In ihrem Musiktheaterstück Et cetera verleiht die russische Komponistin Marina Khorkova den Opfern des stalinistischen Gulag eine Stimme.
Musiktheater kann alles, heißt es, und angeblich sind den Darstellungsmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt. Doch was ist, wenn der Gegenstand so monströs ist, dass er das Musiktheater zu erdrücken droht? Die Frage stellt sich zum Beispiel bei einer Auschwitz-Oper; hier verbietet sich eigentlich jede Ästhetisierung. Sie stellt sich auch beim Thema Gulag, das nicht weniger schreckensbeladen ist. In Russland, so ist zu hören, wird das Thema in der öffentlichen Diskussion noch immer nach Möglichkeit verdrängt. Es ist das düsterste Kapitel in der mörderischen Geschichte des Stalinismus in der Sowjetunion, und die Millionen von Toten, die dem verbrecherischen System zum Opfer fielen, geistern heute durch das kollektiven Bewusstsein wie Untote, die nicht zur Ruhe kommen und auch die Lebenden nicht in Ruhe lassen.
Da ist es schon bemerkenswert, dass eine junge russische Komponistin, die 1981 geborene Marina Khorkova, den Mut gefunden hat, zusammen mit der Regisseurin Ekaterina Vasileva und der Bühnengestalterin Sonya Kobozeva die Gulag-Thematik zum Gegenstand eines Bühnenwerks zu machen. Marina Khorkova lebt zur Zeit in Berlin, gerade ist eine Doppel-CD mit Kammermusik- und Ensemblewerken von ihr erschienen. Ihr Musiktheaterstück heißt „Et cetera“ und wurde nun am 26. Juni in Winterthur im Theater am Gleis, einem Ort für zeitgenössische Musik und szenische Experimente, uraufgeführt.
Solschenizyns „Archipel Gulag“ als Anregung
Initiiert und organisiert wurde die Produktion durch das rührige Ensemble des Theaters am Gleis. Sie basiert auf Solschenizyns „Archipel Gulag“ und ist vermutlich das erste Bühnenwerk, das sich vorbehaltlos auf dieses Thema einlässt. Der Titel Et cetera verweist auf das örtlich und zeitlich grenzenlose System der Unterdrückung. Wer aus dem Lager zurückkam, war in seiner Bewegungsfreiheit und Berufsausübung dauerhaft eingeschränkt und blieb eine gebrochene Existenz.
„Man dachte, das alles sei ferne Geschichte, die dramatische und finstere Seite der Geschichte“, schreibt die Sopranistin Natalia Pschenitschnikova im Programmheft. „Aber ist das so fern? Noch leben die Kinder der Eltern, die man nachts abholte und unbekannt wohin verschleppte, und viele von denen, die nicht in den Fleischwolf der Vernichtung all jener gerieten, die unter den geringsten Verdacht der ‚Illoyalität’ gegenüber der Staatsmacht fielen.“
Eine Fotoausstellung im Foyer des Winterthurer Theaters stimmt auf die Aufführung ein. Man sieht von Schrecken gezeichnete Gesichter, die an die Porträts von deutschen KZ-Häftlingen erinnern, dann brutale Bilder von Hinrichtungen sowie Videos, in denen Gulag-Opfer von ihren Gerichtsverfahren berichten.
Die Dokumente stammen aus dem Moskauer Gulag-Museum und wurden auf Initiative der Komponistin hier ausgestellt. Im Theater, auf der dunkel gehaltenen Bühne mit dem Sandboden in der Mitte, nimmt der stumme Schrecken dann klingende Gestalt an.
Die Stimme als Ausdrucksträger
Aus gutem Grund hat es Marina Khorkova unterlassen, Texte singen zu lassen. Diese erscheinen nur in gesprochener Form: als Erlebnisberichte, als Zitate aus Dokumenten oder politischen Schriften. Ansonsten werden die Stimmen als reiner Ausdrucksträger eingesetzt, und da hört man die Laute der Geknechteten und Misshandelten im Rohzustand: Heulen, Schreien, Stammeln, Röcheln bis hin zum tonlosen Atmen – der unverstellte seelisch-körperliche Ausdruck des auf elementare Daseinsformen zurückgeworfenen Menschen. Das basiert auf den Vokaltechniken, wie sie Dieter Schnebel um 1970 in seinen „Maulwerken“ entwickelt hat.
Die Stimmen der beiden Vokalisten Natalia Pschenitschnikova und Michel Poels verschmelzen mit mikrofonierten Bühnengeräuschen, Elektronik, verfremdeten Klängen der sieben Instrumente und konkreten Geräuschen aus den Lautsprechern. (Video) Musikalisch ist das von starker Wirkung, auch wenn einiges im Interesse eines durchgehenden Spannungsbogens zeitlich noch gestrafft werden könnte. Als dritter Darsteller verkörpert der Tänzer Simon Wehrli, dessen Körper kalkweiß eingefärbt ist, das namenlose Individuum, das dem Unterdrückungsapparat hilflos ausgeliefert ist.
Performance-Charakter von Et cetera
Die Bühnenaktionen der drei Darsteller bilden eine Folge von Szenen, die Titel wie „Mechanismus“, „Zelle“, „Kanalisation“ oder „Vakuum“ tragen und jeweils um einen angedeuteten Handlungskern herum angelegt sind. Die Bühne ist als düsterer Kubus gestaltet, mit der kleinen Spielfläche in der Mitte und auf drei Seiten begrenzt durch schwarze, durchsichtige Gazevorhänge, die auch als Projektionsfläche dienen. Auf ihnen werden schemenhaft Bilder aus dem Schattenreich des Gulag sichtbar, und mit der großflächigen Projektion von vielen Porträtaufnahmen entsteht eine Art von weltlicher Ikonostase, die mit ihrer flüchtigen Erscheinung an die vergessenen Opfer erinnert.
Die Musiker und der Dirigent Karel Valter befinden hinter diesem Vorhang rings um die quadratische Spielfläche herum aufgereiht, und gegen Schluss werden sie selbst zu Akteuren: Sie legen sich in den Bühnensand als namenlose Tote; ihr einziges Identifizierungsmerkmal ist die gut sichtbare Häftlingsnummer auf der Brust.
Mit der körperbetonten Darstellungsweise und dem Verzicht auf eine durchgehende Handlung besitzt Et cetera Züge einer szenisch-vokalen Performance mit experimentellem Charakter. Mit den unverbindlichen Materialexperimenten, die heute zum inflationären Angebot der Musikfestivals gehören, hat das Bühnenwerk von Marina Khorkova jedoch nichts zu tun. Es ist eine starke Parteinahme für das menschliche Leben, formuliert mit intelligent eingesetzten musikalischen Mitteln und unterstützt durch eine aussagekräftige Inszenierung. Wieder einmal zeigt sich: Auf dem Feld der engagierten Musik ist nichts so überflüssig wie gut gemeinte Parolen und selbstzweckhafte theoretische Überlegungen. Das einzige, was zählt, ist der Mut zum Aussprechen der Wahrheit. Der Rest ergibt sich bei entsprechender Begabung von selbst.
Max Nyffeler
Marina Khorkova: Et cetera, ein experimentelles Musiktheater nach Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“. Uraufführung am 26. Juni 2016 im Theater am Gleis, Winterthur.