Dreißig Jahre nach der Wende wäre es an der Zeit zu fragen, was von der DDR-Avantgarde der Siebziger- und Achtzigerjahre übriggeblieben ist. Ist doch der Kultursektor nach 1989 auf ähnliche Weise abgewickelt wie die Wirtschaft; der kapitalstarke westdeutsche Kulturbetrieb integrierte einiges davon, das meiste wurde aber aussortiert und dem Vergessen überantwortet.
Zu Recht? Auf vieles, was in diesem tristen deutschen Sozialismus produziert wurde, trifft das sicher zu. Von „antiimperialistischer“ Indoktrination und stupiden, wenn auch fortschrittlich verkleideten Erziehungsparolen wie einst bei Hitler und Stalin hatten viele DDR-Bürger die Nase voll. Die etwas Wacheren unter den Komponisten fühlten sich ohnehin andauernd gegängelt. Das war umso schwerer zu ertragen, als sie das damalige Avantgarde-Paradies Bundesrepublik dicht vor der Nase hatten, aber daran nicht teilhaben durften.
Neue Musik in der DDR – das war provinzielle Enge mit „Weltniveau“. Daran änderte sich grundsätzlich auch nichts, wenn eine Autorität wie Paul Dessau sein Prestige in die Waagschale legte, um den unzufriedenen Komponistennachwuchs hin und wieder gegen sture Kulturfunktionäre zu verteidigen. Von antifaschistischen Monumenten wie Dessau oder Hanns Eisler gingen keine Zukunftssignale mehr aus. Der FDJ-Oktoberklub versuchte mit politisch korrektem Frohsinn und Ché-Romantik die überschüssige Energie der Jungen abzuschöpfen, die Funktionäre des Komponistenverbands, die der musikalischen Intelligenz den Weg zum Sozialismus weisen sollten, wurden nicht mehr ernst genommen.
Die Siebzigerjahre: Eine DDR-Avantgarde entsteht
Als dann aber in den Siebzigerjahren die Sozialistische Einheitspartei (SED) die Vorgaben für die Künstler ein wenig lockerte und sich die Losung von der „relativen Autonomie des Überbaus“ zu eigen machte, kam etwas frischer Wind auf. Nun entstand das, was unter dem Etikett „DDR-Avantgarde“ auch im Westen Aufmerksamkeit erregte: Werke, in denen die knappen Freiräume zur Entfaltung der individuellen Kreativität genutzt und sogar erweitert wurden. In ihnen manifestiert sich die für die Kunst in einer Diktatur charakteristische Dialektik von erzwungener Anpassung und verschlüsselt formuliertem Widerstand.
Zu den Protagonisten der damaligen DDR-Avantgarde zählten etwa die aufmüpfigen, mit dem Leipziger Ensemble „Neue Musik Hanns Eisler“ verbundenen Komponisten Friedrich Goldmann und Friedrich Schenker oder die Berliner Georg Katzer, Paul-Heinz Dittrich und Reiner Bredemeyer. Auch der zum Nischendasein gezwungene Individualist Christfried Schmidt und der umtriebige Udo Zimmermann gehörten dazu; beide, wie es sich für das traditionsbewusste Sachsen gehörte, mit stärkerer Ausrichtung auf das sogenannt bürgerlich-humanistische Erbe.
„Und der Zukunft zugewandt“: Zeitreise in die Vergangenheit
Dreißig Jahre sind eine kurze Zeit. Doch der Rückblick auf die DDR-Avantgarde, den das Collegium Novum Zürich unter der Leitung von Jonathan Stockhammer kurz von dem dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls Anfang November 2019 im Radiostudio Zürich unternahm, glich einer Zeitreise in eine ferne Vergangenheit. Als Titel des sechsstündigen Veranstaltungspakets diente eine Zeile aus der DDR-Nationalhymne „…und der Zukunft zugewandt …“ – eine ironische Brechung, die die zeitliche Distanz unterstrich.
Das sechsstündige Programm mit zwei Konzertblöcken, zwei Filmen und einer Podiumsdiskussion trug die Handschrift des noch in der DDR geborenen Jens Schubbe, der nach neun Jahren die Leitung des Collegium Novum abgibt und nach Deutschland zurückkehrt, um bei der Dresdner Philharmonie als Dramaturg zu arbeiten. In Dresden wurde das Konzert kurz danach, am geschichtsträchtigen Datum des 9. November, in leicht geänderter Form wiederholt.
Er möchte mit diesem Projekt ein Bewusstsein für Historizität schaffen, sagte Jens Schubbe. Seine Idee: Eine über Jahrzehnte gewachsene Kulturlandschaft sollte trotz ihren eklatanten Problemen und Widersprüchen nicht einfach im Orkus der Geschichte verschwinden. In seiner Rolle als Archäologe der jüngsten deutschen Vergangenheit förderte er nun einige hörenswerte Fundstücke zutage.
Streitlust, Expansionsdrang und Abgesang
Stellvertretend für das Schaffen der damaligen DDR-Avantgarde kamen in Zürich drei bedeutende Werke zur Aufführung. Die Kammermusik II von Paul-Heinz Dittrich von 1973, ein energiegeladener, streitbarer Dialog zwischen Tonband und kleinem Ensemble, enthält mit denaturierten Klängen, Mikrotönen und bedingungslos subjektivem Tonfall alles, was in der DDR damals noch als westliche Dekadenz galt. La fabbrica abbandonata III von Georg Katzer von 2010 ist eine postmoderne Antwort auf Luigi Nonos revolutionäre Komposition „La fabbrica illuminata“ und zugleich ein symbolstarker Abgesang auf ein bankrottes Gesellschaftssystem. Das Stück basiert auf einem Text von Wolfgang Hilbig aus den Siebzigerjahren, der den industriellen Zerfall in der DDR in eine gespenstische Untergangsvision packt. Der lange erste Teil ist ein beschreibendes Monodram (Sprecher: Peter Schweiger), der Schluss mit seiner exponierten Sopranpartie ein Stück surreale Poesie (mit akrobatischer Präzision: Catriona Bühler).
Als drittes Werk erklang die Sonata a quattro, komponiert 1989 von Friedrich Goldmann. Das Stück für viermal vier Instrumente exponiert die Instrumentenfamilien Holz- und Blechbläser, Streicher und Schlagzeug in ihrer spezifischen Klanglichkeit und mischt sie schrittweise zu immer neuen Konstellationen. Der latente Formalismus dieser Anordnung wird konterkariert durch eine Vielzahl an Farben und orgiastische Tuttimomente. Mit seinem raumgreifenden Gestus nimmt das Werk deutlich hörbar Abschied von der Enge der Vergangenheit.
Desertiert in Boswil
Einer, dem das bisschen Freiraum nicht reichte, war Wilfried Jentzsch. Er nutzte 1973 einen Aufenthalt im schweizerischen Künstlerhaus Boswil, damals einer der wenigen westlichen, von den SED-Kulturoberen akzeptierten Auftrittsorte für die DDR-Avantgarde, um sich aus dem Arbeiter- und Bauernparadies zu verabschieden. Nun war er in Zürich zu Gast und schilderte im Gespräch mit Jens Schubbe und Johannes Knapp anschaulich die damalige Situation und die Beweggründe der Flucht.
Jentzsch verzichtete auf die existenzsichernde Einbettung in den von der Partei über die Berufsverbände kontrollierten Musikbetrieb und auf Zusammenarbeit mit sogenannten Kulturbrigaden in den Fabriken – die Partei hatte das unter der Bezeichnung Bitterfelder Weg zur kulturpolitischen Richtlinie gemacht – und schlug sich lieber auf dem freien Markt im Westen durch. In Paris kam er in Kontakt mit Xenakis und begann elektronische Musik zu komponieren.
Dann, nach der Wende, die Heimkehr in ein fremdes Land, das doch irgendwie noch das alte war: Die Musikhochschule Dresden berief ihn zum Leiter des Elektronischen Studios. Von Jentzsch wurde in Zürich die Komposition Tamblingan für elektronische Klänge und Videoprojektion vorgestellt, in der digitale Klangsignale und abstrakte Pixelbilder korrelieren.
Surreale Bilder aus einer freudlosen Gesellschaft
Zwei Filme des 2017 verstorbenen DDR-Filmemachers Frank Schleinstein ergänzten das Programm. „Erdspiel“ (1990) – das „r“ im Titel ließe sich auch durch ein „n“ eretzen – ist ein beklemmender Rückblick auf eine freudlose Gesellschaft. Nachkriegselend, marode Industrielandschaften, eine sterile Öffentlichkeit und die Suche des Ichs nach einem lebenswerten sozialen Ort werden zu surrealen Bildfolgen verdichtet.
Ein Porträtfilm über Friedrich Goldmann gibt trotz mancher Mängel – oft wurden einfach Tonbandinterviews mit Bildern unterlegt – einen guten Einblick in die damalige Kulturszene. Auch Prominenzen kommen zu Wort. Die Regisseurin Ruth Berghaus erzählt etwa, dass bei Goldmann oft Musiker verkehrten, die sich in ihrem Land „nicht wohl fühlten“. Sie nennt Henze und Nono, unterschlägt aber, ganz Nomenklatura-nahe Künstlerin, die Komponisten im eigenen Land.
„Wir da oben, ihr da unten“: Das war eben auch im Sozialismus nicht unbekannt.