausschweifenden Prosatext von Lisa Spalt geriet zu einer mittleren Materialschlacht, in der die Vokalparts mit dem Instrumentalklang so stark vermischt waren, dass man mit Ausnahme der gesprochenen Partien kaum ein Wort verstand. Als Rettungsanker empfahl sich das Programmheft mit dem siebenseitigen Libretto samt Erklärungen auf zehn Seiten. Hier war auch wieder einmal zu lesen, die Musik müsse die festgefahrenen Codes des Hörens „entlarven und gleichzeitig negieren“. Dank der Lektüre wissen wir nun, wie das geht.
Es ist eines der Mysterien der neuen Musik: der unter Komponisten, Veranstaltern und Publikum häufig anzutreffende Konsens, dass es auf den verstehenden Nachvollzug der Textinhalte bei der Aufführung nicht ankomme. Nach dieser Logik könnte der Komponist auch das Telefonbuch vertonen, es käme für den Hörer auf dasselbe heraus. Während heute die Theater schon zu Mozartopern Übertitel laufen lassen, herrscht in den Konzerten mit neuer Musik in dieser Hinsicht Erkenntnisblindheit. Die Gründe sind so dunkel wie der Konzertsaal. Ist es ein unreflektiertes Festhalten an der aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Idee der absoluten Musik? Ein Überrest von Genieästhetik, nach der das Publikum die hohen Gedanken ohnehin nicht kapiert? Oder schlicht Denkfaulheit?
Darunter litt auch das Verständnis des bereits 2008 geschriebenen Chorwerks „voiced void“ von Claus-Steffen Mahnkopf, das nun mit dem SWR Vokalensemble unter Rupert Huber beim Eclat-Festival seine beeindruckende Uraufführung erlebte. Konkrete Texte: Fehlanzeige. Laut Programmheft soll es sich bei den hebräischen Texten aus dem Talmud und von Moses Maimonides um messianische Friedensvisionen handeln. Der polyphon geschichtete Chorsatz mit seiner ausdrucksstarken, ganz an der Sprache orientierten Deklamation ließ immerhin etwas ahnen von der Kraft der Worte.
Eine etwas veränderte Fassung dieses Texts ist in der FAZ vom 8.2.18 erschienen.