Von Apokalypse ist in den Medien schnell die Rede, wenn von einer besonders schweren Katastrophe berichtet wird. Dabei hat das Wort eine ganz andere Bedeutung als es der tägliche Sprachgebrauch nahelegt. In der Musik ist die Apokalypse seit Jahrhunderten ein großes Thema, die Darstellungen reichen weit in mythologische und religiöse Bereiche hinein.
Als Kinder stimmten wir jeweils gemeinsam den Refrain an: „Am drizähnte Mai isch de Wältundergang. Mer läbed jo nümme so lang, mer läbed jo nümme so lang.“ (Für Nicht-Schweizer: „Am 13. Mai ist der Weltuntergang. Wir leben ja nicht mehr so lang.“) Der erste Teil in punktierter Dreiklangsfanfaren-Melodik, der zweite als eine Art Trommelrhythmus in Triolen. Das machte richtig Spaß, wir marschierten dazu und dachten nicht darüber nach, was das eigentlich bedeutet. Aber wo kam der Doppelzeiler her?
Das Internet weiß Rat. Hier stößt man auf ein „Stimmungslied“ mit dem Ensemble Die lustigen Jungs von 1954: Am 30. Mai ist der Weltuntergang. Das Jahr in dem er stattfinden soll, wissen die Lustigen Jungs aber natürlich nicht, und so singen sie unverdrossen: „Wir können einen heben, so oft es uns gefällt. Das macht uns allen Spaß. Herr Ober, noch ein Glas!“
Das war Vergangenheitsbewältigung auf Kölsche Karnevalsart. Am 30. Mai 1942 wurde nämlich die Kölner Innenstadt von englischen Bombern dem Erdboden gleichgemacht.
Für derartige Mega-Katastrophen hat sich, wenn nicht gerade Karneval ist, der Begriff „apokalyptisch“ eingebürgert. Er assoziiert Endzeitangst und Vernichtung allen Lebens. Angesichts der technologisch entfesselten Kriege tauchen solche Szenarien in der Gegenwartskultur gehäuft auf. Zwischen Francis Coppolas Vietnam-Film Apocalypse Now von 1979 und den Klanginstallationen Im Flow der Apokalypse, die Studierende der Basler Kunsthochschulen 2020 im Theater Basel realisierten, öffnet sich ein weites Feld.
Die Schreckensbilder der Apokalypse von Albrecht Dürer
Ein kulturhistorischer Fluchtpunkt ist Albrecht Dürer. So in Thomas Manns fiktivem Künstlerroman Doktor Faustus, wo Adrian Leverkühn für sein Vokalwerk Apocalipsis cum figuris auf den gleichnamigen Zyklus von Schreckensbildern zurückgreift, mit denen Dürer die Offenbarung – ein anderes Wort für Apokalypse – des Johannes illustriert hat. Leverkühns Absicht: „Das Verborgenste musikalisch zu enthüllen, das Tier im Menschen wie seine sublimsten Regungen“. Thomas Mann ist hier sehr genau: Das griechische Wort „Apokalypse“ bedeutet nämlich „Enthüllung“.
Dürer steht auch Pate bei Klaus Hubers Werk …inwendig voller Figur… von 1971. Vorlage ist das Aquarell Traumgesicht aus dem Jahr 1525; Dürer schrieb dazu, er habe „fill grosser wassern“ gesehen, die vom Himmel fielen und die Welt ertränkten. Huber, ganz Zeitgenosse der Nachkriegsära, erblickt darin die Vorahnung eines Atomkriegs und holt sich große Textteile für seine Weltuntergangsvision ebenfalls bei Johannes. Nach Endzeitkatastrophe klingt auch die elektroakustische Komposition L’Apocalypse de Jean von Pierre Henry, wohingegen György Ligeti in Le Grand Macabre den bevorstehenden Weltuntergang als Groteske inszeniert. Bei aller Verschiedenheit haben diese Werke etwas gemeinsam: die Angst vor dem Ende der Welt.
Olivier Messiaen und der Engel der Apokalypse
Doch der Schrecken ist nur die halbe Apokalypse. Der anderen Hälfte begegnet man im Quatuor pour la fin du temps von Olivier Messiaen, das er 1941 während seiner Kriegsgefangenschaft in Görlitz schrieb.
Auch hier geht es um die Offenbarung des Johannes, doch anstelle der Schreckensbilder stellt Messiaen eine Passage aus dem zehnten Kapitel ins Zentrum, wo ein Engel vom Himmel herab verkündet:
„Es soll hinfort keine Zeit mehr sein, sondern in den Tagen, wenn der siebente Engel seine Stimme erheben und seine Posaune blasen wird, dann ist vollendet das Geheimnis Gottes, wie er es verkündigt hat seinen Knechten, den Propheten.“
Offenbarung 10, 6-7 (Luther-Übersetzung)
Die Enthüllung (die „Apokalypse“) dieses Geheimnisses durch „das Lamm“ ist der Kerngedanke des Buchs von Johannes. Oder mit den Worten des namhaften Theologen Papst Benedikt XVI.: „Sein Thema ist im Letzten die Enthüllung des Sinns der Menschheitsgeschichte, ausgehend vom Tod und der Auferstehung Christi.“
Zur Erläuterung der Symbolik: Nach Johannes ist nur das Lamm, ein Symbol für Christus, in der Lage, das Buch der Sieben Siegel zu öffnen und damit das Geheimnis zu enthüllen. Das „Lamm Gottes, am Stamm des Kreuzes geschlachtet“, wie es im Eingangschor der Matthäuspassion vorausschauend heißt und wie es in der christlichen Ikonografie in zahllosen Varianten dargestellt wird, ist nicht nur Opfer, sondern auch strahlender Sieger der Weltgeschichte und führt diese zu einem Ende – zum Ende aller Zeiten. La fin du temps. Diese religiöse Wahrheit hatte Messiaen in seinem Quartett vor Augen.
Eine Vielzahl von Apokalypsen
Bei der Vokabel „Apokalypse“ denken wir zuerst an die bildgewaltige Offenbarung des Johannes. Schlägt man aber bei Wiki unter „Apokalypse“ nach, stößt man neben der Offenbarung des Johannes auf eine unvollständige Liste von zehn weiteren überlieferten Apokalypsen; sie reichen von Adam bis Petrus.
Jede Zeit hat sich ihre Version vom Geheimnis des Untergangs und der Neuschöpfung der Welt, dem Grundgedanken der Apokalypse, erdacht. Der Mythos ist uralt. Auch Wagners Götterdämmerung gehört in diese Reihe. Das Feuer, in dem Walhall am Schluss verbrennt, steht für die Ekpyrosis, den mythologischen Weltenbrand. Es ist ein Reinigungsfeuer, dem ein Neuanfang folgen wird. Übertragen auf das Element des Wassers, heißt diese Endzeitvision „Sintflut“. Dieses alttestamentarische Sujet hat Komponisten von Carissimi über Donizetti und Saint-Saëns bis Willy Burkhard und Strawinsky zu Werken inspiriert.
Das Gilgamesch-Epos als Ursprung
Doch die Sintflut-Erzählung ist älter. Sie erscheint schon im ältesten bekannten Epos der Menschheit, dem vor über viertausend Jahren entstandenen Gilgamesch-Epos, überliefert in Keilschrift auf elf Tontafeln. Die elfte Tafel enthält – als Rahmenerzählung! – eine geheime Warnung vor einer kommenden Flutkatastrophe. Die Ähnlichkeit mit der biblischen Sintflut ist augenfällig, und, was das geheime Wissen angeht, auch mit dem Johannes-Text. Komponisten wie Bohuslav Martinu, Volker David Kirchner, René Clemencic und Enjott Schneider haben sich mit dem Stoff befasst, und die englische Sängerin Stef Conner lässt sich dazu auf ihrer Webseite mit der eindrücklichen Vokalperformance The Flood vernehmen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der apokalyptische Gedanke ist Jahrtausende alt und bis heute im den Tiefenschichten des Bewusstsein existent. Auch die Kinder wissen ein Lied davon zu singen.
Leicht veränderte Printfassung: Schweizer Musikzeitung Nr. 6/2024, S. 14-15.
Siehe auch: Die Riddle Songs von Stef Conner und Hanna Marti