Die sechs Klaviersonaten von Galina Ustwolskaja entstanden in einem Zeitraum von über vierzig Jahren, bilden aber aufgrund mancher Gemeinsamkeiten doch einen Zyklus. Die Komponistin wehrte sich jedoch entschieden gegen klischeehafte Eigenschaften, die an ihre Werke herangetragen wurden. „Ich habe es oft wiederholt und bitte sehr darum: Es ist besser, nichts über meine Musik zu schreiben als immer wieder das gleiche – sei sie kammermusikalisch, kammermusikalisch, religiös und noch einmal religiös.“ Das Warnschild stellte Galina Ustwolskaja 1994 auf, als sie, sichtlich genervt, über die Rezeptionsmechanismen sprach, denen ihre Werke unterlagen.
Zum einen spielte sie damit auf das Etikett „Religion“ an, das ihren Werken stets aufgeklebt wurde; der Begriff hat für die Russen ein weites Bedeutungsfeld und ist für westliche Beobachter offen für Missverständnisse. Zum anderen wehrte sie sich gegen eine Gleichsetzung von instrumentaler Besetzung und Gattungstradition, was verständlich erscheint angesichts der Tatsache, dass ihre ausgefallenen Instrumentenkombinationen mit traditioneller Kammermusik oft nicht mehr das Geringste zu tun haben. Ihr Einspruch zielte in beiden Fällen auf Rezeptionsklischees und ist deshalb ernst zu nehmen.
Anders hingegen ihre Bemerkung, man möge doch bitte von einer Analyse ihrer Werke absehen. Damit wollte sie offenbar suggerieren, ihre Musik sei aufgrund ihrer spirituellen Botschaften unantastbar und würde durch eine Analyse gleichsam entweiht. Doch Mystifizierung ist hier ebenso unangebracht wie im ähnlich gelagerten Fall von Arvo Pärt. Bei beiden steckt nämlich hinter der spirituellen Aura viel kompositorisches Kalkül, was zu einer rationalen Herangehensweise geradezu herausfordert.
Versteckte Traditionsbezüge
Das gilt auch für die sechs Sonaten für Klavier von Galina Ustwolskaja. Sie sind nicht vom Himmel gefallen, und trotz ihrer unkonventionellen Machart gibt es in ihnen zahlreiche Referenzen auf die nähere und fernere Vergangenheit. Etwa auf das, was das ausgehende 16. Jahrhundert, nach dem lateinischen Wort „sonare“ für „klingen“, unter „Sonata“ verstand: ein allgemeines Instrumentalstück für variable Besetzung.
Und tatsächlich wirken diese Sonaten mit ihrer nackt zutage tretenden Struktur stellenweise wie Klavierauszüge reich instrumentierter Werke. Auch sind in ihnen – ein weiterer historischer Bezugspunkt – vereinzelt Formschemata und Reste eines Themendualismus erkennbar, wie man sie von der klassischen Sonate kennt. Darauf hat der Musikwissenschaftler Stefan Weiss in einer akribischen, in der Reihe „Musik-Konzepte“ veröffentlichten Analyse der vierten Sonate hingewiesen, wie überhaupt seine Untersuchung jede Behauptung, diese Musik verschließe sich dem analytischen Zugriff, in das Reich der Legenden verbannt.[1]
Noch ein dritter Bezugspunkt lässt sich ausmachen, er liegt in der Zeit der Sowjetunion. Innerhalb der damaligen sowjetischen Musik standen diese Werke keineswegs so isoliert da, wie das aus westlicher Sicht vielleicht erscheinen mag. Wie Dorothea Redepenning ebenfalls im „Musik-Konzepte“-Band nachweist, entspricht die Hinwendung zu archaisierender Melodik und zu harten Konturen in Dynamik und Tonlage, ein Merkmal aller sechs Sonaten, einem verbreiteten Trend in der sowjetischen Musik im Jahrzehnt nach Stalins Tod.
Ausgelöst wurde dieser Trend nicht zuletzt durch die Veröffentlichung einer Forschungsarbeit über altrussische liturgische Gesänge, was für die Komponisten damals eine Novität darstellte. Diese randständige, aber offiziell geduldeten Ästhetik bot ihnen offenbar eine willkommene Gelegenheit, dem Schreiben von sozialistisch-realistischen Huldigungskantaten und Heldensinfonien – dem sich übrigens auch Galina Ustwolskaja damals nicht entzog – vorübergehend zu entkommen.
Ein monolithischer Zyklus
Trotz solcher versteckter Traditionsbezüge wirken die sechs Klaviersonaten in ihrer Monumentalität wie eine exterritoriale Erscheinung. Sie liegen als erratischer Block in der Musiklandschaft des 20. Jahrhunderts – schroff, kantig zugehauen und hochgradig ausdruckgeladen. Schon das Einzelwerk wirkt singulär, und wenn man alle sechs hintereinander hört, fügen sie sich zu einem monolithischen Ganzen, energiegeladen und durchdrungen von einem einzigen großen Gedanken.
Elmer Schönberger, einer der Programmgestalter des Holland Festivals 1989, wo die Musik von Galina Ustwolskaja erstmals in größerem Umfang im Westen vorgestellt wurde, fand für diese Einheitlichkeit des schöpferischen Gedankens ein zutreffendes Bild. Er nannte die Komponistin „die Frau mit dem Hammer“, die in der Hoffnung auf zunehmende Vollendung eigentlich immer auf dem gleichen Werk herumhacke; ihre Kompositionen bezeichnete er in Anspielung auf Platons Höhlengleichnis als „Schattenbilder eines großen Ganzen“. Die Bemerkung trifft auch auf die sechs Sonaten vollumfänglich zu.
Als klar umrissene Werkgruppe besitzen sie einen zyklischen Charakter, worauf schon der einheitliche Titel hinweist. Dies, obwohl sich ihre Entstehungszeit über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten erstreckt und deutlich in zwei Phasen geteilt ist. Die ersten vier Sonaten entstanden zwischen 1947 und 1957, die letzten beiden 1986 und 1988. Bemerkenswert ist, dass die erwähnten archaischen Elemente, die in die sowjetische Musik um 1960 Einzug hielten, bei Galina Ustwolskaja schon in den frühen Werken voll ausgebildet sind – vermutlich hatte sie schon damals Kenntnis von den alten liturgischen Gesängen.
Die Sonaten erschienen alle erst 1989 im Druck. Für die frühen Stücke stellte das eine enorme Verzögerung dar, was ein Licht auf die damaligen Arbeits- und Lebensbedingungen der Komponistin wirft. Zu ihrer eigenen Öffentlichkeitsscheu kam ein offenkundiges Desinteresse der offiziellen Stellen an diesen merkwürdigen „Sonaten“, die den Rahmen des Herkömmlichen sprengten und so gar nicht nach sozialistischem Realismus klangen; mehr Erfolg hatte die Komponistin denn auch zunächst mit ihren im gängigen Stil geschriebenen Chor- und Orchesterwerken.
Wo bleibt der spirituelle Gehalt?
Die relative Gleichgültigkeit der kommunistischen Obrigkeit verwandelte sich in gefährliche Aufmerksamkeit, als Galina Ustwolskaja in den späten Sechzigerjahren begann, ihre Instrumentalwerke mit religiös konnotierten Titeln zu versehen. Damit demonstrierte sie, dass ihr spirituelle Botschaften nun wichtiger waren als die Belieferung des Betriebs mit politisch korrekten Stücken.
Doch worin liegt nun der spirituelle Gehalt der sechs Sonaten? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Um Programmmusik, gar eine mit religiösen Inhalten, kann es sich bei diesen Werken kaum handeln, in denen strenge Struktur und hochgradig subjektiver Ausdruck eine paradoxe Mischung eingehen.
Fündig würde man wohl zunächst auf der Ebene des musikalischen Materials, in den ausgedehnten, modal inspirierten linearen Strukturen und choralähnlichen Akkordfolgen, wo man Spuren liturgischer Elemente entdecken könnte .
Doch ein spirituelles Erlebnis – und Spiritualität muss subjektiv erfahren werden – wird sich vermutlich nur dann einstellen, wenn man diese Sonaten in ihrer ganzen sinnlichen Wucht auf sich wirken lässt. Die Lautstärkeexzesse, die rituellen Wiederholungen, die endlosen, stoisch in die Tasten gehauenen Viertelketten, die Ausdrucksgewalt, die die menschliche Aufnahmefähigkeit auf die Probe stellt: all das sind Momente einer Überwältigungsästhetik, die Gefühle von Erhabenheit wecken soll und auf bewusstseinssprengende Erfahrungen abzielt, um damit Bilder eines wie auch immer gearteten Absoluten zu evozieren. Eine Form von kontrollierter Ekstase als Türöffner zu höheren Sphären.
Zur Gestalt der einzelnen Werke
Einige strukturelle Eigenschaften tauchen in allen sechs Sonaten auf. Dazu gehören etwa die kontrapunktischen Linienführungen, eine terrassenähnliche Dynamik, die kaum Zwischenwerte kennt, eine aperiodische Metrik, die jede Schwerpunktbildung vermeidet und aus den langen Folgen gleicher Notenwerte Endlosmelodien werden lässt, oder eine dissonante, manchmal bis an die Tonalitätsgrenzen reichende Harmonik.
Doch beim genauen Hinhören unterscheiden sich die sechs Sonaten deutlich voneinander. Die Unterschiede sind den großen zeitlichen Abständen ihrer Entstehung geschuldet und verweisen auf den Entwicklungsprozess, dem das Schaffen der Komponistin über die Jahrzehnte hinweg unterlag.
Die erste Sonate von 1947 ist viersätzig und besitzt ein relativ einfaches Formschema. Der erste Satz exponiert ein diatonisch aufsteigendes Viertonmotiv in der Art eines Tetrachords, das in der Folge kontrapunktisch verarbeitet wird. Der zweite Satz bringt mit scharfen Punktierungen und einer bis zum fünffachen Forte gesteigerten Lautstärke eine Radikalisierung und Verdichtung dieser Verfahren, während der dritte, vorwiegend leise und akkordisch gestaltete Satz die Funktion des klassischen Adagios im Formganzen einnimmt. Im letzten Satz werden dann diese starken Kontraste zu einer Art Synthese gebracht.
In der zweiten, 1949 entstandenen Sonate werden erstmals die Taktstriche weggelassen, was den schwebenden, metrisch ungebundenen Charakter der linearen Verläufe unterstreicht. Von nun an gilt das für alle Sonaten. In der aufsteigenden Motivik ist eine Weiterentwicklung des Viertonmotivs aus der ersten Sonate erkennbar, und die Harmonik ist komplexer; in der ersten melodischen Phrase und ihrer Begleitung kommen gleich elf Töne aus der chromatischen Totale vor, und später wird die Linienführung durch Septparallelen herb eingefärbt. Diese Sonate besteht nur aus zwei Sätzen, die motivisch wiederum stark miteinander verwandt sind. Gegen Schluss erfolgt eine Intensivierung des Ausdrucks, indem die linearen Verläufe konsequent durch dissonante Doppel- und Dreifachgriffe verdichtet werden.
Sonate Nummer drei, komponiert 1952, greift das aufsteigende Motiv der vorangegangenen beiden Kompositionen erneut auf, erweitert es aber nun zu einer Tonfolge, die über mehr als anderthalb Oktaven, schrittweise und in gleichmäßigen Vierteln, in die Höhe steigt. Die emporstrebende Bewegung ist allgegenwärtig und wird zu einem musikalischen Leitgedanken, dessen religiöse Symbolik offenkundig ist.
Die überproportionale Verlängerung der Aufwärtsbewegung hat etwas Exzentrisches. In ihr manifestiert sich nun auch auf der strukturellen Ebene etwas von jenem Hang zum Exzess, der sich sonst vorwiegend in den extremen Ausdruckswerten zeigt. In dieser Sonate werden die Grenzen getestet, Expansion in jeder Hinsicht herrscht vor. Dies betrifft auch ihre Dauer. Sie besteht aus einem einzigen, riesigen Satz und ist mit rund 17 Minuten die weitaus längste Sonate in der ganzen Werkgruppe. Nur die fünfte erreicht annähernd ihre Länge.
Die Sonate Nr. 4 aus dem Jahr 1957 greift wieder die Viersätzigkeit auf. Sie beginnt im Pianissimo mit drei mystischen Akkorden, deren Ausdruckscharakter im weiteren Verlauf der Sonate mehrfach wiederkehrt. Wie bei der ersten Sonate gibt es auch hier eine deutliche, auf Kontrastwirkungen beruhende Formdramaturgie, indem etwa der erste Satz durchwegs im Pianissimo gehalten ist, während der zweite schockhaft im vierfachen Forte einsetzt. Der dritte Satz hebt sich durch eine punktierte Figur von seiner Umgebung scharf ab; er bildet mit seiner kompakten Textur und dem durchgehenden vierfachen Forte das geballte Energiezentrum des ganzen Werks. Der Schlusssatz ist mit Ausnahme von wenigen unvermittelten Akzenten sehr leise gehalten und kehrt damit zur mystischen Atmosphäre der Anfangsakkorde zurück.
Nach dieser Sonate folgt eine lange Pause in der Sonatenkomposition. Erst 1986, nach neunundzwanzig Jahren, entsteht die fünfte, 1988 die sechste. Die beiden Nachzügler bilden als verwandtes Paar den gewaltigen Abschluss im Sonatenschaffen von Galina Ustwolskaja. Beide haben eine einsätzige Form, in beiden sind längere Strecken mit der superlativischen Bezeichnung „Espressivissimo“ überschrieben. Während es in der fünften Sonate immerhin noch einige leise Abschnitte gibt, die zu den dominierenden Maximallautstärken einen wirkungsvollen Kontrast bilden, wechselt die Dynamik in der sechsten nur noch zwischen dem vier- und fünffachen Forte – abgesehen von einem erschreckten Innehalten kurz vor Schluss.
In der fünften Sonate werden die zehn divergierenden Abschnitte durch einen raffinierten Kunstgriff zusammengehalten: Der Ton Des in der eingestrichenen Oktave bildet den unverrückbaren Fixpunkt im Klanggetümmel. Mit seiner hartnäckigen Wiederholung bohrt sich dieses Des tief in das Hörgedächtnis ein und entwickelt im Laufe des Stücks geradezu magisch-rituelle Kräfte – Chopins „Regentropfen-Präludium“, ins Gigantische überhöht.
Solche Feinheiten kommen in der abschließende Sonate nicht mehr zum Tragen. Der Interpret entfaltet in heiligem Zorn ein endzeitliches, aus den tiefsten Lagen aufsteigendes Klanggewitter. Die langen horizontalen Linien, die immer wieder zu statischen Akkordfolgen und Clustern erstarren, werden wie mit Handkantenschlägen in die Tasten hineingehauen. Für normalmenschliche Regungen ist hier kein Platz mehr, das Stück endet in einer alle Dimensionen sprengenden Monumentalität.
[1] Musik-Konzepte Nr. 143, Themenheft Galina Ustwolskaja, München 2009, S: 21–37.
Programmhefttext zur Aufführung der Klaviersonaten von Galina Ustwolskaja durch Markus Hinterhäuser bei den Salzburger Festspielen am 22.7.2018.
Markus Hinterhäuser über die Klaviersonaten von Galina Ustwolskaja
Siehe auch den Beitrag „Rütteln am Gitter“