Sobrio hat wie die meisten Tessiner Bergdörfer im Lauf des 20. Jahrhunderts massiv an Bewohnern eingebüßt, 2016 waren es gerade noch achtzig. Doch nun ist neues Leben eingekehrt. „Villaggio della Musica“, Dorf der Musik, nennt es sich heute, und an einem Geländer am Dorfeingang hängt ein Transparent: Sobrio Festival.
Von Anfang Juli bis Mitte Oktober gibt es hier Instrumentalkurse für Studierende und junge Profis, die Dozenten kommen unter anderem von den Berliner Philharmonikern und dem Orchester der Mailänder Scala. Mit wöchentlichen Konzerten und den Resultaten eines Klavierwettbewerbs namens „Elizabeth Tschaikowsky“ – eine entfernte Nachfahrin des russischen Komponisten stellte dafür ihren Namen zur Verfügung – präsentiert man sich der Öffentlichkeit.
Parallel zu den Kursen geht das Sobrio Festival über die diversen Bühnen des Musikdorfs. Neben den Solorezitals und Kammermusikabenden mit internationalen Künstlern bietet das Festival auch ausgewählten Kursteilnehmern eine Auftrittsgelegenheit, und umgekehrt unterrichten manche Gastsolisten in den Kursen. Die Struktur des Villaggio della Musica bildet das gemeinsame Dach.
Landschaft und Kultur im Einklang
Sobrio liegt auf einem Sonnenhang auf elfhundert Metern Höhe, tief unten im Tal rollt Tag und Nacht der Verkehr über die Gotthardautobahn. Doch davon ist hier oben nichts zu hören, man fühlt sich wie in einer anderen Welt. Die Aussicht auf die gegenüberliegenden Berge ist grandios. Mit seinen natursteingedeckten Häusern, einer Kirche aus dem 14. Jahrhundert und einem Restaurant mit freundlicher Bedienung bildet Sobrio ein landschaftliches Biotop, in dem sich Konzerte, Sommerakademie und lokale Strukturen zu einem integrativen Ganzen verbinden. Eine einzigartige, unwiederholbare Konstellation.
Initiator und kreativer Kopf des Villaggio della Musica ist Mauro Harsch, Pianist und Dozent am Conservatorio della Svizzera Italiana in Lugano. Mit dem Projekt hat er sich einen alten Traum verwirklicht, und den idealen Ort dafür fand er hier in diesem Dorf, das er seit seiner Kindheit kennt. „Meisterkurse oder Konzerte gibt es überall, aber Sobrio ist einmalig, nicht nur wegen der Landschaft, sondern auch weil hier ein ganzes Dorf in die Musik einbezogen wird.“ Harsch spricht begeistert über die Atmosphäre vor Ort: „Diese Ruhe und Harmonie findet man sonst nirgendwo. Hier, im Kontakt mit der Natur und abgeschirmt von den Banalitäten des Alltags, können sich die jungen Musikerinnen und Musiker frei entfalten.“ In einer mehr touristischen oder urbanen Umgebung, sagt er, wäre das nicht möglich.
Institutionell steht das Musikdorf auf zwei Beinen. Der von Harsch gegründete Verein Ars Dei, dem er vorsteht, ist verantwortlich für die künstlerischen und organisatorischen Fragen, und die Stiftung Amici del Villaggio della Musica kümmert sich um alle institutionellen Aspekte. Diese beiden Träger, dazu ein Freundeskreis mit über zweihundert Mitgliedern, garantieren auch für die finanzielle Sicherheit. Das Musikdorf Sobrio finanziert sich weitgehend selbst, Zuwendungen Dritter sind willkommen.
Ein Dorf in der Metamorphose
Viele Häuser wurden in den vergangenen Jahren nachhaltig renoviert, wobei ihr Äußeres unangetastet blieb. An den Hauswänden befinden sich kleine Messingschilder mit ihren Namen: Casa Gioacchino Rossini, Casa Hector Berlioz, Casa Ferenc Liszt. Eine Metamorphose hat stattgefunden, rund fünfzig der alten Häuser sind inzwischen auf diese Weise „musikalisiert“ worden. Die meisten gehören Privatpersonen, die auf unterschiedliche Weise einen Beitrag zu den musikalischen Aktivitäten leisten; auch praktizierende und ehemalige Musiker befinden sich darunter.
Zwei dieser Häuser sind Eigenbesitz der Veranstalter: Das eine ist die große Casa Francis Poulenc mit Doppelzimmern für die jungen Musiker und einer geräumigen Küche, wo sie als Selbstversorger kochen und sich treffen können. Auf dem weitläufigen Grundstück gibt es eine Reihe von noch jungen Bäumen; für jeden Gewinner, jede Gewinnerin des Klavierwettbewerbs wird jeweils ein neuer gepflanzt.
Das andere Haus ist die perfekt eingerichtete Casa Mahler. Mit einem kleinen Saal für Kammerkonzerte, Workshops und Meisterkurse bildet sie das Herzstück des Unternehmens. Ein größerer Konzertraum mit rund hundertsechzig Plätzen ist die Kirche San Lorenzo, und für Freiluftkonzerte gibt es einen durch alte Mauern stufenförmig terrassierten Bereich direkt hinter der Casa Mahler.
Langfristig planen, nachhaltig denken
Das Musikdorf Sobrio ist ein langfristiges Entwicklungsprojekt. Das betrifft vor allem den Ausbau der Liegenschaften. Im Sommer 2023 wurde mit dem Umbau eines alten Albergo am Dorfende begonnen, um die Beherbergung von Festivalgästen zu ermöglichen. Name: „Hotel Symphony“. Bereits fasst man auch ein Wohnprojekt für betagte Musiker ins Auge, neue Unterkünfte für Kursteilnehmer sind ebenfalls angedacht – aber alles schön der Reihe nach.
Überstürzt wird im Villaggio della Musica nichts. Nicht zuletzt, weil die Verantwortlichen wissen, dass das musikalische Unternehmen einen Eingriff in das altgewachsene soziale Gefüge des Dorfs darstellt, Probleme für die Infrastruktur inbegriffen. Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Einheimischen und strikte Nachhaltigkeit sind darum erstes Gebot. Soziale Spannungen sind nicht immer vermeidbar, weshalb man bei den einzelnen Entwicklungsschritten mit der Gemeinde Faido zusammenarbeitet, zu der Sobrio seit 2016 politisch gehört.
Probleme gab es zum Beispiel beim Vorhaben, auf der Wiese vor dem Dorf einen kleinen Konzertsaal zu bauen. Der Architekt Mario Botta hatte den Auftrag zur Gestaltung des Baus erhalten und auch bereits einen Entwurf geliefert. Doch dann erhoben einige Bewohner Einspruch. Sie befürchteten, das Dorfleben könnte durch einen wachsenden Kulturtourismus auf den Kopf gestellt werden, und das Projekt blieb einige Jahre liegen. Inzwischen hat man sich geeinigt, und die Suche nach Geldgebern für die Baukosten von 3,5 Millionen hat begonnen.
Ein soziokulturelles Abenteuer
Das Musikdorf Sobrio ist ein soziokulturelles Abenteuer, das seinesgleichen sucht. Hier kann man beobachten, wie eine ursprünglich rein kulturelle Idee weit über ihren Bereich hinauswirken und die gesellschaftliche Realität tiefgreifend verändern kann. Es ist ein Prozess mit offenem Ausgang. Doch wenn Begeisterung für die Sache und soziale Verantwortung so eng zusammengehen, wie es hier der Fall zu sein scheint, dann besteht Grund zur Annahme, dass für beide Seiten, die Musik und das Dorf, die Zukunft gerade erst begonnen hat.
Eine Zweitversion dieses Beitrags befindet sich auf der Seite der Schweizer Musikzeitung.