„Die Zeiten klingen zusammen, nicht im Sinne einer Harmonie, sondern oft genug als Widerspruch“, heißt es in einer Notiz von Hans Zender zu seinen „komponierten Interpretationen“, den künstlerischen Neudeutungen alter Werke. Es ist ein typischer Zender-Satz. Und am Schluss seiner Überlegungen zur kreativen Neulektüre alter Werke fasst er seine von wachem Einfühlungsvermögen geleitete Künstlerhermeneutik so zusammen:
„Das alles scheint paradox. Aber in dieser Paradoxie geschieht die Weitergabe geistigen Lebens, welche immer als Dialog verschiedener Zeiten vonstatten gehen muss: als ein Gespräch zwischen vergangener und gerade vergehender Zeit, zwischen alter und junger Mentalität, zwischen altem und erneuertem Lebensgefühl.“
Die Idee, dass sich Gegensätze in eine spannungsvolle Harmonie zueinander bringen lassen, war eine für Hans Zender charakteristische Denkfigur, und mit dem Verweis auf Heraklit benutzte er dafür gerne den Begriff der „gegenstrebigen Fügung“. Die Zitate beschreiben überdies sehr genau Zenders künstlerische Position im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Sie bezeugen nicht nur seinen Respekt vor den großen Werken der Vergangenheit, sondern auch seine Offenheit gegenüber neuen Tendenzen im aktuellen Schaffen, an dessen lebendige Kraft er zeitlebens glaubte. Auf Kritik an zeitgeistiger Massenware verzichtete er dabei nicht. Seine ganze künstlerische Laufbahn spielte sich in diesem Spannungsfeld von Vergangenheit, die für ihn nichts Abgeschlossenes war, und einer stets im Werden begriffenen Gegenwart ab.
Praktisches Musizieren, Komposition und das Nachdenken über die Musik verschmolzen zu einer Einheit, und das Erstaunliche war, dass seine geistige Aktivität trotz zunehmender körperlicher Hinfälligkeit und unaufhaltsamer Erblindung bis kurz vor seinem Tod anhielt. Bis am Schluss blieb er in Kontakt zur Welt. Briefe, Emails, Zeitungkritiken und wissenschaftliche Artikel ließ er sich von seiner Frau Gertrud und treuen Helfern vorlesen, seine eigenen, den Kern einer Sache stets ohne Umschweife erfassenden Gedanken diktierte er praktisch druckreif, aber nicht ohne sie einer gründlichen Endredaktion zu unterwerfen.
Es gab es für ihn nichts Halbfertiges; nicht nur seine Texte, auch seine Partituren sollten zu einem guten Ende gebracht werden. Und schließlich auch sein Leben: In der Nacht zum 23. Oktober, einen Monat vor seinem 83. Geburtstag, machte der Körper dann Schluss und ließ diesen hellwachen Geist im Stich.
Tradition und Fortschritt zusammengedacht
Hans Zender gehörte zu den Letzten einer Generation, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg den Aufbau einer neuen Musik vorantrieb. Seine künstlerische Entwicklung hatte früh eingesetzt, von Anfang an mit der charakteristischen doppelten Orientierung auf Gegenwart und Vergangenheit.
In Wiesbaden, wo er 1936 geboren wurde, konnte er als Dreizehnjähriger in den Maifestspielen die großen Dirigenten wie Carl Schuricht, langjähriger Chef des Orchesters, Karl Böhm oder Günter Wand hören und die Proben besuchen. Er lernte Furtwängler und Edwin Fischer kennen, nahm Klavier- und Orgelunterricht, und gleichzeitig entdeckte er „in höchster Erregung“, wie er 2018 Jahren in einer konzentrierten Selbstdarstellung notierte, die ihm bis dahin völlig unvertraute Neue Musik. Ab 1949, also noch als Schüler, besuchte er jährlich die Darmstädter Ferienkurse. Hier machte er Erfahrungen, die ihn lebenslang prägen sollten, er lernte die Schönbergschule kennen, die Musik von Olivier Messiaen, die uneuropäisch fremde Welt von John Cage.
„Das waren natürlich unglaubliche Gegensätze, aber als junger Mensch kann man das alles irgendwie unter einen Hut bringen!“
So schrieb er in dieser Selbstdarstellung, die er für den Filmregisseur Reiner Moritz und mich im Hinblick auf die Aufnahmen für ein einstündiges Filmporträt schrieb, die wir mit ihm im April 2018 im „Glaserhäusle“, seinem Wohnsitz in Meersburg am Bodensee, machten.
Neue Horizonte mit Bernd Alois Zimmermann
Als aktiv Gestaltender trat Hans Zender erstmals in den frühen Sechzigerjahren in Erscheinung, als die erste Phase der Nachkriegsmoderne endete und es um die Auflösung der seriellen Verhärtungen und Widersprüche ging. Wie alle, die sich damals dem musikalischen Fortschritt verpflichtet fühlten, hatte auch er sich bestimmte Verfahren des Serialismus angeeignet, doch er sollte sein kompositorischer Weg anders verlaufen:
„Es geschah aber bei mir wirklich ausschließlich durch die Praxis, und nicht durch theoretische Spekulationen. Deswegen war mir auch die merkwürdige Wendung von der Theorie zur abstrakten Technologie, wie sie bei Stockhausen und etwas anders auch bei Boulez stattfand, letzten Endes fremd: Mir fehlte etwas, ein missing link.“
Den fand er bei Bernd Alois Zimmermann. Er lernte ihn 1963/64 in der Villa Massimo in Rom kennen, und aus der Begegnung entwickelte sich eine Freundschaft, die bis zu Zimmermanns Tod anhielt und 1972 in der Uraufführung der Ekklesiastischen Aktion „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“ in Kiel eine posthume Bekräftigung fand. Über Zimmermanns Musik notierte Zender:
„Hier gab es weder eine im alten deutschen Pathos verklumpte falsche Musikideologie, noch eine rationalistisch pseudocoole Mathematik, sondern den Blick auf die existentielle Expressivität als einzig authentische Möglichkeit des Künstlers. Alle modernen Techniken mussten verstanden, integriert und beherrscht werden, durften aber nicht die Fähigkeit der affektiven Erschütterung der Kunst versperren.“
Die Musik und der Logos
Eine zweite entscheidende Begegnung hatte Zender mit dem Philosophen und Heidegger-Schüler Georg Picht, dem Ehemann von Edith Picht-Axenfeld, bei der er in Freiburg Klavier studiert hatte. Picht machte ihn mit den griechischen Philosophen bekannt und weckte sein Interesse an der Wahrnehmungsproblematik. Das Nachdenken über Auge und Ohr als Instrumente der Wahrnehmung und vor allem die Frage, wie sich die hörende von der begrifflichen Erkenntnis unterscheidet, ließen Zender bis zu seinem Tod nicht mehr los.
Von Picht führte ihn der Weg weiter zu Jean Gebser und dessen Idee einer „diaphanen“ – für den Blick des Anthropologen durchlässigen – Überlagerung der kulturellen Zeitalter. Aus dieser Sicht gibt es keinen Zeitpfeil, bei dem das Neue das Alte vernichtet; die Epochen lösen sich nicht ab, sondern bleiben in unserem Bewusstsein in unterschiedlichen Präsenzgraden erhalten. In dieser Schichtung historischer Entwicklungsstufen, die sich durch fortschreitende Rationalität des Denkens auszeichnet, schimmert von ganz unten ein mythologischer Urgrund durch, wo Sprache und Musik noch eine Einheit bilden. Den gemeinsamen Nenner erblickte Zender, Jean Gebser folgend, im „Logos“ der Vorsokratiker.
Die „Patmos“-Hymne von Hölderlin und der Johannesprolog
Bei diesen sprachphilosophischen Überlegungen musste Hans Zender fast zwangläufig auf Hölderlin und dessen musikalisierte Sprache stoßen. Fünfmal befasste er sich zwischen 1979 und 2012 in seiner kammermusikalischen Werkreihe „Hölderlin lesen“ mit dessen Texten. Sein Denken kreiste immer wieder um die „Patmos“-Hymne, wo er in Hölderlins Vision eines christlichen Arkadiens die theologischen Weiterungen im Johannes-Evangelium aufspürte. In „…denn wiederkommen… (Hölderlin lesen III)“ für Sprechstimme und Streichquartett nehmen diese religionsphilosophischen Gedanken in verschlüsselten Konfigurationen musikalische Gestalt an.
Den Anfang des Johannes-Prologs („Am Anfang war das Wort…“) übersetzte Hans Zender, der kritisch-nachschöpferische Leser, mit „Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei dem Gott/und Gott war der Logos“. Und in Hölderlins enigmatischer Aussage „über die Berge zu gehen / Allein, wo zwiefach / Erkannt, einstimmig / War himmlischer Geist“ erkannte er
„das unbegreifliche und nur als Paradox aussagbare Rätsel, dass Logos, der Sohn, verschieden von Theos, dem Vater, ist – und gleichzeitig mit ihm eins“.
Das rational nicht zu erfassende Geheimnis der christlichen Trinität, das er in seinem Aufsatz „Ausgehend von Hölderlin…“ aus der musikphilosophischen Perspektive betrachtet hatte, brachte er einige Jahre später im Essay „Der Johannesprolog und das ‚Hannya Shingyo’, Versuch eines Vergleiches“ mit dem Buddhismus in Verbindung – ein kühner Brückenschlag über alle kulturellen und religiösen Grenzen hinweg. Damit brachte er die großen Entwicklungslinien in seinem Werk – die Suche nach einem gemeinsamen Nenner von Sprache und Musik, von rationaler und nichtrationaler Welterkenntnis, und die Öffnung zu fernöstlicher Philosophie und Kunst – auf hohem Reflexionsniveau zur Synthese.
Brückenschlag zum Zen-Buddhismus
Mit dem Zen-Buddhismus war Hans Zender 1972 erstmals bei einer Tournee mit den Münchner Philharmonikern nach Japan in Berührung gekommen, und im Lauf der Jahrzehnte entwickelte sich aus dem Interesse für das Fremde eine tiefe Affinität, die sich in seinem Werk auf vielfältige Weise niederschlug und im Lauf der Jahre zu einer einzartigen Sammlung von zen-buddhistischen Kalligrafien führte.
Auch in seiner vom fernöstlichen Denken beeinflussten Werkreihe setzte Hans Zender einen beeindruckenden musikalischen Schlusspunkt, in dem die Weite seines geistigen Horizonts beispielhaft zum Ausdruck kommt: Die Vertonung des buddhistischen Herz-Sutras „Hannya Shingyo“. Es gibt davon zwei Fassungen. Die im kraftvollen Tonfall eines lutherischen Chorals gehaltene Version für Männerchor und Orchester aus dem Jahr 2014 wirkt noch stärker als die zwei Jahre zuvor entstandene Erstfassung mit Bariton solo. In einer Reflexion über diesen Grundlagentext des Buddhismus setzte Zender die Begriffe „ku“ und „shiki“ – Symbole für das absolute Sein und die sinnlich wahrnehmbare Welt – in Parallele zu den christlichen Vorstellungen von Theos und Logos und fragte:
„Vater und Sohn der trinitarischen Tradition, entsprechen sie nicht der ruhenden und der schöpferischen Seite der Wirklichkeit im buddhistischen Denken?“
In der breiten Öffentlichkeit ist Hans Zender vor allem als Dirigent wahrgenommen worden. Nach seiner Ausbildung in Frankfurt und Kompositionsstudien bei Fortner in Freiburg wurde er mit 27 Jahren in Bonn der jüngste Chefdirigent an einem Opernhaus. Weitere Verpflichtungen folgten in Kiel, beim Saarländischen Rundfunk, als Gastdirigent bei der Opera national in Brüssel und beim SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg.
An all diesen Orten, auch als weltweit gefragter Gastdirigent, bemühte er sich konsequent um die Einbeziehung der zeitgenössischen Musik in das Repertoire. Unzählige Uraufführungen sind ihm zu verdanken. Ohne seine hohe kompositorische Intelligenz, verbunden mit einem unbestechlichen Ohr und einem kritischen Sinn, der zwischen Tagestrends und Werken mit künstlerischer Substanz zu unterscheiden wusste, wäre das freilich nicht gegangen.
„Happy New Ears“
Am klarsten kam Zenders Eintreten für eine neue Musik und ein neues Hören in der Konzertreihe zum Ausdruck, die er in den Neuzigerjahren mit dem Ensemble Modern gegründet hatte und die unlängst ihre hundertste Folge erlebte: „Happy New Ears“. Nach ihr ist auch der Preis benannt, den die Hans und Gertrud Zender Stiftung alle zwei Jahre für besondere Leistungen in den Bereichen Komposition und Publizistik zur neuen Musik vergibt.
Der fröhliche Wunsch für glückliche Ohren und ein ebensolches Hören stammt von John Cage, und Hans Zender machte daraus die griffige Losung für eine einzigartige Form von musikalischer Vermittlungstätigkeit. In den Konzerten kommt nur ein einziges Stück zur Aufführung – egal, ob Repertoirewerk oder Uraufführung. Es wird in Anwesenheit des Publikums einstudiert und diskutiert, und zum Schluss wird das Stück noch einmal konzertreif als Ganzes gespielt.
Nach Zenders Vorstellungen sollten sich die Zuhörer – die Ohren gespitzt, das Denken im Wachzustand – von bloß passiv Wahrnehmenden in aktiv Mitwirkende verwandeln und hörend zu Erkenntnissen gelangen, die sie bei der bloßen Wahrnehmung eines fertigen Endprodukts nicht hätten machen können:
„Es geht um die individuelle Beteiligung sowohl des Ausführenden wie des Komponisten und des Publikums. Beschworen wird das, was im musikalischen Sinn der Geist ist, also die durch Klänge bewegte Aura, die uns etwas zu sagen hat.“
Nicht nur der passive Musikkonsum, sondern auch das selbstgenügsame Schaffen im Elfenbeinturm sollte damit überwunden werden. Kunst, so Zenders Überzeugung, kann ihr humanistisches Potenzial nur im lebendigen Dialog zwischen den schöpferisch Tätigen und dem Publikum entfalten.
Der uneigennützige Interpret und Förderer
Hans Zender leistete Dienst an der Musik, nicht Dienst am eigenen Ego. Glamouröse Selbstinszenierung war nicht seine Sache, dazu war er zu sehr selbstkritischer Verstandesmensch. Er war der Typ des „getreuen Korrepetitors“, wie ihn Adorno charakterisierte: ein der musikalischen Sache nach bestem Wissen und Gewissen sich hingebender Interpret. Allenfalls im privaten Gespräch wies er mit leichtem Stolz auf die Tatsache hin, dass seine „komponierte Interpretation“ von Schuberts „Winterreise“ weltweit schon über vierhundert Mal gespielt wurde – vom Ural, wo sie Teodor Currentzis in Perm aufführte, bis zur Ballettversion am Zürcher Opernhaus.
Die Folge seines primär sachbezogenen Denkens war, dass er zwar von den zahllosen Komponisten, denen er als Dirigent aufs Karrierewägelchen geholfen hatte, in den höchsten Tönen gelobt wurde, aber selbst über keinerlei Hilfstruppen verfügte, die ihm zum Beispiel den Weg zum Siemens-Preis geebnet hätten. Vielleicht war er auch zu unbeirrbar im Denken und zu direkt in seinen Aussagen. Gertrud Zender erinnert sich an die Bemerkung, die ein Hamburger Orchestermanager vor Jahren einmal machte: „Der Zender meint immer das, was er sagt.“ So etwas bringt nicht überall Freunde.
Dirigieren und Komponieren gingen in Hans Zenders Leben Hand in Hand. Die vielseitigen Erfahrungen, flossen in seiner schriftstellerischen Tätigkeit zusammen. Bis ins hohe Alter war er fasziniert vom Phänomen der hörenden Wahrnehmung, die nach seiner tiefen Überzeugung unabdingbar zu einem humanistisch geprägten Menschenbild gehört. Das war der verborgene Cantus firmus in seinen vielen über die Jahrzehnte hinweg entstandenen Reflexionen über Musik, Musiker und Öffentlichkeit.
Der Musikschriftsteller Hans Zender
Auf diese Thematik, das Hören als Erkenntnisakt, verweisen seine Buchveröffentlichungen schon im Titel : die um die Frage der Wahrnehmung und ihre geistige Dimension kreisende Aufsatzsammlung „Denken hören – Hören denken. Musik als eine Grunderfahrung des Lebens“; der von Jörn-Peter Hiekel herausgegebenen Band von Zenders Schriften zur Musik „Die Sinne denken“; die Meditationen über Zen-Kalligraphien „Sehen Verstehen Sehen“; und als philosophische Schlussbilanz, schon mit dem Blick des Abschiednehmenden, der wenige Wochen vor seinem Tod erschienene Essayband „Mehrstimmiges Denken“. In all diesen Texten dominiert die Sicht des aufmerksam hörenden, die Welt in ihrer Tiefe wahrnehmenden Musikers und Musikdenkers, für den sein Fach nie bloßes Handwerk, sondern stets Mittel der Erkenntnis und eine Brücke zum sprachlich nicht Erfassbaren war.
In Meersburg am Bodensee, wo er schon als Kind die letzten zwei Kriegsjahre durchlebt hatte, verbrachte Hans Zender seine letzten Jahre im „Glaserhäusle“ hoch über den Weinbergen mit Blick in die Ferne – ein geistiger Kraftort, wo hundert Jahre zuvor der Sprachphilosoph Fritz Mauthner gewohnt hatte, dessen Bücher nun seine eigene Bibliothek ergänzten, und wo er die alte Tradition der Gastfreundschaft mit Menschen aus allen kulturellen Bereichen weiterführte. Es war ein Treffpunkt der wachen Geister, von denen Hans Zender der wachste war.
Dieser Text ist eine erweiterte Fassung des Nachrufs, der in der Zeitschrift MusikTexte Nr. 163 (November 2019) erschienen ist.