Die Idee für seine Oper Die Vorübergehenden, die am 13. Juli in München als Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt wurde, kam Nikolaus Brass bei der Lektüre der Gedichte des schwedischen Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer. Fragmente aus dessen lyrischem Werk, ergänzt durch Zeilen von Rose Ausländer und Mahmoud Darwisch, montierte er in seinem Libretto zu einem Text, der einen Bewusstseinszustand des Übergangs zwischen Wachen und Träumen, Leben und Tod entwirft und mit archetypischen Bildern arbeitet.
Unmittelbar angeregt wurde seine musikalisch-szenische Fantasie durch eine Gedichtzeile von Tranströmer, in der die Rede ist von „Gesichtern, die durch die weiße Wand des Vergessens dringen“, sowie durch Rose Ausländers poetische Formulierung „Hinter der Wand atmet der Märchenerzähler Traum“. (vgl. das Interview mit Brass, Link unten auf der Seite)
Die Idee der transparenten Wand, die die beiden Wirklichkeiten trennt, sollte bei der Darstellung der ineinanderfließenden Zeiten und Identitäten offenbar als eine Art struktureller Fixpunkt dienen. Für ein Geschehen, das sich in ungreifbaren Assoziationsräumen abspielt, konnte das nicht schaden, zumal die vielgestaltige, linear wuchernde Musik die szenischen Metamorphosen zusätzlich überlagert.
Und immer wieder die Frage „Wer bin ich?“
Die Oper kreist um das Thema der Identität und damit um die Frage „Wer bin ich?“ Es ist die große Preisfrage des Lebens, die niemand hinreichend zu beantworten weiß, weshalb sie auch immer wieder zum Gegenstand der Kunst gemacht wird. Ohne Autobiografisches und den Blick ins private Umfeld geht es dabei natürlich nicht, was nebst hohen Gefühlen auch allerlei Familienneurosen zutage fördert: eine Inventur des psychischen Haushalts mit Salon, Schlafzimmer und dunklem Keller. Richard Strauss hat das in seiner „Sinfonia domestica“ auf eher banale Weise gemacht, Stockhausen konstruierte daraus in seinem Zyklus „Licht“ eine gigantische Privatmythologie.
Nikolaus Brass nähert sich einer Antwort von der tiefenpsychologischen Seite, und in den Gedichten von Tranströmer fand er eine inspirierende Quelle. „Die Vorübergehenden“ sind das bisher umfangreichste, auch aufwendigste Bühnenwerk des Komponisten, und schon zum zweiten Mal griff er hier auf eine skandinavische Vorlage zurück. Das erste Mal geschah das in „Sommertag“, einem 2014 in München uraufgeführten Einakter nach dem gleichnamigen Drama von Jon Fosse.
Im irrealen Raum zwischen Diesseits und Jenseits befindet sich „Der Liebende“, der in der Erinnerung noch einmal sein Leben mit allen Höhen und Tiefen an sich vorüberziehen lässt; die Hauptfigur ist dreifach aufgespalten und erscheint auch als junger Mann und als sein eigener Schatten. Auch sein weibliches Gegenbild, „Die Liebende“, besitzt ein junges Double; hier werden beide Rollen von einer einzigen Person dargestellt. Dazu kommen ein vernachlässigtes Kind mit Ansätzen zum Autismus und ein unter innerer Dauerspannung lebendes Elternpaar, wie es noch um 1960 zum deutschen Alltag gehörte: der Vater vom Typ des autoritären Staatsdieners mit verdrängter Vergangenheit, die Mutter die hilflos-verschreckte Hausfrau.
Befreiung von den verinnerlichten Zwängen
Gegenfigur ist „Der Flüchtling/Der Reisende“. Er betrachtet den Psychoknäuel der gestressten Familie aus der Außenperspektive und verkörpert als Undomestizierter Fremdheit und zugleich ein Stück Freiheit. Das ohne Pause gespielte Stück reproduziert im ersten Teil bedrückende Situationen unbewältigten Lebens und mündet im zweiten Teil in einen Moment utopischer Freiheit. Im Tod erkennt der Liebende, dass es seltene Augenblicke gibt, in denen ein Mensch den anderen wirklich sieht.
Die für achtzehn Spieler geschriebene Partitur ist detailgenau durchkomponiert bis auf eine improvisatorische Passage zu Beginn des zweiten Teils – jenem utopischen Moment, in dem sich auch die szenische Struktur auflöst und das Bild des falschen Lebens sich in eine von Zwängen befreite Szenerie verwandelt. Ansonsten bilden Gesang und Instrumente ein ausdrucksstarkes Klanggewebe, das seiner eigenen musikalischen Logik folgt und mit seinem gestischen und farblichen Reichtum die Charaktere und Situationen in die Tiefe hin ausleuchtet. Die in weiten Intervallen geführten Singstimmen forderten die Ausführenden zu Höchstleistungen heraus, allen voran Sarah Maria Sun und Nikolay Borchev in den Hauptrollen sowie Ilker Arcayürek als Reisender. Die Dirigentin Marie Jacquot hielt das komplexe Geschehen mit den im Raum weit verstreuten Solisten, Chor und Ensemble bravourös zusammen.
Inszenierung mit weitgefasstem Raumkonzept
Die Möglichkeiten des offenen Raums in der Münchner Reithalle, einem für Experimente geeigneten Off-Spielort im Westen Schwabings, verleitete das Inszenierungsteam zu einem weitgefassten Raumkonzept, was die doppelte Realität von Diesseits und traumähnlichem Jenseits zugunsten einer reinen Diesseitigkeit aufhob und auch das Verständnis der assoziativen Handlungsverläufe erschwerte. Das Orchester war an der Längsseite des Saals, der Chor auf einem gesonderten Podium platziert, die Zuschauer hatten beim Eingang einen Hocker in Empfang genommen und saßen nun irgendwo zwischen den neun Spielorten, die der Bühnen- und Kostümbildner Ric Schachtebeck auf der weiten Fläche verteilt angeordnet hatte. Die Zuschauer waren damit ein Teil der Szene, hatten aber nie das Ganze im Blick; ihre Wahrnehmung musste zwangsläufig selektiv bleiben.
Die weit verstreuten Spielorte stellten die biographische Schauplätze vom Kinderzimmer über die Küche bis zum Schlafzimmer dar. Im Wohnzimmer flimmerte auf einem Fernseher Modell frühe Sechzigerjahre als Dauerschleife Robert Lembkes Sendung „Heiteres Beruferaten“ mit dem variierten Leitmotiv des Abends: „Was bin ich?“ Die Schleife allerdings bereits in Farbe.
Zwischen den Zuschauern ließ der Regisseur Ludger Engels die mit Kopfmikrofonen ausgerüsteten Darsteller von Spielort zu Spielort wandern, und durch die Verstärkung über Lautsprecher entstand eine manchmal problematische Raumakustik, bei der man einen Sänger zwar aus der Nähe hörte, aber nicht sah, und umgekehrt eine Stimme in unmittelbarer Nähe sich in einen unnötigen Raumklang fortsetzte. Dazu wurden noch Live-Videoaufnahmen auf vier große Projektionsflächen geworfen und zwischendurch die Zuschauer zum Herumwandern animiert – Dinge, die heute offenbar zum inszenatorischen Pflichtprogramm gehören, hier aber stellenweise zu einem Informations-Overkill führten, der dem Stück abträglich war.
Die Aufführung hat immerhin das Potenzial freigelegt, das im Werk schlummert. Es wäre interessant zu erfahren, wie es sich ohne die visuelle Überfrachtung, bei der konzentrierten Sicht auf eine normale Guckkastenbühne entfaltet.
Interview mit Nikolaus Brass zu seiner Oper „Die Vorübergehenden“
Dauer: 8’40“ (Aufnahme: 13. Juli 2018, vor der Uraufführung)
Details zur Aufführung (Bayerische Staatsoper)