Nach Donaueschingen reist man bekanntlich nicht nur wegen der Musik. Man trifft sich, sagt nach allen Richtungen „Hallo!“ und macht Geschäfte. Und wo sich alles, was irgendwie mit neuer Musik zu tun hat, während drei Tagen hautnah begegnet, erfährt man auch viel Neues, vom Szenenklatsch über Daumen rauf/Daumen runter die Uraufführungen betreffend bis zur nichtoffiziell geäußerten Meinung von Festivalmachern über den Musikbetrieb.
Manches, was da so die Runde macht, will nicht so richtig ins Bild der florierenden Donaueschinger Musiktage passen, die für den Festivaljahrgang 2019 nun die stolze Zahl von „rund 10.000 Besucher*innen“ vermelden konnten. Etwa die beunruhigende Feststellung eines Veranstalters, dass die fetten Jahre der Postmoderne, als alles, was produziert wurde, problemlos von den Medien geschluckt wurde, vorbei seien. Heute sei es viel schwieriger, für ausgefallene Dinge ein Interesse in den Redaktionen und damit in der Öffentlichkeit zu wecken..
Woran liegt das? An der Beliebigkeit des Angebots? Braucht es Themenfestivals mit einem verständnisfördernden roten Faden? Liegt es an den Redaktionen, die der Minderheitenkunst, und das ist die neue Musik nun mal, nur noch begrenzt Platz einräumen? Am kulturaffinen Publikum, das sich heute lieber in den Social Media herumtreibt als sich eine Stunde lang auf ein Stück Musik zu konzentrieren? Viele Fragen und keine Antworten. Doch es gibt Grund zur Vermutung, dass der qualifizierte ästhetische Diskurs sich zunehmend in die Fachzirkel zurückzieht und es der Einbettung in Trendthemen oder alltagsnahe Narrative bedarf, um komponierte Musik heute noch in eine größere Öffentlichkeit zu transportieren.
In Donaueschingen sind eigentlich alle zufrieden
Das alles kann ein Festival wie Donaueschingen jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Mit dem SWR hat es einen großen Sender im Rücken, der für eine trimediale Verbreitung sorgt, und im neuen Rundfunkintendanten einen Fürsprecher, der bei seiner Rede zur Verleihung des Karl-Sczuka-Preises für neue Radiokunst mit seiner Sympathie für das Festival nicht zurückhielt. Björn Gottstein, der das Festival von seinem Vorgänger Armin Köhler gut geordnet übernommen hatte, startete 2017 mit neuen Ideen, und so unanfechtbar wie heute, zwei Jahre vor seinem Hundertjahre-Jubiläum, stand Donaueschingen schon lange nicht mehr da. Auch die Fusion der beiden rundfunkeigenen Sinfonieorchester, die jahrelang die Gemüter erregte, entfacht heute keine wütenden Proteste mehr. Das Festival ist, wie eine beliebte Formel lautet, „auf einem guten Weg“, eine Art große Koalition zwischen Publikum, Veranstalter und Komponisten schafft einen übergreifenden Konsens, alle sind einigermaßen zufrieden und gemeckert wird allenfalls noch spätabends am Wirtshaustisch.
Das vielbeschäftigte SWR-Sinfonieorchester
Das nun in ausschließlich in Stuttgart beheimatete Orchester setzt mit dem Eröffnungs- und dem Schlusskonzert wie eh und je die stabilen Eckpfeiler des Programms. Auffallend war diesmal das breite Spektrum der sieben Uraufführungen.
Die Wienerin Eva Reiter machte die Orchestermusiker zu Versuchskaninchen; anstatt ihre Instrumente zu spielen, bliesen sie in Plastikrohre hinein und ließen sie über ihren Köpfen kreisen, womit sie ein sanftes Rauschen erzeugten. So etwas wurde vor fünfzig Jahren von Josef Anton Riedl und Mauricio Kagel als Experiment gehandelt. Heute beschäftigen sich ganze Sinfonieorchester damit. Nicht nur im Saal, sondern auch auf dem Orchesterpodium kam das stressfreie Musizieren gut an. Fast eine halbe Stunde lang neue Musik ohne hektisches Taktezählen und Schlagzeuglärm im Nacken: Ein bisschen Urlaubsstimmung während einem Avantgardefestival weiß jedes Orchestermitglied zu schätzen.
Andere Uraufführungen blieben innerhalb des klassischen Orchesterformats. Michael Pelzel verarbeitete in „Mysterious Benares Bells“ die Eindrücke einer Indienreise zu Klangkonstellationen von numinosem Charakter, während Saed Haddad in „Melancholie“ für Mundharmonika und Orchester klanglich und inhaltlich nach Wegen abseits des Mainstream-Angebots suchte. Ernste Töne schlug Lidia Zielińska in ihrem Orchesterstück „Klangor“ an, das den Symbolgehalt des Geräuschs fliegender Kraniche in luzide Klangkonstellationen übersetzt. Sie zeigte, dass mit einem subtil erweiterten, raumgreifenden Orchesterklang auch auf nichtexperimentelle Weise viel Neues gesagt werden kann, zumal wenn die Klanggewichte so sorgfältig austariert sind wie in dieser Partitur.
Einschläfernde Bedächtigkeit, schwindelerregendes Tempo
Die Extrempunkte im breiten Spektrum der orchestralen Schreibweisen markierten die langen Schlussstücke der beiden Konzerte. Während man am Sonntagabend mit einem einschläfernden halbstündigen Monolog von Jürg Frey auf den Nachhauseweg geschickt wurde, verging beim Auftakt am Freitag in dem um die Hälfte längeren „Trio“ von Simon Steen-Andersen die Zeit im Flug. Was er machte, war Medienkunst auf höchstem Bastlerniveau. Er montierte die drei traditionsreichen Klangkörper des Rundfunks, Big Band, Chor und Sinfonieorchester, zu einem ebenso witzigen wie kulturkritisch gewitzten Ganzen und verzahnte die auf Sekundenbruchteile genau getimten Schnipsel aus klassischen Orchesterwerken auf atemberaubende Weise mit ebenso virtuos zusammengeschnipselten Bildern in einem Video, das auf die Leinwand hinter dem Orchesterpodium projiziert wurde.
Darin ist in Archivaufnahmen aus der Zeit des Schwarzweißfernsehens zu sehen, wie damalige Größen des Musikbetriebs dieselben Bruchstücke dirigieren, die gerade live gespielt werden: Der knurrige Celibidache, der um Inspiration bettelnde Carlos Kleiber, der zappelige George Solti, der charismatische Duke Ellington.
Steen-Andersen betreibt hier postmodernes Komponieren mit Versatzstücken, ausnahmsweise ohne Beliebigkeitscharakter, sondern als geschichtsbewusstes Spiel mit Erinnerungsmustern, formal brillant, ironisch gebrochen und dank dem geballten Oberflächenreiz auch extrem unterhaltsam. Dass das SWR-Orchester dem multimedialen Stück seinen Orchesterpreis zuerkannte, zeugt von einem offenen Horizont.
Schaufelweise Glückshormone
Ist Glück messbar? Mit der naiven Annahme, Dreiklänge förderten das Glücksempfinden, versuchte Matthew Slomowitz mit einer nicht endenwollenden Folge von Durakkorden eine Antwort mit vollem Orchester zu geben. Auf abstrakter Ebene wurde die Frage, ob und wie menschliche Verhaltensweisen und Emotionen zu digitalisieren und damit zu quantifizieren sind, im Programmschwerpunkt „Künstliche Intelligenz“ abgehandelt. Mit dem Thema werden gegenwärtig ganze Zeitungsseiten gefüllt, und da will Donaueschingen als ein Zentrum der Avantgarde nicht zurückstehen. N. Katherine Hayles (Los Angeles) gab in ihrem Vortrag einen Einblick in die Problematik.
Auch im Konzert konnte man etwas über den Stand der Dinge erfahren. Vor einem Jahr hatte der in England lebende Computermusikspezialist Nick Collins bei den Darmstädter Ferienkursen ein selbstgebautes Programm vorgestellt, mit dem der Computer Musikstücke nicht nur analysieren, sondern angeblich auch bewerten kann, wobei sich natürlich die Frage der Qualitätskriterien stellt.
Der Computer kann männlich und weiblich
Die Computeralgorithmen sind offenbar auch er in der Lage, männliches und weibliches Komponieren zu unterscheiden. Doch dürfte dieses duale Weltbild in fortschrittlichen Kreisen wohl auf wenig Gegenliebe stoßen, wird doch alles ausgegrenzt, was in den urbanen Biotopen an Trans, Inter, Metro, Queer und sonstigen Diversitäten so daherkommt. Da gibt es noch tüchtig Programmarbeit zu leisten.
In Donaueschingen kamen nun drei Klavierstücke zur Aufführung, die der Computer aus einer Menge von Einsendungen ausgewählt hatte. Sie erklangen im Saal eines Museums mit zeitgenössischer Kunst, wo eine vergoldete Porschekarosserie herumstand. Das Ambiente passte. Wie Joseph Houston am Flügel technisch eindrucksvoll demonstrierte, ist den Stücken bei aller Verschiedenheit der Machart eine aufwendige Virtuosität gemeinsam. Im Mittelpunkt steht die Maschine Klavier, der Eindruck ist kalt und unpersönlich. In dem im Programmheft abgedruckten Gespräch mit Festivalleiter Björn Gottstein meint Collins: „Die Antwort auf die Frage, wie gut Computer hören können, ist komplex.“ Schön gesagt.
Eine Raumklangstudie, rein instrumental
Das menschliche Ohr wurde in Donaueschingen auf vielfache Weise gefordert. Zu den starken Eindrücken zählte „Poética del espacio“, ein anderthalbstündiges Werk von Alberto Posadas, vom Klangforum Wien unter Sylvain Cambreling zu großer räumlicher und klanglicher Entfaltung gebracht. Posadas’ Komponieren ist stark instrumentenbezogen: Der spezifische Charakter der Instrumente wird vor allem bei den Bläsern verfremdet, erweitert, aufgerauht und mit Obertönen angereichert. Im Ensemblekontext entstehen damit Klänge von auserlesener Farbigkeit und Intensität – eine Art von instrumentaler Klangsynthese, die jeden Computer überflüssig macht.
Das Füllhorn neuer Werke wurde auch in den Konzerten mit dem Ensemble Resonanz und dem Ensemble Intercontemporain reichlich ausgegossen, wobei es allerdings vereinzelt auch beim Tröpfeln blieb. So etwa beim vielbeschäftigten Beat Furrer, der von seinem Klarinettenkonzert nur den ersten Satz ablieferte und das Publikum in Donaueschingen aus der Ferne via Ansage grüßen ließ. Unterschiedliches auch bei den vielen Klangkunstevents und Sonderveranstaltungen. An Neuem fehlt es nicht, der Besucher kann sich aus dem Überangebot herauspicken, was ihm gefällt. Und sich delektieren am unterhaltsamen Tischleindeckdich, so lange es noch geht.