Das Journal rappé und das Stadt-Land-Gefälle

Journal rappé

Um 2014 wurde von einer Gruppe sozial engagierter Journalisten im Senegal das Journal rappé, die gerappte Nachrichtensendung im Internet, ins Leben gerufen. Die Adressaten sind Angehörige der Unterschichten, vor allem unzufriedene Jugendliche, die von der kulturellen Teilhabe bisher weitgehend ausgeschlossen sind.

Das Journal rappé ist ein charakteristisches Beispiel für die kulturellen Prozesse, die sich heute in den Megastädten der Entwicklungsländer abspielen. Sie bilden das Gegenmodell zu der Art von Kulturtransfer, der von oben nach unten, vom Zentrum der Macht in die Peripherie  verläuft. In ihnen spielt sich die Dynamik vorwiegend in der Wagrechten ab, innerhalb der Masse der Unterprivilegierten und ihrer Sprachrohre. Das widerspricht der traditionellen europäischen Vorstellung, eine urbane Elite müsse das rückständige Hinterland beziehungsweise die Unterschicht zu einer höheren Form von Kultur erziehen.  Angesichts der Realitäten in den bevölkerungsstarken Entwicklungsländern erscheint das so abseitig wie die Idee, die Kulturen der Welt müssten an europäischen Maßstäben gemessen werden.

Stadt und Land in der europäischen Vergangenheit

Ein Blick auf die Geschichte Europas zeigt, dass die Zentren kulturell stets tonangebend waren: einst die Klöster und Fürstenhöfe, heute die digital hochgerüsteten Metropolen der Wohlstandsnationen. Doch kamen wichtige Impulse auch schon in der Vergangenheit immer wieder aus dem sogenannten Hinterland. Einige Beispiele aus der Schweiz, beliebig herausgegriffen: Niklaus von Flüe, Ulrich Bräker, Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf oder Giovanni Antonio Viscardi, Steinmetz aus dem Misox, der als Bayerischer Hofbaumeister Schöpfer bedeutender barocker Sakralbauten in Bayern war.

Klostenkriche Fürstenfeldbruck, gebaut nach Plänen von Giovanni Antonio Viscardi
Klosterkirche Fürstenfeldbruck, gebaut nach Plänen von Giovanni Antonio Viscardi (1645-1713)

Auch Rebellen lieferte das Land in stattlicher Zahl. Die Städte, als Laboratorien der frühkapitalistischen Produktions- und Handelswirtschaft zu Reichtum gekommen, hielten sie sich mit Mauern und bewaffneten Torwächtern vom Leib.

Niklaus Leuenberger
Der Bauernführer Niklaus Leuenberger

Bei Bauernaufständen wurde kurzer Prozess gemacht.  Der gegen Bern rebellierende Waadtländer Major Davel wurde im Lausanner Vidy öffentlichkeitswirksam enthauptet, der Zürcher „Lebkuchenkrieg“ von 1515, ein Aufstand verarmter Landbewohner, endete mit Hinrichtungen, den Bauernführer Niklaus Leuenberger ließ die Berner Obrigkeit vierteilen und seine Gliedmaßen auf den Zufahrtsstraßen zur Stadt zur Schau stellen.

Die Agglomeration, Zone des Übergangs

Solche Konflikte zwischen Stadt und Land sind heute Geschichte,  zumindest in Europa. Die Mauern sind gefallen, die fundamentalen Gegensätze eingeebnet. Doch die Stadt-Land-Dialektik besteht weiter. Als Pufferzone gibt es die Agglomeration, eine allgegenwärtige Zone des Übergangs, Heimat der Pendler, kulturell weder Stadt noch Land: eine Provinz, die dank schneller Verkehrswege und Highspeed-Internet keine mehr ist. In der Schweiz mit ihren noch einigermaßen intakten Sozialstrukturen und kurzen Distanzen stellt diese Nicht-Provinz einen Ort des Rückzugs in eine gemütlich „verhüselte“ Umgebung dar.

Limmattal, Schweiz

In den urbanen Ballungsräumen der Entwicklungs- und Schwellenländer, den sogenannten Metropolregionen, sieht es hingegen anders aus. Hier herrscht die brutale Realität. Suburb, soweit das Auge reicht. São Paulo: 21 Millionen, Lagos: 23 Millionen, Mumbai: 28 Millionen.

Favelas in São Paulo

Der Krieg zwischen Stadt und Land verwandelt sich hier in den täglichen Überlebenskampf der Menschen, die sich zwischen Slumdasein und Kleingewerbe am Straßenrand eine Existenz aufzubauen versuchen. Reichtum und Armut prallen aufeinander, der Übergang von der staatlichen Ordnung zum unkontrollierbaren sozialen Dschungel ist fließend. Nach statistischen Vorhersagen soll zukünftig die Mehrheit der Menschheit in solchen Metropolregionen leben.

Straßenläden in Accra/Ghana
Der Rap, das musikalische Esperanto der Underdogs

Die Lebensbereiche des globalen Prekariats sind eine Quelle neuer kultureller Ausdrucksformen. Vielleicht könnte aus ihnen eines Tages unter dem Einfluss der Medien eine weltumspannende Kultur entstehen, unüberschaubar in ihrer Vielfalt und alle gesellschaftlichen Grenzen sprengend. Ansätze dazu sind vorhanden. Beispiel Rap: Als eine Art musikalisches Esperanto ist diese testosterongesteuerte Schnellsprechpraxis der Underdogs bis in die saturierten urbanen Milieus der Ersten Welt vorgedrungen. Inzwischen hat er – wie ganz allgemein die Hiphop-Kultur – sogar Eingang in die gated communities der Musikavantgarde gefunden, die ihn als Vitalitätsspritze nutzt.

Doch der Ursprung des Rap liegt in jenen sozial ungesicherten Milieus in Afrika und Amerika, wo sich die Wunschfantasien der Unterprivilegierten in Sprachbildern von aggressiver Wucht entladen. Es ist die Sprache der Straße, und jedermann versteht sie. Um diese Gruppen zu erreichen, wurde im Senegal, wo das Durchschnittsalter neunzehn Jahre beträgt, der Internetsender mit dem Journal rappé aufgemacht. Das Journal rappé hat inzwischen Nachfolger auch in anderen Ländern gefunden.

Kulturelle Phänomene wie der Rap und seine politische Instrumentalisierung im Journal rappé, die sich unterhalb der Grenzen zur Hochkultur ausbreiten und diese Grenze möglicherweise eines Tages nach oben durchstoßen, hat es indes schon immer gegeben. In Europa in der frühen Neuzeit etwa die damals als anstößig geltenden Tänze wie Jig oder Sarabande. Über die englischen Virginalisten respektive den Hof des tanzwütigen Sonnenkönigs stiegen sie in die obere Sphäre auf und fanden in den Suiten von Bach ihre sublimste Verkörperung. Ein ähnlicher Fall ist die „Zigeunermusik“, die im 19. Jahrhundert zahllose Komponisten inspirierte.

Die Medien und die neue Stadt-Land-Asymmetrie

Im 20. Jahrhundert erhält die kulturelle Differenz zwischen Stadt und Land durch die Medien eine neue Qualität. Sie haben ihren Sitz in den wirtschaftlichen Zentren, den Städten, sind also ein Teil von deren Machtpotenzial. lm Medienzeitalter lautet die entscheidende Frage: Stehe ich vor oder hinter der Kamera? Wer davor steht, ist das Objekt – der Jäger im Amazonas, der Pfahlbauer auf Borneo oder auch nur die Frau Meier in Schlieren, die für das Fernsehpublikum ihre Meinung über irgendetwas kundtun soll und nicht weiß, was aus ihrer Äußerung gemacht wird. Wer dahinter steht, ist Subjekt, denn er verfügt über die Produktionsmittel und damit über die Macht.

Local people, vor der Kamera

Die von den Medien suggerierte Nähe zu den Menschen beruht auf Asymmetrie. Das gilt für das Fernsehen, wenn es noch im hintersten Alpental „Bi de Lüt“ („Bei den Leuten“) sein will, wie eine Sendereihe lautet, und ebenso für die an der Dritten Welt interessierten Künstler und Konsumenten der Ersten. Der Kulturtransfer verläuft dabei oft wie früher die Abgabe des Zehnten oder heute der Handel mit Drittweltprodukten: Die einen liefern, die anderen nehmen es gnädig entgegen oder holen es sich ohne zu fragen. Der Weg vom kulturellen Interesse zur geistig-materiellen Ausbeutung ist kurz. In der Kultur ist das Wort Fairtrade noch nicht überall angekommen.

Bartók und die Singenden Brunnen

Es gibt aber auch das Gegenmodell: Béla Bartók hat es vor hundert Jahren vorgemacht mit seiner Feldforschung. Die musikalischen Äußerungen derjenigen, die von den Produktionsmitteln abgeschnitten waren und keine Chance hatten, sich über ihr Dorf hinaus Gehör zu verschaffen, behandelte er mit Respekt und Verantwortung – als Komponist und als Forscher. Damit führte er die Menschen und ihre Kultur aus dem Dunkel der Anonymität hinaus und machte sie zu ebenbürtigen Mitspielern im internationalen Konzert der Kulturen.

Eine vergleichbare Arbeit leistet in Ostafrika seit Jahren der kenianische Musikproduzent William Tabu Osusa, Inhaber des Aufnahmestudios Ketebul in Nairobi. Inspiriert durch den südafrikanischen Musikethnologen Hugh Tracey erforscht er die reichhaltige Musiklandschaft, die heute durch den nivellierenden Einfluss der Medien und durch Abwanderung in die Städte bedroht ist. Singing Wells, Singende (Dorf-)Brunnen, heißt sein mit Geldern aus England unterstütztes Forschungsprojekt. Wie früher der Europäer Bartók fährt auch er mit seinen Aufnahmegeräten in die Dörfer, um die Musik der Landbewohner aufzunehmen. Die Bedingungen einer Aufnahme sind fair: Die Rechte bleiben bei der Dorfgemeinschaft, eventuelle Einnahmen werden an sie überwiesen. Zur musikalischen Feldforschung in Ostafrika gibt es hier ein Interview mit Tabu Osusa zu lesen.

Vom Dorf in die internationale Öffentlichkeit

Manche dieser Musiker lädt Osusa nach Nairobi in sein Studio ein und bildet sie zu professionellen Musikern aus. So etwa die rockenden Musliminnen der Gruppe Gargar: Sie kommen aus einer Dorfgemeinschaft in der Unruheprovinz Garissa an der Grenze zu Somalia. Vor neun Jahren stimmten sie, von Kopf bis Fuß in Tücher eingehüllt, in ihrem Heimatdorf vor Osusas Kamera ihre Gesänge an, heute treten sie als erfolgreiche Frauenband bei afrikanischen Festivals auf. 2014 wurden sie auf ihrer ersten Europatournee mit einem Preis von Radio France ausgezeichnet.

Trotz Medien- und Festivalpräsenz haben ihre Gesänge nichts von ihrer Kraft und Originalität eingebüßt. Ihr Repertoire umfasst neben traditionellen Gesängen auch das Aufklärungslied „Aids Wadila“ („Aids tötet“). Dieses Video wurde – mit Ausnahme der bearbeiteten Sequenzen in Schwarzweiß, wo die drei Frauen mit rotem Umhang als Bühnenprofis hineinmontiert sind – bewusst in traditioneller Verhüllung und in einem rückständigen Umfeld aufgenommen, um die unaufgeklärten Menschen zu erreichen, an die sich das Lied in erster Linie richtet.

Gargar ist nicht das einzige Beispiel für einen erfolgreichen kulturellen Transfer vom Dorf in die Stadt und die internationale Öffentlichkeit. Auch Eric Wainaina, ein Song- und Playwriter, der in den USA Musik studierte und heute in der internationalen Liga spielt, kommt aus einer Familie, die vom Dorf in die Stadt gezogen ist. Er hörte die Landflüchtigen sagen: Wir gehen nicht in die Stadt zum Leben, sondern zum Geldverdienen. Das ist für ihn das falsche Rezept. „Macht was aus dem Augenblick und gestaltet die Welt!“ rief er vor einem Jahr bei seinem Auftritt im Rahmen der panafrikanischen Musikkonferenz ACCES in Nairobi dem Publikum zu. Kommt heute die Kreativität vom Hinterland und den Rändern der Gesellschaft? Zumindest in Afrika scheint es so.

ACCES-Konferenz 2018 in Nairobi: Eric Wainaina hört seinem eigenen Song zu.

Dieser Beitrag basiert auf dem einleitenden Essay „Hinterland und Megacity“ im Themenheft „Stadt und Land“ der Schweizer Musikzeitung Nr. 1, Januar/Februar 2020.

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