Die Donaueschinger Musiktage werden gegenwärtig etwas durchgelüftet. Da ist einmal der in einer Radiodiskussion zum Festivalbeginn beklagte „eklatante Gendergap“, der bisher auch in dieser Hochburg des musikalischen Fortschritts eine Realität war. Den fetten Uraufführungskuchen haben seit je fast nur die Männer unter sich aufgeteilt, und als vor einem Jahr die Diskussion erstmals hochkochte, gelobte der SWR-Redakteur Björn Gottstein, damals neu im Amt, Besserung. Und siehe da, plötzlich finden sich nun im Hauptprogramm unter den einunddreißig Komponistennamen auch elf Frauen. Das Problem scheint also lösbar.
Dass es sich dabei keineswegs nur um Quotenfrauen handelt, zeigte sich etwa im traditionellen Jazzkonzert beim Tentett der Kontrabassistin und Komponistin Joëlle Léandre und vor allem beim fulminanten französischen Klavierduo Iana mit Christine Wodrascka und Betty Hovette.
Wieder einmal fragte man sich, warum der Jazz eigentlich in ein Spezialkonzert ausgelagert wird. Die musikalische Intelligenz und Vitalität der beiden Pianistinnen könnten manchen Ensemblekonzerten, in denen blutleere Konzepte dominieren, einen gehörigen Energieschub verpassen.
Der gute alte Fortschritt, wohin ist er geschritten?
Frischluft machte sich auch in der Programmkonzeption der Donaueschinger Musiktage bemerkbar. Der einst als Fetisch gehandelte Fortschrittsbegriff, der schon unter dem früheren Leiter Armin Köhler ins Wackeln geriet, ist nun von Gottstein sang- und klanglos entsorgt worden. Denn nichts anderes bedeutet seine im Festivalkatalog formulierte Absage an ideologisch begründete Ästhetiken oder an die immer wieder einmal zu hörenden Behauptungen von historischer Notwendigkeit. Ungewöhnlich für ein Festival wie die Donaueschinger Musiktage: ein Plädoyer für eine Musik, wie sie ist, und nicht wie sie sein soll. Im Moment sieht das noch ein wenig nach Gemischtwarenladen aus, bietet aber die Chance, die musikalische Wirklichkeit in einer größeren Breite darzustellen. Dazu gehören auch so vielssagende szenische Aktionen wie „Cut“ von Hanna Eimermacher.
Mit der Suche nach einer neuen Orientierung ist auch eine Bedeutungsverschiebung verbunden, das „Neue“ in der neuen Musik betreffend. Neu sind heute – nicht nur in Donaueschingen – vor allem die Soundoberfläche und die Darbietungsform. Man kann das auch Verpackung nennen. Aus dem einstigen Anspruch auf Erkenntnis ist ein akzidentieller Erlebniswert geworden, indem das Publikum auch einmal auf dem Boden sitzen oder herumwandern darf. Oder seine Aufmerksamkeit wird mit kleinen happeningartigen Einlagen angestupst, wie bei Bill Dietz und seiner Gruppe von Publikumsaktivisten, die mit kleinen Interventionen wie Beifalls- oder Buhrufen für ein paar Überraschungsmomente in den Konzerten sorgte. Das Publikum sollte dadurch offenbar zu einer kritischen Reflexion des Konzertform angeregt werden. Konzertante Rituale aufbrechen: die Idee ist inzwischen zum Running Gag bei Avantgardeveranstaltungen vor allem in Deutschland geworden. Seit kurzem wissen wir, dass sich dieses Anstupsen auch „Nudging“ nennt und man damit den Nobelpreis gewinnen kann.
Yogamusik und Lautstärkeorgie
Die Bandbreite des mehr als vollgepackten Programms der Donaueschinger Musiktage war groß. Sie reichte von der amerikanischen Yoga-Musik mit aggressionsfreien Streicherklängen und Glöckchengebimmel von Bunita Marcus bis zur halbstündigen, auf Krawall gebürsteten Dancefloor-Performance von Alexander Schubert. Die gnadenlose Entfesselung visueller und akustischer Gewalt legte eine verborgene Konfliktlinie frei, die zwei Lager voneinander trennte: Hier die spitzen Begeisterungsschreie einer Gruppe vermutlich jüngerer Besucher, dort die Buhs derjenigen, die an dem in digitale Slices zerlegten Menschenbild keinen Spaß hatten.
Das Stück funktionierte als eine Art Lackmustest. Im alltäglichen Einsatz im Konzertsaal wird die Digitalisierung widerspruchslos akzeptiert, in ihrer Extremform als entfesselte Technik pur bringt sie jedoch größere Teile des Publikum auf die Barrikaden. Immerhin sorgt das im eher emotionsarmen Kontext eines Neue-Musik-Festivals für einen kleinen Adrenalinschub.
Den digital hochgerüsteten Produzenten dieser Art von Industriekunst steht indes eine desillusionierende Einsicht noch bevor: Ihr Selbstverständnis als kühne Provokateure steht auf wackeligen Füßen, denn der Gleichmachereffekt der Digitalisierung macht auch vor ihnen nicht halt. Auf der bunten Festspielwiese der neuen Musik erscheinen sie nur noch als eine von vielen Trachtengruppen.
Welcome in Germany
Ein anderer „Trachtenverein“ präsentierte sich in einem von Laurent Chétouane choreographierten Konzert des Berliner Ensembles Kaleidoskop. Angesagt war eine Überführung der frontalen Aufführungssituation in eine „multidirektionale Konzertpraxis“. Zu Beginn fährt ein Lkw fährt rückwärts auf die offene Spielfläche, durch die halb geöffnete Ladeluke dringen die Geräuschklänge von Michael von Biels zweitem Streichquartett von 1963. Das Kompositionsjahr verweist auf die Zeit, in der solche offenen Konzertformen ausprobiert wurden.
Was so unkonventionell beginnt, erweist sich alsbald als spätes Echo der „Refugees Welcome“-Kultur. Die Musiker mimen Flüchtlinge, sie stehen verloren herum und produzieren dann und wann einige belanglose Töne. Bedeutungsschweres Schreiten ist angesagt, die Zuschauer werden angehalten, als „Flüchtlingsstrom“ um die Zuschauertribüne herumzuwandern. Empathie wandelt sich in Identifikation und endet bei der Selbsterfahrung: Betroffenheitsrituale der nicht Betroffenen.
Unterschiedliche Erzählstrukturen
Anderen gelang das Geschichtenerzählen besser, zum Beispiel dem achtundachtzigjährigen George Crumb. Seine pianistischen „Metamorphosen“ über Bilder von Whistler bis Jasper Jones sind mächtig aufrauschende Klangerzählungen, von Margaret Leng Tan an Tasten und Saiten mit Zusatzinstrumenten grandios zur Entfaltung gebracht.
Misato Mochizuki knüpft in ihrem Melodram „Têtes“ („Köpfe“) für Stimme und kleines Ensemble an die japanischen Theatertradition des Rakugo an; Dominique Quélen verfasste dazu sechs Geschichten, die mit groteskem Humor vom autonomen Weiterleben abgeschnittener Köpfe handeln. Geisterwelt und Menschenwelt verschmelzen in diesem halbszenischen Grusical zu einem schillernden, mit feiner musikalischer Ironie erzählten Ganzen.
Martin Schüttler wiederum erzählt in „My mother was a piano teacher“, einer auf zwei Räume aufgespaltenen Komposition für zwei Sprecherinnen, Fernensemble (Ensemble Ictus) und Video, seine eigene Kindheitsbiographie. Das wirkt inhaltlich zwar etwas selbstbezüglich, ist aber ein interessanter Versuch, durch eine räumlich-mediale Öffnung eine komplexe Erzählstruktur zu generieren.
Das SWR-Sinfonieorchester bestritt gemäß der Tradition der Donaueschinger Musiktage das Anfangs- und Schlusskonzert, diesmal mit acht Uraufführungen, und erfreulicherweise wurde nun auch der Orchesterpreis wieder verliehen. An die vor zwei Jahren erzwungene Fusion hätten sich die Musiker aber noch nicht gewöhnt, erklärte der Orchestervorstand Frank-Michael Guthman bei der Preisverleihung an den Ungarn Márton Illés. Dessen Komposition „Ez-tér“ beeindruckte durch ihre energische Kraft und den gekonnten Umgang dem Orchester. Der von den Zweckpessimisten prophezeite Tod der Partitur wurde wieder einmal vertagt.