Eduard Brunner und Helmut Lachenmann

Eduard BrunnerDer 2017 kurz vor Vollendung seines 78. Lebensjahrs verstorbene Klarinettist Eduard Brunner war an der Uraufführung von insgesamt vier Kompositionen von Helmut Lachenmann beteiligt. 2005 gab er in einem Gespräch einen Einblick in seine langjährige Zusammenarbeit mit dem Komponisten.

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Wann haben Sie Helmut Lachenmann kennengelernt und die Zusammenarbeit mit ihm begonnen?

Unsere Freundschaft ist ziemlich genau vierzig Jahre alt. Wir begegneten uns erstmals 1967 anlässlich der Einstudierung seines „Trio fluido“, das eine amerikanische Bratschistin in München bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Doch als sie die Noten sah, wollte sie es nicht spielen. Das war eine Enttäuschung für Helmut. Er kam dann mit den Noten zu mir, und ich habe es zusammen mit Michael Ranta und dem Bratschisten Franz Schessl 1968 in Stuttgart uraufgeführt. Das Stück war damals ungeheuer schwierig für uns, besonders was die Notation anging. Die Partitur enthält keine Taktstriche. Vom Stück her ist das absolut logisch, aber für uns, die von Boulez und Stockhausen her an die schwierigen Taktarten und ans strenge Zählen beim Spielen gewöhnt waren, war das echtes Neuland.

Zwei Jahre später folgte dann das Klarinettensolo „Dal niente“, wo Sie von Anfang an eng zusammenarbeiteten. Wie ging das vor sich? Hatte Lachenmann gewisse Klangvorstellungen und Sie zeigten ihm, wie es konkret klingen könnte, oder machte er präzise Vorgaben?

Sowohl als auch. Oft beschrieb er den gewünschten Klang, und dann suchte ich, bis er sagte: Ja, das ist es. Manche Klänge fanden wir auch per Zufall. Und so sind wir auf diese Dinge in der Partitur gekommen: tonloses Spiel mit und ohne Luftbeimischung, Klappengeräusche usw.

Bei Ihrer Aufnahme von „Dal niente“ fällt auf, dass im Grunde genommen alle Geräusche aus dem Schönklang heraus entwickelt sind.

Diese Geräusche sind sehr differenziert, und man muss sie genau so nuanciert artikulieren, wie wenn man einen schönen Ton spielt.

Inwiefern kann man hier noch die Techniken des klassischen Klarinettenspiels anwenden?

Es gibt viele Gemeinsamkeiten. Eine gute Atemstütze ist auf alle Fälle immer gefragt beim Pianospiel; je leiser man spielt, desto mehr muss man stützen. Das ist wie beim Singen. Schwierig ist es, Läufe und ganze Passagen an diesem Punkt anzusiedeln, wie es gleich zu Beginn des Stücks verlangt wird. Man muss genau den Punkt finden, an dem nicht zu wenig und nicht zu viel Ton kommt.  Andererseits stellen sich auch neue technische Anforderungen, weil der Anspruch ein ganz anderer ist. Das Luftgeräusch zum Beispiel wurde bis dahin kaum je so gezielt eingesetzt, und dass ganze Melodiebögen aus Abfolgen von Farbgeräuschen bestehen, war ebenfalls neu. Als Interpret musste ich mir dazu etwas einfallen lassen.

Wie verlief fünf Jahre später die Arbeit an „Accanto“?

Hier war die Zusammenarbeit am intensivsten, ich fuhr oft nach Stuttgart. Er legte mir bereits komponierte Modelle vor, die ich ihm dann vorspielte und die er auf Tonband aufnahm. Bei der Zusammenarbeit zeigte sich auch, welch fantastischen Humor Helmut hat. Ich musste einzelne Phrasen aus Mozarts Klarinettenkonzert spielen und dazu etwas sprechen, wodurch das Original völlig verfremdet wurde. Als ich ihm einmal während der Arbeit sagte: „Das hat doch mit Musik nichts zu tun“, verlangte er, dass ich genau diesen Text zu einer besonders schönen Stelle von Mozart ins Instrument  hinein sprechen sollte.

Hört man das?

Es steht zumindest in der Partitur. Der Satz „Steht das in der Partitur?“ kommt übrigens auch vor. Und als ich einmal sagte: „O Gott, hör doch auf!“, machte er eine große Kadenz mit der Lautfolge „ogotogotogotgtgtgtgt…“, die ich während des Spielens sprechen musste. Das ist übrigens deutlich hörbar.

„Accanto“ stellt eine radikale Neulekture von Mozarts Klarinettenkonzert dar, und manchmal wird das Original ja auch von Tonband kurz eingeblendet. Wie ist das beim Publikum angekommen?

Bei der Uraufführung 1976 in Saarbrücken mit Hans Zender gab es eine ungeheure Aufregung, schon bei den Proben. Das Orchester war entrüstet, es gab Weinkrämpfe und eine Dame bekam einen Nervenzusammenbruch. Wir beide – Helmut vor allem – wurden aufs Übelste beschimpft, und Zender hatte einen schweren Stand. Auch spätere Aufführungen gingen immer knapp am Skandal vorbei. Während der Aufführungen war es zwar totenstill, aber nachher ging jedesmal der Radau los. In Warschau gab es einen ungeheuren Tumult, und ich erinnere mich, wie Penderecki aufsprang und lauthals „Buh!“ schrie. Ein andermal passiert es, dass zwei gepflegte Herren, die direkt vor mir standen, wegen des Stücks sich gegenseitig beschimpften, bis der eine dem andern eine herunterhaute. Darauf bin ich sehr stolz. Ich finde, „Accanto“ ist bis heute das revolutionärste Stück von Helmut.

Wie lange zog sich diese Skandalspur von „Accanto“ dahin?

Das Festival in Metz 1981 war die Wende. Da wurde die Aufführung plötzlich zum Riesenerfolg. Es war wie nach einem Tschaikowsky-Konzert, die Leute riefen Bravo. Und ein paar Tage später, bei der Wiederholung des Konzerts in Paris, wurde Helmut, le grand inconnu, dort als der neue Meister inthronisiert. Seither ist das Stück ein Erfolg, und ich glaube, dass hier auch seine internationale Anerkennung einsetzte.

Ihre vorläufig letzte Zusammenarbeit mit Lachenmann war das 1989 uraufgeführte Trio für Klarinette, Cello und Klavier, „Allegro sostenuto“.

Hier stehen in der Klarinettenstimme in der Regel nur noch Dinge, die er schon früher entwickelt hatte, und das gilt auch für das Cello. Dieses hatte er ja bereits 1969/70 in „Pression“ bis an die Grenzen geführt. Die Neuerungen in „Allegro sostenuto“ betreffen hauptsächlich das Klavier. Helmut hat einmal zu mir gesagt, es seien seltsamerweise immer die Klarinettenstücke gewesen, die eine neue Phase in seiner Entwicklung eingeleitet hätten. Ob das stimmt, möchte ich dahingestellt lassen. Jetzt warte ich auf ein Klarinettenquintett, das er mir schon vor langer Zeit zugesagt hat. Vielleicht schreibt er es, wenn er wieder an einem Neuanfang steht.

Wie sehen Sie Helmut Lachenmanns Stellung in der zeitgenössischen Musik?

Für mich ist er der bedeutendste Mann. Ich habe ihn immer grenzenlos bewundert, weil er stets den Mut hatte, offen zu seinen Überzeugungen zu stehen. Er musste viele Rückschläge hinnehmen und unter Misserfolgen leiden. Deswegen freut es mich, dass er jetzt endlich Erfolg hat, und man kann nur hoffen, das er anhält und dass die jüngere Generation allmählich darauf kommt, diese Stücke zu spielen. Es ist ein Jammer, dass ein Stück wie „Accanto“ bisher so wenig gespielt wurde, gerade von den jüngeren Klarinettisten.

Es ist ein Wagnis für die Veranstalter.

Es braucht überzeugte Dirigenten wie Eötvös, Zender, Zagrosek oder Gielen, die die nötige Autorität haben, diese Art von Musik beim Orchester durchzusetzen. Wenn Lachenmann ein ganzes Orchester einfach tonlos über Saiten streichen lässt, dann benötigt das die genau gleiche Konzentration wie ein schön gespielter Ton, und wenn da nur einer nicht aufpasst, so dass es quietscht oder ungewollt ein Ton entsteht, dann ist die ganze Stelle futsch. Solche Aktionen verlangen größte Konzentration. Da gibt es oft psychische Sperren, denn die Orchestermusiker haben das nicht gelernt. Sie mussten viele Jahre ihres Lebens darauf verwenden, schön zu spielen, und dann wird plötzlich etwas von ihnen verlangt, das ihrer Ästhetik vollkommen zuwiderläuft. Also fühlen sie sich beleidigt und nehmen die Sache nicht ernst. Hier liegt nach meiner Beobachtung das große Hindernis. Aber bei den Jüngeren scheint sich das zu ändern, denn sie lernen auch das Neue. Von meinen Studenten darf zum Beispiel keiner ein Diplom machen, ohne „Dal niente“ gespielt zu haben.

© 2005 Max Nyffeler
Das Interview entstand am 31.10.2005 in München.
Printversion: Neue Zeitschrift für Musik, 1/2006, S. 32-33

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