In diesem Interview mit Dieter Schnebel aus dem Jahr 1978 [1] kommen wichtige Momente in seiner künstlerischen Entwicklung sowie grundsätzliche Fragen der neuen Musik zur Sprache: sein Abschied vom Avantgardismus, das Verhältnis von Theologie und Psychoanalyse und die Publikumsferne der neuen Musik. Mehr dazu in der Schlussbemerkung.
Herr Schnebel, manche Leute sagen, dass Sie Musik schreiben, die niemand hören will.
Das stimmt zumindest für meine neueren Stücke nicht mehr. Ich habe gerade in der letzten Zeit einige für mich erfreuliche Erfahrungen machen können, als meine Komposition „Drei-Klang“ [2] im Radio übertragen wurde. Bei den Spezialisten für neue Musik kam sie zwar sehr schlecht an, weil sie offenbar zu wenig kompliziert klang. Von Leuten, die „naiv“ Musik hören, zum Beispiel von meiner Mutter, wurde sie gut aufgenommen. Das hat mich gefreut.
Aber noch vor etwa einem Jahrzehnt schrieben Sie Stücke, die sich dem Hörer bewusst verweigerten.
Ich war halt zunächst einfach Avantgarde-Musiker und als solcher, dem Vorbild Schönbergs folgend, primär an der Entwicklung des Materials interessiert. Die technologischen Gesichtspunkte hatten Vorrang.
Sie verstehen sich heute nicht mehr als „Avantgardist“?
Daran liegt mir nichts. Ich möchte Musik schreiben, Musik für Menschen, um es ganz einfach zu sagen.
„Für wen komponieren Sie eigentlich?“
Wo liegen die Gründe für Ihr gewandeltes Verhältnis zum Publikum?
Der wesentliche Anstoß kam in den Jahren 1968–70, in der Zeit der „Apo“[3]. Man redete damals viel von „Zielgruppe“ und ähnlichem, und ich wurde zum ersten Mal mit der Frage konfrontiert, für wen ich eigentlich schreibe. Vorher waren solche Gedanken ja keine Selbstverständlichkeit für einen Komponisten.
Haben Ihre Erfahrungen als Musiklehrer dabei auch eine Rolle gespielt?
Eine sehr starke sogar. In München, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben Musik in der Schule unterrichtete, führte ich meinen Schülern auch Stücke von mir vor. Und plötzlich stand ich im Kreuzfeuer: „Warum tun Sie das? Was wollen Sie damit?“ Es kamen auch ganz harte Angriffe, und in diesen Gesprächen und Konfrontationen habe ich vieles gelernt.
Gibt es diese Konfrontationen im Konzertbetrieb nicht?
Nie so direkt. Wenn es überhaupt zu einer Diskussion kommt, dann läuft sie meist auf ein Fachgespräch hinaus.
Ist der Kontakt zu einem Schüler- oder, allgemein, einem Laienpublikum fruchtbarer?
Ich halte ihn für unbedingt notwendig. Ich wünsche allen meinen Kollegen, die weiterhin im Avantgardebereich herumkomponieren, dass sie einmal direkt mit dem Denken und Fühlen der sogenannt normalen Menschen Bekanntschaft schließen.
Wie haben Sie als Komponist auf diese Erfahrungen reagiert?
Ich lernte, wie wichtig es ist, das Feld zu kennen, in das man hineinkomponiert, und dieses Feld dann auch in irgendeiner Weise in das Komponieren einzubeziehen.
Ein Beispiel?
In den Stücken aus der letzten Zeit habe ich ganz bewusst immer wieder auch herkömmliche musikalische Idiome einkomponiert. So kann sich der Hörer gewissermaßen eine Zeitlang im Vertrauten aufhalten und dann – sei es mit Verstand, sei es gefühlsmäßig – vielleicht einen Weg finden, der aus dem Vertrauten und Gewohnten auch wieder herausführt.
Bevor Sie sich ganz auf die Musik konzentrierten, waren Sie im Hauptberuf Pfarrer und Religionslehrer. Wie ging das mit dem Komponieren zusammen?
Ich fuhr sozusagen zweigleisig. Berührungspunkte gab es höchstens insofern, als in meinen damaligen Kompositionen so etwas wie ein theologischer Untergrund herauszulesen ist. Im Beruf war ich eben Pfarrer. Im Privatleben Avantgarde-Komponist.
Der Einfluss von Theologie und Psychoanalyse
Ist mit dem Wechsel des Hauptberufs diese „theologische Phase“ für Sie auch musikalisch abgeschlossen?
Heute trenne ich Kunst und Leben nicht mehr. Kunst ist für mich eine von vielen möglichen Lebensäußerungen. Deshalb kann jetzt auch das theologische Denken, das ich ja nicht einfach mit dem Talar abgelegt habe, unmittelbar in meine Musik einfließen.
Was entsteht dabei? Geistliche Musik?
Es interessiert mich gar nicht mehr, ob meine Musik nun „geistlich“ sei oder nicht. Ich habe aber oft die Erfahrung gemacht, dass Stücke, bei denen ich selbst gar nicht an geistliche Inhalte gedacht habe, von Hörern plötzlich als geistlich empfunden wurden. Zum Beispiel die „Maulwerke“.
Sie sind ein alter Freudianer, und Ihre Beschäftigung mit Psychoanalyse hat sich in den „Maulwerken“ niedergeschlagen. Hier gibt es offenbar Berührungspunkte zwischen dem Theologen Schnebel und dem „Psychoanalytiker“ Schnebel.
Ich glaube schon. Die Psychoanalyse ist der Versuch, an das Leben selbst heranzukommen. Und in der Theologie geht es ja auch ums Leben. Es gibt dieses schöne Jesus-Wort: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“
Sie haben in der letzten Zeit überdurchschnittlich viel komponiert. Werden Sie ihren neuen Werkzyklus „Tradition“ im bisherigen Arbeitsrhythmus weiterführen?
Das ist ein langfristiges Projekt. Jetzt möchte ich etwa ein Jahr lang nicht mehr komponieren, sondern wieder mehr schreiben: Aufsätze über Verdi und Janáček, eine Psychoanalyse Schumanns und schließlich eine Arbeit über „psychoanalytische Musik“.
Anmerkungen
[1] Erschienen im Kölner Stadt-Anzeiger vom 1.3.1978
[2] „Drei-Klang“: Komposition für 3 verschiedene und räumlich getrennte Ensembles. Die durch Hans Otte, Musikchef von Radio Bremen produzierte Uraufführung fand am 12. Dezember 1977 statt. Die drei Ensembles befanden sich in Bremen, Paris und Stockholm in den Räumen von Radio Bremen, Radio France und Sveriges Radio und wurden über Live-Schaltung klanglich zusammengeführt.
[3] „Apo“: Außerparlamentarische Opposition
Schlussbemerkung: Zum Interview mit Dieter Schnebel
Dieses Interview mit Dieter Schnebel (1930-2018) von 1978 entstand in einer Phase des künstlerischen Umbruchs nicht nur für Schnebel, sondern ganz allgemein. Die Avantgarde mit Wurzeln in den Nachkriegsjahren, die vor allem in Deutschland jahrzehntelang das Feld dominiert hatte, verlor an Einfluss. Eine neue Generation, die die Tabus der seriellen und postseriellen Musik – sie betrafen vor allem das harmonische Denken – nicht mehr kannte, trat in Erscheinung. Auch der zum Zeitpunkt des Interviews achtundvierzigjährige Dieter Schnebel beteiligte sich an diesem Paradigmenwechsel. Kurz zuvor, am 20. Januar 1978, war in Köln seine Komposition „Orchestra“, eine „symphonische Musik für mobile Musiker“ uraufgeführt worden, in der Schnebel seine bis 1976 als Schulmusiker gesammelten Erfahrungen mit der „kreativen Aktivierung“ des Individuums auf das Orchester übertragen wollte. Der Versuch misslang. Aber Dieter Schnebel ging seinen Weg weiter, einerseits mit experimentellen Klangaktionen in kleinen Gruppen, andererseits im Zyklus „Tradition“, in dem er sich mit der Re-lektüre ganzer Werke von Bach bis Webern kompositorisch beschäftigte. Die monumentale Sinfonie X und andere Werke der späteren Schaffensphase sind Versuche, die unterschiedlichen ästhetischen Modelle auf hohem Reflexionsniveau zu einer Synthese zu bringen.
siehe auch Nachruf auf Dieter Schnebel