Dass Franz Liszt im letzten Drittel seines Lebens vorwiegend geistliche Werke komponiert hat, mag nur diejenigen überraschen, die in ihm bloß den überragenden Klaviervirtuosen und von Frauen umschwärmten Salonlöwen sehen. Doch zwei Dinge sollte man nicht vergessen: Er war katholisch erzogen worden und führte als romantischer Künstler ein Leben zwischen den Extremen. Hier das glanzvolle öffentliche Dasein des gefeierten Solisten, dort die Neigung zur religiösen Innerlichkeit und zur Beschwörung des Numinosen. Bereits 1827, als er sechzehn Jahre alt war, entlud sich diese Spannung auf katastrophische Weise. Als Wunderkind war er jahrelang bis zur Erschöpfung durch die Konzertsäle Europas gejagt worden, und nun erlitt er wegen dem Tod seines Vaters und der aus Standesgründen erzwungenen Trennung von seiner adligen Jugendliebe einen Zusammenbruch. Er fiel in eine tiefe Depression und wollte Priester werden.
Konzertsaal und Sakralraum
Aus der Krise geholt wurde er durch den Weckruf der Revolution von 1830 und, ein Jahr später, durch die Begegnung mit Niccolò Paganini in Paris; dessen atemberaubende Geigenkünste spornten ihn an, dasselbe auf dem Klavier zu verwirklichen. Nun setzte seine jahrzehntelange glamouröse Karriere ein, in deren Verlauf er zum absoluten Herrscher in den europäischen Konzertsälen und zum Anbetungsobjekt der vornehmsten Frauen wurde.
Eine davon war Gräfin d’Agoult, eine andere Carolyne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein. Diese verließ 1848 ihren Mann und zog zu Liszt nach Weimar. Unter ihrem Einfluss erwachte seine latente Religiosität zu neuem Leben, und bereits 1848 schrieb er eine Messe für vierstimmigen Männerchor und Orgel. 1856 folgte dann die groß dimensionierte Missa solemnis zur Einweihung der Basilika in Esztergom („Graner Messe“).
Einen tiefen Einschnitt in Liszts Leben und Schaffen markiert die gescheiterte Eheschließung von 1860. Das in „wilder Ehe“ lebende Paar reist nach Rom, um dort vom Papst die Erlaubnis zur Heirat zu bekommen, doch wird sie in letzter Minute durch den Einspruch von Mitgliedern der fürstlichen Familie hintertrieben. Trotzdem lassen sie sich in Rom nieder, Carolyne widmet sich dem Verfassen religiöser Schriften, Franz Liszt wird vom römischen Adel hofiert und konzertiert vor dem Papst. Aber nun setzt bei dem Paar eine schleichende Entfremdung ein, Liszt wird zum sündigen Büßer und lässt sich 1865 zum Abbé weihen (ein niedriger geistlicher Rang ohne zölibatäre Verpflichtung). Die Entwicklung schlägt sich auch in seiner Musik nieder.
Franz Liszt und der Cäcilianismus
Noch entstehen einige repräsentative Werke wie die Oratorien „Die Legende der Heiligen Elisabeth“ (1862) und „Christus“ (1872) und die „Ungarische Krönungsmesse“ (1867). Doch im Zentrum seines Schaffens stehen nun kleinere Formen. Sie wirken wie Selbstgespräche und spirituelle Exerzitien eines zunehmend einsamen Menschen, vereinfacht in der Gestik, zurückgenommen im Ausdruck und mit resignativem Unterton.
Überlagert werden solche persönlichen Charakterzüge durch die Übernahme stilistischer Merkmale des Cäcilianismus. Diese Reformbewegung in der katholischen Kirchenmusik propagierte den a-capella-Chorsatz von Palestrina als ästhetisches Ideal. Der Kirchenmusiker Franz Xaver Witt, einer der Initiatoren des 1868 in Bamberg gegründeten „Allgemeinen Cäcilien-Verbands für Deutschland“, wurde von Liszt aktiv unterstützt.
Was angesichts dieser Voraussetzungen nicht unbedingt zu erwarten ist: Auf der Ebene von Musiksprache und Kompositionstechnik tritt in Liszts Werken nun plötzlich ein experimenteller Zug hervor. Er verwendet neuartige Skalen und tastet mit seiner Harmonik die Grenzen des Dur-Moll-Systems ab, seine Formen erhalten durch die Kürze der Stücke und die offenen Schlüsse etwas Fragmentarisches. Die historischen Rückbezüge gehen über Palestrina weit hinaus und verweisen mit ihrem archaisierenden Habitus auf gregorianische Vorbilder. Solche Merkmale zeigen sich in unterschiedlicher Ausprägung sowohl in seinen geistlichen Vokalkompositionen als auch in seinen späten Klavierstücken.
„Ave verum corpus“: Alles im Dienste der Verinnerlichung
In „Ave verum corpus“, komponiert 1871 für vierstimmigen Chor und Orgel ad libitum, drückt sich die Zurücknahme der Mittel in einem schlichten, homophonen Satz aus. Der Text des mittelalterlichen Reimgebets wird syllabisch vertont. Mit der äußeren, am Cäcilianismus orientierten Schlichtheit kontrastieren die raffinierten Gestaltungsmittel. Sie modellieren die Form auf diskrete Weise und tragen zur Intensivierung der Textaussage bei.
So etwa zu Beginn des zweiten und dritten Verspaars: Der um einen Takt vorgezogene Einsatz des Basses hebt den Text an diesen Stellen („vere passum“, „cujus latus“) hervor und erzeugt zugleich mit den drei anderen Stimmen eine herbe Dissonanz. Die beiden Verspaare bilden in ihrer Abfolge eine Sequenz, die auf den Ausdruckshöhepunkt des Stücks hinsteuert: „Esto nobis praegustatum in mortis examine!“ („Sei uns Vorgeschmack in der Prüfung des Todes!“). Danach wird der Energiepegel in wenigen Schritten wieder abgebaut. Mit diesem Spannungsverlauf, der die Rhetorik des Texts sinnfällig nachvollzieht, entsteht eine Bogenform, die das ganze Gebet wie unter einem einzigen weiten Atem zusammenfasst.
Der intime Charakter des kurzen Stücks wird unterstrichen durch eine schwebende Harmonik, die den Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz verschwimmen lässt. Es beginnt harmonisch indifferent mit einem Sextakkord, und am Schluss schleicht sich die Musik über Nebenstufen und chromatische Gänge an den finalen D-Dur-Akkord gleichsam heran. Eine klare Kadenzierung wird vermieden. In der sensiblen Gestaltung der Details und des harmonischen Verlaufs verrät dieses kurze Stück die Hand des großen Meisters, der die rhetorischen Künste, mit der er früher als Virtuose ganze Säle in Bann schlug, nun ganz in den Dienst der Verinnerlichung stellt.
„Via crucis“: Mit 50 Jahren Verspätung uraufgeführt
Von größerer Dimension ist das Chorwerk „Via crucis“, eine musikalische Darstellung des Kreuzwegs Christi in 14 Stationen, und auch hier gibt es die fruchtbare Spannung zwischen äußerer Zurücknahme und raffiniert eingesetzten kompositorischen Mitteln. Franz Liszt schrieb das Werk 1878/79 für Soli, Chor und Klavier; später erstellte er daraus noch eine rein instrumentale Fassung für Klavier zu vier Händen und sah beim Chorwerk auch Orgel statt Klavier vor.
Er erhoffte sich eine größere Verbreitung des Werks und dachte sogar an eine Freilichtaufführung mit tragbarer Orgel auf den Stationen des historischen Kreuzwegs in Rom. 1884 bot er es dem Regensburger Cäcilien-Verlag Pustet zum Druck an, doch der lehnte ab; auch der dem Verlag zuarbeitende Kirchenmusiker Witt, mit dem Franz Liszt bis dahin in regem Austausch gestanden hatte, ging auf Distanz. Misstrauten die frommen Cäcilianer dem zum Abbé gewandelten Tastenzauberer von einst aus moralischen Gründen? Störten sie sich an der undogmatischen Textauswahl? Oder passte die Musik einfach nicht in ihr cäcilianisches Schema?
Franz Liszt vermutete dunkle Gründe und hielt fest: „Man verkauft dort meine Partituren nicht. Was mich aber nicht hindert, denen von Witt, Haberl etc. Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und wenn immer möglich zur Propagierung der deutschen Cäcilien-Gesellschaft beizutragen. In bestimmten Fällen gilt weiterhin meine Regel: ‚Ich handle nicht so wie Sie handeln’.“ Zur Uraufführung kam das Werk erst an Karfreitag 1929 in Budapest.
Synthese kompositorischer Verfahren
Die Texte zu „Via crucis“ stammen aus dem spätantiken Hymnus „Vexilla regis“ von Venantius Fortunatus, aus den Evangelien und aus dem mittelalterlichen „Stabat Mater“, außerdem wurden von Liszt die barocken Kirchenlieder „O Haupt voll Blut und Wunden“ und „O Traurigkeit, o Herzeleid“ in nur leicht veränderter Gestalt gleichsam in den Gesamtzusammenhang hineinmontiert.
Musikalisch werden im Werk Materialien und historischen Referenzen unterschiedlichster Art zur Synthese gebracht. Die kompositionstechnischen Neuerungen sind nicht zuletzt auf dem Gebiet der Harmonik zu finden, so etwa im Neben- und Ineinander von Kirchentonarten und zeitgenössischer Chromatik in der ersten „Station“. Der Abschnitt beginnt mit einem kraftvollen Unisono in äolischem Moll, dann folgt ein solistischer Teil mit modulierendem Charakter, der am Schluss über ein kühne enharmonische Rückung von Ges-Dur nach fis-Moll zum Ausgangspunkt D zurückkehrt.
In den folgenden „Stationen“ sind vor allem die instrumentalen Vor- und Zwischenspiele Schauplatz von Gratwanderungen am Rande der Tonalität. In ihnen wimmelt es nur so von übermäßigen Dreiklängen und Ganztonleitern, unaufgelösten Dissonanzen, numinosen Akkordverbindungen und chromatisch freischwebenden Melodien.
Die Exkursionen in Neuland sind nie Selbstzweck, sondern dienen als Ausdrucksmittel umstandslos der Textausdeutung, wie auch die formale Dramaturgie, die die musikalisch extrem unterschiedlichen Teile zu einem Ganzen bindet, ein einziges Ziel verfolgt: das Kreuzweg-Geschehen auf allgemein fassliche Weise nachzuzeichnen. Als globales Gestaltungsmittel fungiert schließlich die Zeitstrukturierung: Mit den vielen Pausen, den ins Nichts mündenden Melodielinien, den Sequenzierungen und Ostinatofiguren in den langsamen Tempi wird die Zeit gedehnt, an manchen Stellen bis zur Unerträglichkeit. Der Hörer wird damit auf sich selbst zurückgeworfen, Musikwahrnehmung mündet in Kontemplation.
Programmhefttext zum Konzert vom 22. Juli 2018 bei den Salzburger Festspielen (pdf)