In Dieter Schnebels Schaffen nimmt die „Sinfonie X“ die Stelle eines Opus summum ein, in dem die gedanklichen Entwicklungen und musikalischen Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten kompositorischer Praxis zusammenfließen. Die große klassische Idee der sinfonischen Form verbindet sich mit den experimentellen Konzepten der späten fünfziger bis frühen siebziger Jahre zu einer ebenso gewagten wie imposanten Synthese des scheinbar Unvereinbaren. Zum besseren Verständnis des zwischen 1987 und 1992 entstandenen Werks, dessen Uraufführung am 18. Oktober 1992 in Donaueschingen unter Michael Gielen rund zweieinhalb Stunden dauerte, ist deshalb ein kurzer Rückblick auf die künstlerische Entwicklung des Komponisten angebracht.
Ein Hang zur Integration von Disparatem bis hin zu imaginärer Totalität durchzieht Dieter Schnebels kompositorisches Denken von Anbeginn. Das Kunstwerk soll sich der Welt öffnen und in ihr, letztlich vielleicht sogar im Unendlichen, aufgehen. „Glossolalie“ (1959-60), eine Sammlung abstrakter Materialprozesse, kann mit beliebigen Sprachinhalten angefüllt werden, vom poetischen Text über die Alltagssprache bis zum politischen Slogan. In den „Choralvorspielen“ für Orgel, Nebeninstrumente und Tonband (1966/68-69) geht die ästhetische Sphäre bruchlos in den Lebensalltag über, wenn zum Schluss der Interpret und seine beiden Registranten sich Orgelpfeifen greifen und auf ihnen blasend aus der Kirche hinauswandern. Im Chorwerk „:! (madrasha 2)“ (1958/67-68) mischen sich auch imitierte Tierstimmen in das von Menschen artikulierte Lob Gottes – der Begriff der Kreatur wird umfassend verstanden, die Grenzen zwischen Mensch und Natur verschwimmen.
Form als offener Prozess…
Das Einfangen von Totalität im Kunstwerk gelingt Schnebel in diesen Werken durch eine Formkonzeption, die auf jede Verfestigung und Schematik verzichtet. Form ist häufig ein offener Prozess, der sich innerhalb bestimmter Vorgaben in der Zeit frei entfaltet, und die konkrete Werkgestalt erscheint als eines von vielen möglichen Resultaten dieses Prozesses. Im Extremfall wird die formale Idee auf ein bloßes Konzept reduziert und eine klangliche Realisierung nicht mehr angestrebt. Das „Werk“ entsteht nur noch in der individuellen Imagination des Lesers oder Betrachters. So etwa in „ki-no“, einer „Nachtmusik für Projektoren und Hörer“ (1963-67), wo Grafiken, Bilder und Notensymbole als stumme Zeichen auf die Leinwand projiziert werden, um im Kopf des innerlich hörenden Betrachters zum fiktiven Erklingen zu kommen.
… und festhalten am Werkbegriff
Solche radikalen Auffassungen von Werk und Wahrnehmung entwickelt Schnebel von den späten fünfziger Jahren an unter dem Einfluss von John Cage und der Konzeptkunst eines La Monte Young. Trotzdem gibt er den europäischen Werkbegriff nicht preis, den er davor an Werken von Beethoven bis Webern studiert und zugleich einer fundamentalen Kritik unterworfen hat. Und er ist Dialektiker genug, dass er in den bewegten sechziger Jahren die tradierten Kategorien nicht einfach über Bord wirft, trotz seiner Sympathien für die amerikanischen Avantgardisten.
Auch den kunstfeindlichen Parolen der Studentenbewegung steht er bei aller Offenheit skeptisch gegenüber. Im Gespräch mit Hansjörg Pauli sagt er 1969: „Man sollte sich als Künstler nicht allzu sehr vor dem Schönen und vor der Ästhetik fürchten. Wie ich überhaupt meine, die Angst vor Soundsovielem, was nicht mehr geht, ist nicht so ganz berechtigt. Wahrscheinlich geht alles.“[1]
Das Festhalten an den tradierten Kategorien und ihre radikale Kritik sind bei Schnebel eins. Integration und Zersetzung, Gravitation und Expansion, Tradition und Experiment sind die Fluchtpunkte, zwischen denen Werkidee und musikalische Form entstehen. Der kontrollierte Antagonismus der Kräfte ist von geradezu klassischer Ausprägung.
„Sinfonie X“ als Variable
Das Großprojekt der „Sinfonie X“ ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Wer in ihr, wie dies nach der Donaueschinger Uraufführung verschiedentlich zu hören war, nur das postmoderne Monument einer angeblich nicht mehr möglichen historischen Gattung erblickt, liegt falsch. Dazu sind die historischen Anspielungen in dieser Partitur, ihre kompositionstechnischen, musiksprachlichen und ideologiekritischen Implikationen zu komplex. In ihr treffen sich Einflüsse sowohl der klassischen Sinfonie als auch der experimentellen Avantgarde in den Jahren nach 1950.
Der Titel verweist nach Schnebels eigenen Worten auf dieses vielschichtige Erbe: „Sinfonie X – eine x’te: 3., 7., 13.; meinetwegen auch eine 10. (wäre im eigenen Werk begründet); sicher aber eine erste und letzte und eine unvollendete… Im Wesentlichen aber eben eine SINFONIE X, als quasi Unbekannte, bzw. eine Sinfonie über ein X, über eine Variable, oder selbst als quasi variabler Prozess.“[2]
Die Besetzung umfasst ein großes Orchester mit dreifachen Bläsern, Altstimme, Ondes Martenot, Live-Elektronik und Tonband sowie vier gemischte Instrumentalgruppen von vier bis acht Spielern, die um das Publikum herum aufgestellt sind. Im reichhaltigen Schlagzeug fallen die vielen Klangmaterialien auf, die Schnebel auch in seinen experimentellen Werken häufig verwendet hat. Details
Großform mit historischen Bezügen
Die Großform der „Sinfonie X“ besteht aus zwei durch eine Konzertpause getrennten Teilen und umfasst insgesamt sechs Sätze: Con moto – Scherzo (Teil 1) / Hymnus – Valse – Adagio – Finale alla Marcia (Teil 2). Kernstück des ersten Teils und längster Satz von allen ist mit vierzig Minuten Dauer das „Con moto“. Damit, auch mit der Idee einer Pause zwischen den beiden Abteilungen, bezieht sich Schnebel auf das Modell von Mahlers Dritter.
Unter dem Titel „Raum-Klang X“ wurde dieser Kopfsatz bereits 1989 in Köln unter Zoltán Peskó uraufgeführt. Er besteht aus Variationen über einen liegenden Klang, angereichert mit signalhaft interpunktierenden Naturgeräuschen und Vogelrufen. Nicht nur von der Länge her, sondern auch in der Verarbeitungsdichte und im Reichtum an Klangfarben und Texturen besitzt er das Gewicht eines riesigen Sinfoniesatzes. Indes lässt die Musik hier vorerst nur die Muskeln spielen, ohne gleich alle Ressourcen zu mobilisieren. Das folgende, kurze Scherzo mit seinen statisch kreisenden Figuren in eng begrenzter Lage wirkt wie ein kurzer, auflockernder Kommentar.
Der „Hymnus“ zu Beginn des zweiten Teils setzt die hohen Register des Scherzos fort, besitzt aber mit seiner skandierenden Rhythmik und den vorherrschenden hellen Metallklängen ekstatisch-rituelle Züge. Massive Körperlichkeit gibt dann den Ton im „Valse“ an. Es ist ein Art zweites Scherzo. Nackter Paukenklang, bruitistische Blechbläsereinsätze, Trillerpfeifen und andere Vulgaritäten lassen den Satz wie eine Zuspitzung des „weltlich’ Getümmel“ in den Mahlerschen Scherzi erscheinen.
Das von Schnebel als „metamorphotisch“ charakterisierte Adagio beginnt mit mehr solistischen und gruppenweisen Figurationen in entspanntem Zeitverlauf, die sich klanglich zunehmend verdichten. Hier taucht mit kraftvollen, in den Orchestersatz verwobenen Vokalisen auch erstmals die Altstimme auf. Sie erscheint wieder im Finale, nachdem sich das einleitende „alla marcia“ beruhigt hat. Ihr von den tiefen Oboen umspielter Gesang wirkt hier wie ein Naturlaut, der verklingt, wenn sich die Sängerin von der Bühne entfernt.
Monumentale Architektur
Die sechs Sätze der „Sinfonie X“ dauern zusammen etwa hundert Minuten. Die restlichen fünfzig fallen auf die zahlreichen Vor-, Zwischen- und Nachspiele, die die Sinfoniesätze wie konzentrische Kreise umgeben. Sie sind mehr als Füllstoff in der architektonischen Substanz – erst durch sie entsteht die ebenso kompliziert geschichtete wie brüchige Monumentalform des Ganzen. Schnebel nennt sie „Zeitstücke“, „Klangräume“, „Signale“ und „Environments“.
Die mit „Stille“ überschriebenen „Environments“ sind Tonbandmontagen von konkreten Klängen: Verkehrslärm, Naturgeräusche, Fetzen von traditioneller Orchestermusik. Sie erklingen zu Beginn, in der Pause und am Schluss und schlagen die Brücke zum Alltag außerhalb des Konzertsaals. Die „Signale“ sind Bläserfanfaren, die nach Bayreuther Art das Publikum zum Betreten des Saals auffordern. Die „Zeitstücke“ und „Klangräume“ schließlich sind Intermezzi und Überleitungen voll überraschender Wendungen, vom Einstimmvorgang über das quasi-improvisatorische Präludieren bis zum raffiniert instrumentierten, großflächigen Klangbild.
Serieller Hintergrund
Der Gestaltung im Ganzen und im Detail basiert vielfach auf seriellen Überlegungen. Die sehr unterschiedlichen Längen der einzelnen Sätze und Zwischenstücke – der längste, erste Satz dauert vierzig Minuten, der kürzeste vierzig Sekunden – sind als Dauernreihe konzipiert; das Prinzip wird indes nicht mechanisch durchgezogen, sondern mit dramaturgischen und hörpsychologischen Überlegungen kombiniert. Im Teil „Valse“, einem verkappten Paukenkonzert, gibt es eine Serialisierung der Dynamikverläufe. In der Teil 1 beschließenden „Monodie“, wo ein einzelner Ton zwischen den vier Instrumentalgruppen im Saal kreist, ist der Parameter Tonhöhe auf null reduziert. Auch die Harmonik des ganzen Werks ist letztlich seriell konzipiert; die häufig auftretenden „tonalen Akkorde“ sind nur Zwischenstufen in einer umfassenden harmonischen Skala, die vom reinen Geräusch bis zur reinen Konsonanz reicht.
Eine integrale Aufführung der „Sinfonie X“ ist für Schnebel zwar wünschbar, aber keineswegs zwingend. Die einzelnen Teile können, was ja mit dem „Con moto“-Satz alias „Raum-Klang X“ in Köln geschehen ist, auch einzeln gespielt werden. Die Idee der Sinfonie als geschlossene Form ist für den an Bloch und Adorno geschulten ideologiekritischen Komponisten ohnehin problematisch, und er erinnert daran, dass schon Haydn, einer Väter der Gattung, in seiner „Abschiedssinfonie“ die Form aufgebrochen hat. Von den sinfonischen Versuchen des neunzehnten, den Schrumpfformen des zwanzigsten Jahrhunderts ganz zu schweigen. Sinfonie bedeutet für ihn kein fest gefügtes historisches Modell, sondern offene Form und Utopie, „ein Projekt, ein Entwurf, der weiterer Ausführung harrt“[3].
Work in Progress
So ist es nur folgerichtig, dass Dieter Schnebel dem bestehenden „Entwurf“ nun einen dritten, nochmals rund einstündigen Teil angefügt hat, der im kommenden März in Berlin uraufgeführt werden soll. Mit der Einbeziehung von Chor und Solisten nimmt die menschliche Stimme, die in den bisherigen zwei Teilen nur rudimentär vorkommt, nun einen wichtigen Platz ein. Zentrales Thema ist die Liebe; die zumeist klassischen, auch antiken Texte reichen von der Bibel (Apostel Paulus) über den Sonnengesang des Franz von Assisi bis zu Goethe und Brecht. Der Großform liegt eine Gliederung nach den vier Jahreszeiten zugrunde, die Schnebel auch auf die vier Lebensalter des Menschen bezieht. Es sind archetypische Vorstellungen, die sein künstlerisches Denken stets geprägt haben standen und hier offen in Erscheinung treten.
(2005)
Anmerkungen
[1] „Für wen komponieren Sie eigentlich?“ Gespräch mit Hansjörg Pauli, zit. nach: Dieter Schnebel, Denkbare Musik. Schriften 1952-72, Köln 1972, S. 369.
[2] Programmheft zur UA in Donaueschingen, 1992, S. 49
[3] Ebenda, Seite 54
Print-Version: Neue Zeitschrift für Musik 1/2005