Die Dickinson Collection: Das sind Notenautographe, Drucke, Briefe und mehr von Robert und Clara Schumann und anderen. Die Musikwissenschaftler Jürgen Thym und Ralph P. Locke haben die wertvolle Sammlung vor über 45 Jahren an einem See im Upstate New York ausfindig gemacht und schildern nachfolgend die Umstände ihrer Entdeckung.
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Wir sind vielleicht die einzigen Musikwissenschaftler, die es in die Seiten des National Enquirer geschafft haben, ein wöchentlich erscheinendes Blatt, das etwa mit der deutschen Bild-Zeitung und anderen Erzeugnissen der Boulevardpresse verglichen werden kann; das Blatt war schon damals und ist noch heute eine Skandalberichten zugeneigte Zeitung und gewiss kein Ort, an dem man musikwissenschaftlich zu Ehren kommen kann. Die Geschichte unserer Forschung Ende der 1970er Jahre, die uns, wenn auch nur ganz kurz, skandalträchtige Berühmtheit verschaffte, möchten wir mit interessierten Lesern teilen.
Es ist mehr als 45 Jahre her, dass wir — zwei Assistenzprofessoren an der Eastman School of Music der University of Rochester und mit dem Spürsinn der Jugend ausgestattet — von einer angeblich wichtigen Sammlung von Schumann-Memorabilien (Robert und Clara) hörten, die irgendwo südlich von Rochester, NY, in der Gegend der Fingerseen in einem Dornröschenschlaf dahindämmerte. Kurze Erwähnungen und Gerüchte drangen gelegentlich an die Oberfläche, doch niemand in unserem Freundes- und Kollegenkreis hatte diese Dickinson Collection je gesehen oder konnte mit Autorität über ihren Inhalt berichten. Sie war ein Phantom, irgendwie hatte sie mit einer nicht mehr existierenden “Schumann Memorial Foundation” zu tun, die in den 1950er Jahren in Rochester Konzerte veranstaltet hatte mit dem gut gemeinten Ziel, “Weltfrieden durch Musik” herbeizuführen.
Lethargie und Gleichgültigkeit in der Stadt und Umgebung, dann aber auch der verständliche Wunsch der Sammler Edward und June Dickinson, ihre Privatsphäre zu bewahren, hatten frühere Versuche behindert, den Schleier der Mysteriosität zu lüften. Unsere vereinten Energien und unser gemeinsamer Enthusiasmus waren vonnöten, um June Dickinson – ihr Ehemann war wenige Jahre vorher gestorben – davon zu überzeugen, dass eine Bestandsaufnahme, den Inhalt und Wert ihrer reichhaltigen und wenig organisierten Sammlung betreffend, durch uns durchaus in ihrem Interesse lag. Nachdem Rechtsanwälte ihr Plazet gegeben hatten, erhielten wir die Erlaubnis, die Dickinson Collection einzusehen und zu katalogisieren.
Als wir mit unserer Arbeit begannen, wussten wir nicht, was uns erwartete. Wir durften nur vor Ort arbeiten und, nach Rochester zurückgekehrt, unsere Notizen mit den bibliographischen Nachschlagewerken vergleichen, die an der weltbekannten Sibley Music Library der Eastman School of Music vorhanden waren. Es war ein mühsamer Prozess. Die Autobahn I-390 (auch Genessee Expressway genannt), die heutzutage Rochester mit seiner ländlichen Umgebung im Süden verbindet, gab es damals noch nicht, und wir mussten den Weg zu unserer Forschungsstelle über langsame, wenn auch reizvolle Landstraßen finden. Dort erwartete uns Wotan, ein wütend bellender Schäferhund (kurz “Woty” genannt und, wie wir erfuhren, von bester Rasse mit Stammbuch!), der so begeistert über unser Eintreffen war, dass er sofort ins Wohnzimmer kackte. Leider war ihm Stubenreinheit nicht antrainiert worden, und seine Herrin war genötigt, zwei Wochenzeitungen zu subkribieren, den schon erwähnten National Enquirer und die Sonntagsausgabe der New York Times (letztere mit sehr viel Papier), um Wotys Mängeln entgegenzusteuern. Der Geruch war manchmal so überwältigend, dass einer von uns auf der mit Fliegengittern ausgestatteten Veranda Platz nahm, um Sauerstoff zu tanken und sich von Ekelanfällen zu erholen, während der andere drinnen eine eher heldenhafte Rolle einnahm.
Die Szene auf dem folgenden Bild ist kein Schnappschuss. Sie wurde nachträglich (1980) für einen Photographen “inszeniert”, doch keine Papierbündel (hier sind wir uns ganz sicher) wurden dafür ins Bild geschoben. Die Szene ist authentisch.
Sahen wir die Sammlung? Ja. Und unsere Bemühungen zahlten sich reichlich aus: Die Materialien befanden sich in sechs verrosteten Behältern, einige von ihnen von Feuchtigkeit durchzogen und mit einer Kolonie von Silberfischchen ausgestattet. Das Dach des Hauses über dem Raum, in dem die Behälter lagerten, war undicht, und Regentropfen hatten über Jahre hindurch die Metalldeckel attackiert.
Es war ein Albtraum für Archivare, aber ein Traum für Musikwissenschaftler: Was wir sahen, war Wirklichkeit. Die Dickinson Collection bestand aus Manuskripten, gedruckten Partituren und Memorabilien von Robert und Clara Schumann (einschließlich einer Brosche, einem Siegelring und einer Haarlocke), und sie enthielt autographe Partituren und eine Masse autographe Briefe. Doch die Sammlung war nicht auf die Schumanns beschränkt. Es gab Briefe von Felix Mendelssohn, Sigismund Thalberg, Ignaz Moscheles, Franz Liszt, Johannes Brahms und anderen.
Eine Welt tat sich für uns auf: Musik in Europa um 1850. Vor langer Zeit verstorbene Musiker sprachen zu uns über hochfliegende und triviale Dinge, in oft anrührend persönlicher Weise. Wir entdeckten Varianten in Kompositionen, die es uns erlaubten, den Werdegang eines Musikstückes zu verfolgen. Und wir hatten die Möglichkeit, durch Korrespondenz, Quittungen und Notizen von Autographenhändlern die häufig erratischen Wege so mancher Manuskripte zu verfolgen, bis sie schließlich in rostigen Kisten in einer Hütte am Ufer des Conesus-Sees landeten. Viele Teile der Sammlung waren direkt von zwei Enkeln von Robert und Clara Schumann erworben worden: von Ferdinand Schumann, der in der damals russisch-besetzten Zone Deutschlands, der späteren DDR, lebte, und von Robert Sommerhoff, der nach Amerika ausgewandert war und eine Hühnerfarm in Ancrandale, NY, nahe der Grenze zu Connecticut, besaß.
Teamwork war bei diesem Forschungsprojekt wichtig: Wir wechselten oft die Plätze, nicht nur um frische Luft zu atmen, sondern auch um June Dickinson zuzuhören (denn sie hatte viele Geschichten zu erzählen), während der andere, an einem kleinen Tisch sitzend, sich darauf konzentrieren konnte, Informationen zu sammeln. Das Wochenendhaus ist mittlerweile durch einen Neubau ersetzt worden.
Das nachfolgende Foto gibt einen Überblick über die Geographie unseres Forschungseifers: Lakeville, NY (am unteren Bildrand), liegt am nördlichen Ende des Conesus Lake , Lake View Road ist anfangs sichtbar ganz links; die Straße führt in südlicher Richtung zu dem Wochenendhaus, in dem sich die Schumann-Materialien befanden, kurz vor der ersten sich in den See erstreckenden Halbinsel.
Unsere Recherchen erstreckten sich über mehrere Monate und fanden meistens an Samstagen, wenn wir nicht unterrichteten, und unter schwierigen Umständen statt. Doch schließlich konnten wir unsere Ergebnisse in Vorträgen präsentieren: 1979 bei einem Regionaltreffen der American Musicological Society (AMS), New York-St. Lawrence Chapter, in Toronto und 1980 bei dem nationalen Treffen der AMS in Denver.
Eine erste schriftliche Veröffentlichung der Ergebnisse erfolgte 1980 unter dem Titel New Schumann Materials in Upstate New York: A First Report on the Dickinson Collection, with Catalogues of its Manuscript Holdings in Fontes Artis Musicae, dem Journal der International Music Library Association. Dieser mit einem Katalog versehene Aufsatz half uns möglicherweise in unserer akademischen Laufbahn, aber er half sicherlich auch, die Dickinson Collection bekanntzumachen und ein Interesse bei manchen Institutionen zu wecken, die Sammlung in ihrer Gesamtheit oder in Teilen zu erwerben.
Der Druck zum Verkauf intensivierte sich, als der National Enquirer – die “andere” Zeitung, die June Dickinson abonniert hatte – einen Aufsatz veröffentlichte, der mehr oder weniger der Wahrheit entsprach, aber durch seine alliterative Schlagzeile nichts Gutes für die Besitzerin der Sammlung verhieß: “Widow Worth $Million Is Living on Welfare” (auf Deutsch etwa: „Millionenschwere Witwe lebt von Sozialhilfe“). Sie – nicht wir – hatte den National Enquirer auf ihre Sammlung aufmerksam gemacht, um mehr Publizität für sich zu erlangen, als es eine Fachzeitschrift für Musikbibliothekare, dazu noch eine mit lateinischem Namen, konnte.
Auf einmal wurde June Dickinson von den Bewohnern ihres Ortes des Sozialhilfebetrugs angeklagt. Der Druck, einen Käufer für ihre Sammlung zu finden, war beträchtlich, und unser Katalog half dabei, Interessenten zu gewinnen, denn die Dickinson Collection war nun nicht länger ein Phantom, sondern Wirklichkeit. Josef Kruse, der Leiter des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf, machte das Rennen, auch mit Hilfe von Geldern der Westdeutschen Landesbank.
Wenige Monate nach dem Transfer der Materialien brannte die Hütte an der East Lake Road nieder. June Dickinson entkam dem Verhängnis mit kleinen Verbrennungen. (Ach, das kleine Hündchen, das Woty nachgefolgt war, hatte weniger Glück.) Der Erlös der Sammlung erlaubte es June Dickinson, ein neues Haus auf einem Hügel mit Blick auf den Conesus-See zu bauen und die letzten Jahre ihres Lebens sorgenfrei zu verbringen. Dies in der Gewissheit, dass die Materialien, die sie und ihr Ehemann Edward vor Jahrzehnten gesammelt hatten, sich nun an einem sicheren Ort befanden und in Zukunft für Musiker, Forscher und Interessenten verfügbar sein würden.
Rückblickend können wir sagen, dass unsere Schatzsuche vor mehr als 45 Jahren eine der farbenreichsten Episoden unserer beruflichen Laufbahn gewesen ist. Wir sind dankbar, dass wir dabei helfen konnten, eine bedeutende Sammlung von Materialien für die Nachwelt zu erhalten und dass die Dickinson Collection denen, die nach uns kommen, einen Einblick davon gibt, was Robert und Clara Schumann und andere Musiker ihrer Generation geleistet haben.
Postscriptum:
Ein besonderer Schatz aus der Dickinson Collection, der Schwanenpelz von Clara Schumann, erhielt Ende 2023 in der Online-Enzyklopädie Wikipedia einen Eintrag, der über die Herkunft des Kleidungsstückes Auskunft gibt und eine Beschreibung mit Bildern enthält.
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Der vorliegende Text wurde erstmals am 13. Oktober 2022 in englischer Sprache in Musicology Now (Blog der American Musicological Society) unter dem Titel The Dickinson Collection: Adventures in Musicological Research veröffentlicht. Er erscheint hier erstmals auf Deutsch (Übersetzung: Jürgen Thym).