Am 28. März wurde die Apple Classical App freigeschaltet, und dort kann man nun zum Preis von 10,99 Euro monatlich Musik Werke von Hildegard von Bingen bis Wolfgang Rihm in zahllosen Interpretationen hören. Von Perotins Viderunt omnes sind 23 Aufnahmen vorhanden, Beethovens Fünfte gibt es in 1.265 Versionen, Schuberts Streichquintett wird 492 mal angezeigt, Stockhausens Mantra immerhin fünfmal. Die reinen Zahlen sind beeindruckend.
Kernstück der App ist eine Datenbank mit fünfzig Millionen Einträgen. Sie erlaubt, die rund 115.000 Werke von über 20.000 Komponisten, unterteilt in fünf Millionen Tracks (ein Track ist ein Werk von kürzerer Dauer oder bei größeren Stücken ein Einzelsatz oder Teil davon) nach allen möglichen Kriterien abzurufen.
Benutzerfreundliche Technologie
Das funktioniert außerordentlich gut. Auf dem Telefondisplay kommt man sofort von den Komponisten zu den Werken, Einzelsätzen und Versionen. Wer nicht Namen oder Titel eingeben will, kann ein Werk auch nach Kriterien wie Epoche, Genre, Orchester oder Instrument suchen. (Eine Unterstützung für Programmmacher, denen die Ideen ausgehen.) Siebenhundert von Musikern, Musikwissenschaftlern und Kritikern zusammengestellte Playlists schlagen zudem eine Schneise durch den Datendschungel.
Die Klassik-App ist ein technologisches Meisterstück. Sie behebt die Unzulänglichkeiten, die es bisher beim Streaming von Klassik gab. Eine Suche wie bei der Popmusik, bei der es in der Regel bloß um Songtitel und Musiker geht, kann bei Klassik nicht funktionieren, denn hier spielen auch Tonart, Satztitel und ähnliche Attribute eine wichtige Rolle. „Die Streamingdienste behandelten die Klassik nie mit der gebührenden Sorgfalt und Aufmerksamkeit“, sagt Oliver Schusser, Vice President von Apple Music. „Das ändert Apple mit seiner Classical App.“ Man muss ihm rechtgeben.
Für die bestehenden Streamingunternehmen wie Idagio, Qobuz oder die Naxos Music Library ist die Classical App von Apple zweifellos eine harte Konkurrenz, zumal auf -zig Millionen iPhones bereits Apple Music vorinstalliert ist, der die Classical App bloß hinzugefügt werden muss. Wer für die bereits installierte Music App ein Abonnement besitzt, hat ohne Aufpreis auch Zugang zum ganzen Klassikkatalog. Eine App für Android ist in Vorbereitung.
Anbieter, die selbst auch produzieren, können von der Apple Classical App aber auch profitieren. Für das Label Naxos, das nebst eigenen Produktionen auch über einen großen Vertriebskatalog verfügt, ist Apple nicht nur Konkurrent, sondern auch ein guter Kunde; viele seiner Titel sind nun nicht nur in der Naxos Music Library vorhanden, sondern auch auf der Apple Classical App. Auch die Berliner Philharmoniker, die mit der Digital Concert Hall über ein eigenes Streamingportal verfügen, haben das Reichweitenpotenzial der Klassik-App erkannt und kurz nach deren Freischaltung bekanntgegeben, dass sämtliche Einspielungen des orchestereigenen Labels Berliner Philharmoniker Recordings nun auch bei Apple zu hören sind.
Eine Kathedrale des Digitalzeitalters
Präsentiert wurde die Klassik-App im neuen Londoner Hauptquartier des Konzerns, in der Battersea Power Station, dem einstigen Kohlekraftwerk am Themseufer, die nach Jahrzehnten der Stilllegung nun einem neuen Zweck als luxuriöses Geschäftszentrum zugeführt wurde. Abgeschirmt von neugierigen Blicken, belegt das Apple-Reich einen ganzen Flügel des renovierten Industriekolosses. Wer die Sicherheitsschleusen passiert hat, befindet sich in einen riesigen Innenraum, an dessen Rändern sich auf sechs Stockwerken die diversen Arbeitsbereiche anschließen. Das Ganze hat die Dimensionen einer Kathedrale und wurde vom Architekturbüro Foster + Partners mit kühler Eleganz gestaltet.
Bei diesem Informationstreffen zeigte sich: In der Öffentlichkeitsarbeit von Apple spielen kulturelle und ökonomische Aspekte eine sekundäre Rolle. Fragen etwa zu den Abrechnungsmodalitäten wurden elegant neutralisiert durch die Hinweise auf die Einzigartigkeit des neuen Produkts. Die Technologie ist das A und O, aus dem alles andere abgeleitet wird.
Die Grenzen der Metadaten
Was das für die Klassik-App bedeutet, machten die für die einzelnen Entwicklungsbereiche zuständigen Mitarbeiter mit einem Feuerwerk der Superlative klar, siehe die eingangs erwähnten Zahlen. Besonderes Augenmerk richtete man auf die Metadaten. Sie sollten, hieß es, auch weiterführende Informationen wie Biographien oder Werkkommentare enthalten. Ein erster Blick in die veröffentlichte App zeigte dann aber, dass es mit den Texten nicht so weit her ist. Es gibt zwar Bios von Komponisten und Dirigenten, aber auch nur von den bekanntesten. Kurze Werkkommentare, die besonders bei neuer Musik wichtig wären, findet man nicht, Opernlibretti schon gar nicht – irgendwie verständlich, denn ein fünfzigseitiges Booklet macht auf einem Telefondisplay wenig Sinn. Wohl aber hätte man bei den Sängern neben ihrem Stimmfach auch ihre Rollen nennen können, dafür wäre immer Platz gewesen.
Solche Mängel trüben etwas den guten Eindruck, den die App ansonsten macht. Auch manche Playlists werfen Fragezeichen auf. Es ist ja schön, dass Apple auch Playlists für Nichtkenner anbietet, aber dass zum Beispiel bei „Musik des 21. Jahrhunderts“ Filmkomponisten wie Hans Zimmer und John Williams und Weichspüler wie Ludovico Einaudi, Max Richter oder Eric Whitacre als „Beliebte Komponisten:innen“ an die erste Stelle gesetzt werden, ist reiner Populismus und lässt tief blicken, was den Musikgeschmack an der Westküste angeht.
Nicht ganz unproblematisch ist auch, dass bei der Auflistung von Interpreten oder Werken ganz oben in der Regel der Hinweis „Wir empfehlen“ steht, gefolgt von einer ausgewählten Aufnahme. Wie diese Empfehlung zustandekommt, kann man nur raten. Geht das nach dem Prinzip der „Beliebtheit“, bei dem der Algorithmus einfach das Meistgehörte auswählt? So würde für den Favoriten eine nach oben offene Beliebtheitsspirale erzeugt. Ist die Empfehlung eine verdeckte, von den Labels bezahlte Promotion? Oder entspringt sie dem Geschmack eines der vielen Playlist-Kuratoren? In jedem Fall zahlt sich diese Empfehlung für den Favoriten und sein Label aus.
Der Sound der Classical App
Die zweite Errungenschaft neben der Datenbank, mit der sich Apple von der Konkurrenz abheben will, ist der ausgeklügelte Sound. Apple setzt auf einen voluminösen Raumklang in Spitzenqualität, darunter Lossless-Formate bis 24 bit/192 kHz und „Spacial Audio mit Dolby Atmos“. Der Anspruch, eine Klangqualität „wie auf dem besten Platz im Konzertsaal“ zu liefern, soll für Kopfhörer wie die Hifi-Anlage gleichermaßen gelten.
Auf den zwei Lautsprechertürmen im Vorführraum erklang das Vorspiel zum 1. Akt der Walküre in der neu gemasterten, aufnahmetechnisch bahnbrechenden Studioproduktion mit Georg Solti aus dem Jahr 1965 glasklar, sowohl was die Klangcharakteristik der Instrumente als auch die räumliche Tiefenschärfe angeht: ein hochdramatisches Klanggemälde von furchterregender Präsenz. Bei einem für Orchester arrangierten Lied von Franz Schubert wirkte die Gesangsstimme von Mathias Goerne etwas zu dominant. Im dritten Satz von Beethovens „Sturm“-Sonate, wenn das Thema im Bass kommt, poltert Igor Levit wie Knecht Ruprecht durch den Raum.
Immersiver Sound
Mit seiner technischen Perfektion tendiert der Apple-Sound zur Überwältigung. Bei der Demo in London bekam man den Eindruck, man sitze gefühlt nicht auf dem besten Platz im Konzertsaal, sondern auf dem Dirigentenpodium, wo der Klang von links, rechts und vorne über einen hereinbricht. Vielleicht lag das auch an der Auswahl der Stücke; Kammermusik, ein Gradmesser für klangliche Feinheiten, war in der Demo-Playlist nicht enthalten.
Im Kopfhörer, so zeigt die nachträgliche Erfahrung, klingt die Musik hingegen viel weniger aufdringlich und paradoxerweise gleichsam „natürlicher“. Eine Rolle spielt dabei sicher auch der grundsätzliche Unterschied beim Hören mittels Kopfhörer oder Lautsprecheranlage. Im Wohnzimmer erwartet der Klassikhörer eher eine Abbildung der Saalakustik als ein Klangtheater, bei dem er mittendrin steckt, während das Hören über Kopfhörer apriori eine eigenständige Wahrnehmungsituation darstellt, die man akzeptiert, sobald man ihn aufsetzt.
Ein immersives Klangerlebnis bescherte auch die Demonstration der Apple Classical App in einer Limousine der Mercedes-S-Klasse. In dem mit sechzehn Lautsprechern ausgestatteten Wagen fühlte man sich in einen fahrenden Konzertsaal versetzt und dachte dabei: Wer die auftrumpfende Schostakowitsch-Sinfonie nicht auf Hintergrundbeschallung herunterdimmt, wird gleich die nächste Kurve verfehlen.
Apple-Ästhetik: Globale Konsumierbarkeit
Der große, abgerundete, in allen Lagen und Lautstärken nie ungemütlich scharfe Apple-Sound, ein Markenzeichen der Klassik-App, findet auf der optischen Ebene eine Parallele in den Komponistenbildern. Diese beruhen zwar auf historischen Porträts, sind aber durch digitales Facelifting den Sehgewohnheiten der Internet-Community angepasst worden: freundliche Avatare ohne alle Ecken und Kanten.
Das einheitliche Design der Apple Classical App schafft sich seine eigene Realität und bildet die Basis jener spezifischen Apple-Ästhetik, die durch hohe technologische Standards, verbunden mit der unmerklichen Dämpfung von Widersprüchen und störenden Eigenheiten aller Art, ein Produkt über alle kulturellen und geografischen Grenzen hinweg konsumierbar macht. Für die europäische Klassik bedeutet das einen weiteren Schritt hin zu einem globalisierten Musikgenre.
Vorerst keine Musikfilme
Was eine künftige Erweiterung des Angebots in Richtung Musikfilm angeht, so hält sich Apple bedeckt. Vielleicht ist dieser Schritt längerfristig geplant, vielleicht wird Apple vor den Lizenzkosten auch zurückschrecken – diese sind entschieden höher als im Audiobereich, wo keine Synchronisationsrechte anfallen und bei älteren Aufnahmen die Interpretenrechte erloschen sind. Auch die Urheberrechte fallen kaum ins Gewicht. (Siebzig Jahre nach dem Tod eines Komponisten sind seine Werke nicht mehr geschützt, und das trifft auf fast alles zu, was auf dem Musikmarkt unter „Klassik“ firmiert.) Nachfragen in der Musikfilmbranche ergeben, dass man dort die Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit, aber ohne Aufregung beobachtet. Bei den Streamingdiensten im Audiobereich wird man das wohl anders sehen.
Eine kürzere Version diese Textes ist im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.3.2023 erschienen.
Und so wird die Apple Classical App in den USA angepriesen: