Die Klangspuren Schwaz trotzen dem Weltuntergang

Das Tiroler Festival Klangspuren Schwaz hat sich im Vierteljahrhundert seines Bestehens zu einem Hotspot der zeitgenössischen Musik entwickelt. Seit vielen Jahren ist das Frankfurter Ensemble Modern aktiver Partner; es gibt Konzerte und unterrichtet in der International Ensemble Modern Academy den Nachwuchs. Renommierte Komponisten und erstklassige Interpreten geben sich die Klinke in die Hand.

Beim Eröffnungskonzert der Klangspuren 2019 gab es nun eine Schrecksekunde, in der es kurz so aussah, also ob das alles den Bach respektive den Inn hinuntergehen würde. Das diesjährige Festivalmotto hieß „Risse“, und damit niemand auf den dummen Gedanken käme, es hätte etwas mit der Riss-Eiszeit vor dreihunderttausend Jahren zu tun, schreckte der neue Festivalleiter, der Wiener Musikwissenschaftler und Journalistenkollege Reinhard Kager, in seiner kurzen Eröffnungsrede das Publikum mit einer apokalyptischen Vision auf: Der Riss geht mitten durch Umwelt und die Gesellschaft! Der Globus steht kurz vor dem Hitzekollaps! Der Amazonas brennt ab, die Dritte Welt versinkt im Elend, im nahen Deutschland wütet die AfD! Und wer ist schuld am globalen Exitus? Natürlich der Kapitalismus. Es klang, als ob er sagen möchte: Da habt ihr’s nun, ihr realitätsblinden Optimisten!

Wiener Weltuntergangsstimmung versus Tiroler Lebenslust

Gretas Panik schwappte mit der Wucht eines Tsunami ins Tirol. Klangspuren SchwazAls Illustration dazu hatte es im Vorprogramm eine Klanginstallation gegeben, in der zum üblichen Computerrauschen Zinsentwicklungen und Börsenindexe auf Folien projiziert wurden.

Von der wienerischen Liebe zum Weltuntergang lässt sich ein bodenständiger Tiroler freilich nicht so leicht anstecken. Nach Kager ergriffen die Verantwortlichen aus den Kulturämtern in Schwaz und Innsbruck das Wort. Mit einer heute nicht mehr selbstverständlichen Bereitschaft, ja mit Begeisterung bekannten sie sich in ihren Grußworten zur Zukunft des Festivals. Die Klangspuren Schwaz werden nun offenbar in den Rang eines landesoffiziellen Kulturevents erhoben. Schon in diesem Jahr fanden etliche Konzerte auch im neuen, architektonisch und – mit Ausnahme der Lüftungsgeräusche – funktional hervorragend gelungenen Haus der Musik in Innsbruck statt.

Hoffnung auf die heilende Wirkung der neuen Musik

Keine Apokalypse ohne einen Hoffnungsschimmer. Laut Programmheft soll diese Rolle heute der Musik zufallen – sie könnte vielleicht eine Wandlung des Denkens bewirken und das Zerrissene wieder zusammenfügen. Das Eröffnungskonzert mit dem Tiroler Symphonieorchester Innsbruck unter der Leitung von Lothar Zagrosek sollte dazu den Beleg liefern.

Drei der vier Werke waren schon älteren Datums: Luigi Nonos „Canti di vita e d’amore“, ein Musterbeispiel für das utopisch-politische Denken der frühen Sechzigerjahre, dessen exponiertes Vokalsolo im Mittelstück von Anu Komsi mit berückender Ruhe vortrug, Olga Neuwirths etwas unschlüssig wirkende Komposition „anaptyxis“ von 2000 sowie das 2012 vollendete Orchesterstück „void – kol ischa asirit“, in dem Claus Steffen Mahnkopf aus den tödlichen Abzählritualen der SS in Auschwitz den Honig für eine keimfreie, blitzblank herausgeputzte Großform saugt.

Der Blick in die Vergangenheit war gerade beim selten zu hörenden Werk von Nono aufschlussreich, und zugleich machte er auf die Defizite heutiger politischer Musik aufmerksam, wo die ästhetische Reflexion tendenziell zur vordergründigen Parolenbewirtschaftung verkommt. Damit richtete sich die ganze Aufmerksamkeit auf das vierte Werk des Abends, die erst zwei Jahre alte Komposition „woher…wohin“ von Mark Andre, dem Composer-in-Residence des Festivals.

Klangspuren Schwaz
Klangspuren Schwaz: Lydia Jeschke im Gespräch mit Mark Andre.
Mark Andre, Komponist zwischen Dingwelt und Transzendenz

Andre, eine wichtige Stimme in der Gegenwartsmusik, will seine Musik ausdrücklich als religiös verstanden haben, und in „woher…wohin“ unternimmt er eine klingende Exegese eines Johannesverses, nach Luther: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.“ Die transzendente Bedeutung dieser Aussage illustriert er mit raffiniert eingefärbten Geräuschprozessen, hingehauchten Bläserklängen und dem Rauschen des mehrfach eingesetzten Schwirrholzes. Die dritte der sieben Orchesterminiaturen überrascht mit einer Paraphrase des katastrophischen Marschs aus Anton Weberns Orchesterstücken op. 6, doch wie immer in solchen Fällen erweist sich das Original stärker als die Kopie.

Spricht aus diesen Miniaturen ein religiöses Heilsversprechen oder politischer Protest? Die musikalische Semantik ist bekanntlich mehrdeutig, und wenn der adornitisch belesene Veranstalter Kager die von Andre behauptete Transzendenz flugs in politische Utopie umdeutet, dann liegt er vermutlich nicht ganz falsch. Beides ist möglich, aber beides ist auch ein ideologischer Ballast, der die unerhört bewegliche, quicklebendige Musik unnötig beschwert.

Die leisen Zweifel an Andres Transzendenzbegriff werden auch vom Zeitverlauf in seiner Musik genährt. Trotz der Diskontinuität der Ereignisse schleicht sich der Eindruck eines linearen Zeitablaufs und einer gewissen Ruhelosigkeit ein. Der Weg an die versprochenen Grenzen der Wahrnehmung ist von zahllosen glitzernden, still leuchtenden und gelegentlich auch krachenden Klangpreziosen gesäumt, bei denen das Ohr bewundernd verweilen möchte, aber vom Zeitstrom unerbittlich mitgezogen wird. Im Vergleich zur buddhistischen Leere eines John Cage oder den katholischen Emanationen eines Olivier Messiaen erscheint diese unablässig aktive Musik wie ein Ausdruck der auf die tätige Veränderung des Diesseits gerichteten protestantischen Arbeitsethik.

Starke Hörerlebnisse mit dem Ensemble Modern

Der Mut, die reichgestaltige und keineswegs leicht verständliche Musik dieses Komponisten einmal in großer Breite vorzustellen, ist den Klangspuren Schwaz hoch anzurechnen. Ganz oben stand dabei das Konzert des Ensemble Modern, das unter der Leitung von Michael Wendeberg die Kompositionen „riss“ Nr. 1 bis 3 in einer schlechthin unüberbietbaren Präzision, souverän in der Gestaltung und kristallklar im Detail, vortrug.

Bei aller Vielfalt im Detail besitzt die rund einstündige Trilogie aufs Ganze gesehen einen monochromen Charakter, doch mit der nicht nachlassenden Gestaltungskraft bot sie ein faszinierendes Hörerlebnis. Sie ist inzwischen auf CD erschienen, so dass man sich von der Qualität sowohl der Werke als auch der Interpretation durch das Ensemble Modern überzeugen lassen kann.

Ensemble Modern bei den Klangspuren Schwaz 2019
Das Ensemble Modern mit dem Dirigenten Michael Wendeberg nach der Aufführung der „riss“-Trilogie bei den Klangspuren Schwaz
Aber wo bleibt Weltuntergang?

Das Ensemble, das seine Academy bei den  Klangspuren Schwaz inzwischen seit über einem Jahrzehnt durchführt, unterrichtete diesmal dreiunddreißig Studierende aus achtzehn Nationen. Auch hier standen die instrumental anspruchsvollen Werke von Mark Andre im Zentrum. Dass die Teilnehmer in das Konzertprogramm eingebunden sind, macht das Festival zu einen Ort der kreativen Weitergabe von Wissen und instrumentalem Können. Mit einer zweiten Aufführung einer der „riss“-Kompositionen demonstrierten sie unter der Leitung von Rupert Huber ihr erstaunlich hohes Niveau, in einem kaleidoskopisch aufgebauten Wandelkonzert in den Räumen des Innbrucker Hauses der Musik präsentierten sie sich kammermusikalisch, außerdem waren sie mit einer Kollektivimprovisation zu hören. Bei den Klangspuren Schwaz wird nachhaltig an der Zukunft der Musik gearbeitet. Der Weltuntergang kann noch ein bisschen warten.

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