Das große Welttheater der
Sofia Gubaidulina

Am Werk der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina zeigt sich exemplarisch der Unterschied zwischen west- und osteuropäischem Komponieren. Während sich die Komponisten hierzulande bis vor kurzem schwer taten, über außermusikalische Aspekte zu sprechen, bekennt sie sich offen zu einer inhaltsgeladenen, religiös grundierten Musik. Form und Struktur sind auch ihr wichtig, doch ergeben sie sich aus den programmatischen Inhalten. Ihr Werk lebt von der Dualität widerstrebender geistiger Kräfte – ein Kampf der Ideen, der nicht selten mit klanglich harten Bandagen ausgefochten wird.

Auf die Frage nach dem Verhältnis von Intellekt und Intuition beim Komponieren antwortete Sofia Gubaidulina 1988 in einem Interview mit der Zeitschrift Sowjetskaja Musyka:

„Ich glaube, das Sinnvolle liegt weder im einen noch im anderen Extrem. Etwas Gutes wird daraus nur, wenn es einem gelingt, diese beiden Positionen miteinander zu verbinden. Eine Komposition sollte also unbedingt ihre logische Struktur, ihren dramaturgisch gezielten Aufbau haben und zugleich erschüttern, die Gefühle des Hörers schonungslos aufwühlen.“

Denken und Fühlen, die ewigen, scheinbar unversöhnlichen Gegensätze, verschmelzen in ihrer Musik auf idiomatische Weise zu einer Logik der Erschütterung, die ganz im subjektiven Empfinden wurzelt und den Hörer intuitiv in Bann zieht. Eine suggestive Sprachfähigkeit prägt das ganze Werk der Komponistin, die im vergangenen Jahr ihren fünfundachtzigsten Geburtstag feiern konnte.

Radikale Negation der Politik

Ein beträchtlicher Teil ihrer Kompositionen ist noch unter den Bedingungen des „realen Sozialismus“ entstanden, und die waren für sie alles andere als optimal. Ihre Werke galten als gesellschaftlich unbrauchbar, ihren Lebensunterhalt verdiente sie mit Filmmusik.

Künstlerisch reagierte Sofia Gubaidulina auf die Einschränkungen in einer für starke Persönlichkeiten typischen Weise: Sie wandte dem System innerlich den Rücken zu und schuf sich ihre eigene Welt in der Musik. Eine Stütze war ihr dabei die Religion – nicht ungewöhnlich für die Komponisten in Ost- und Mitteleuropa, wo eine tief verwurzelte Spiritualität dem bedrohten Individuum schon immer als Refugium gegen äußere Bedrohungen gedient hat. Eine aus westlicher Sicht „unpolitische“ Haltung, die aber gerade in der fundamentalen Negation aller gesellschaftlichen Kategorien ihr oppositionelles Potenzial besitzt. „Unsere Musik ist weniger konkret in der Wiedergabe der Atmosphäre zeitgenössischen Lebens, sie ist eher zeitlos“, sagt Sofia Gubaidulina etwas verschlüsselt in einem anderen Interview aus der Spätzeit der Perestroika.

Nachdem sie bis dahin vor allem für kleinere Besetzungen geschrieben hatte, konnte sie sich mit dem sich abzeichnenden Ende des Kommunismus endlich auch an größere Werke heranwagen, denn sie wurden nun auch aufgeführt. Eine wichtige Rolle für ihre weitere Karriere spielte Gidon Kremer, der sie zu ihrem ersten Violinkonzert Offertorium ermunterte und sich nach seiner 1980 erfolgten Übersiedlung in den Westen kräftig für ihre Musik einsetzte.

Von Schostakowitsch gefördert

Geboren wurde Sofia Gubaidulina am 24. Oktober 1931 in Tschistopol in der damaligen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Tatarstan, wo russisch-orthodoxes Christentum und Islam noch friedlich koexistierten. In der Hauptstadt Kasan studierte sie Klavier und Komposition und kam 1954 ans Moskauer Konservatorium, wo sie ihr Kompositionsstudium bei Nikolaj Pejko, dem Assistenten von Dmitri Schostakowitsch, fortsetzte. Schostakowitsch zählt sie neben Webern zu ihren wichtigen Vorbildern. Er soll sie, nachdem ihre für das Abschlussexamen 1959 geschriebene Sinfonie abgelehnt worden war, auch ermuntert haben, ihren eigenen Weg weiterzugehen.

1963 entschied sich Sofia Gubaidulina für ein Leben als freischaffende Komponistin, 1974 gründete sie mit den gleichgesinnten Kollegen Wjatscheslaw Artjomow und Viktor Suslin in Moskau die Improvisationsgruppe Astreja. Alsbald wurde sie im Westen in einem Atemzug mit Schnittke, Denissow und Silvestrow genannt und zur inoffiziellen sowjetischen Avantgarde gezählt. Ein Begriff, den sie nicht mochte, denn nichts lag ihr ferner, als in irgendwelchen soziokulturellen Bewegungen die Vorhut zu spielen.

Form und Eigensinn

Annähernd zweihundert Werke hat Sofia Gubaidulina im Lauf der Jahrzehnte geschrieben, vom Solostück über Kammermusik und Instrumentalkonzerte bis zum großen Orchester- und Chorwerk. Ihnen allen gemeinsam ist die Missachtung aller Konventionen, sowohl was historische Gattungsvorgaben als auch aktuelle Trends angeht. Das erzeugt frei in der Zeit sich entfaltende Formen, deren innerer Zusammenhang oft assoziativ wirkt – vermutlich ein Echo der langjährigen Improvisationserfahrungen. Die formale Dramaturgie bildet die im Werk programmmusikalisch verarbeiteten Gedanken nach, sie ist sinnfälliger Ausdruck der Botschaft. Dass es stets um mehr als um „absolute Musik“ geht, signalisieren schon die assoziationsreichen Titel: Am Rande des Abgrunds, De profundis, Pro et Contra, Warum?, Introitus

Auch in Werken, deren Titel nur aus einer Gattungsbezeichnung ode Besetzungsangabe besteht, folgt die Musik einer eigensinnigen Logik. Das 1987 für das Arditti Quartett geschriebene zweite Streichquartett ignoriert die virtuosen Möglichkeiten des Ensembles und kreist in meditativer Weise um einen Zentralton, der andauernd umgefärbt wird. Das Bratschenkonzert von 1996 besteht über weite Strecken aus einem introvertierten Monolog des Soloinstruments, das die Töne D und Es, die Initialen von Dmitri Schostakowitsch, umspielt. Traditionelles Konzertieren gibt es hier nicht, stattdessen erzählt das Werk mit seiner Klangfarbendramatik, mit den orchestralen Energiestrudeln, Beschleunigungen und Zerfallsprozessen seine ganz individuelle Geschichte. Die zwölfsätzige Sinfonie Stimmen… Verstummen… , uraufgeführt 1986 in Westberlin durch das Moskauer Staatliche Sinfonieorchester unter Gennadi Roshdestwenski, entwirft mit ihren suchenden Bewegungen zwischen utopischem D-Dur-Dreiklang, bruitistischer Attacke und katastrophischem Absturz das Bild eines brutal ausgefochtenen Kampfs der Gegensätze zwischen Licht und Dunkel, Gut und Böse, Gott und Teufel.

„Am Anfang war das Wort“

Bei der ideengesättigten Musik von Sofia Gubaidulina erstaunt es, dass rund vier Fünftel ihrer Werke reine Instrumentalkompositionen sind. Was sie in Tönen zum Ausdruck bringen, wird in der Johannes-Passion in Verbindung mit dem Wort zum musikalische Klartext. Die Passion, deren Uraufführungsmitschnitt vom Europäischen Musikfest Stuttgart 2000 unter der Leitung von Valery Gergiev beim Label Hänssler erschienen ist, kann als ein Schlüsselwerk für Gubaidulinas Schaffen betrachtet werden. Vorherrschend ist darin weniger ein Ton der Verinnerlichung und des Leidens als vielmehr eine kraftvolle, beinahe kämpferische Glaubensgewissheit. Zu Beginn verkündet der Chor zu österlichem Glockengeläut: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.“ Der philosophische Glaubenssatz ist omnipräsent und kehrt auch am Schluss wieder. Den Bericht des Evangelisten singt ein tiefer russischer Bass auf einem kaum veränderten Rezitationston. In die Passionserzählung eingeflochten ist der Text der Offenbarung – Kreuzigung und Apokalypse addieren sich zu einem gewaltigen Klangtableau. Momente von ekstatischer Adoration, in denen Weltensturz und Auferstehungshoffnung in Eins fallen, und das Ganze getragen von einer russisch-orthodoxen Emotionalität, in den sich vielleicht auch etwas von der tatarischen Herkunft der Komponistin mischt. Großes, Himmel und Hölle aufreißendes Welttheater: Wer das gehört hat, nimmt ihre Musik künftig anders wahr.

Die Printversion dieses Textes ist erschienen in „Spuren, Musikzeitung für Gegenwart“, Mai 2017. (Musikfestival Klangspuren Schwaz).

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