Der Komponist im Spiegel seiner locker erzählten Autobiografie
George Antheil erinnert sich, wie er in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg das europäische Konzertpublikum in Aufregung versetzte:
Skandale wurden bei meinen Konzerten fast etwas Alltägliches, weil ich einer der wenigen Pianisten jener Zeit war, die jedes Konzert mit einer modernen Gruppe abschlossen – am liebsten mit den Hypermodernen. Ja, ich endete sogar stets mit ein oder zwei meiner eigenen Sachen – den „Mechanisms“, der „Jazz Sonata“, „Fireworks and the Profane Waltzes“, der „Sonata Sauvage“ oder etwas ähnlich Kakophonem. (Über seine Konzertauftritte)
Ich schrieb in dieser Zeit noch eine weitere Sonate, obwohl ich fast glaube, man kann sie nicht Sonate nennen, weil sie acht Sätze hat. Fröhlich nannte ich sie also „Mechanisms“. Für mich war sie deshalb bedeutungsvoll, weil sie den Anfang jener musikalischen Einstellung bezeichnete, die einmal zum „Ballet mécanique“ – und zu Pfeifkonzerten in der Carnegie Hall – führen sollte. (Über das Klavierstück „Mechanisms“)
Ich habe ein Stück geschrieben – ein „Über-Jazz-Stück“, wie sie es nennen, und sogar Gershwins beste Freunde versichern mir, dass es Gershwin in den Schatten stellt – es ist eine Tour de force des heutigen Amerika. (Über die „Jazz Symphony“)
Dann griff ich zu einem Bogen Papier und schrieb wie in einer spiritistischen Séance eine ganze und sehr schwierige Klaviersonate herunter, die „Airplane Sonata“. Ich nannte sie so, weil mir das Flugzeug als Symbol besonders bedeutsam für jene Zukunft erschien, in die ich zu entfliehen wünschte. (Über die „Airplane Sonata“)
George Antheil wurde 1900 in Trenton/New Jersey geboren. Seine Eltern waren rechtschaffene Kleinbürger, der Vater Handelsvertreter, die Mutter Farmerstochter. An einem Weihnachtstag kam es zum entscheidenden Moment im Leben des kleinen bösen Buben:
Ich wollte ein Klavier, mehr als alles andere – ein Klavier. Meine Tante nebenan spielte Klavier, und das wollte ich auch. Mit andern Worten: Mit drei Jahren wollte ich Musiker werden. Zu Weihnachten wünschte ich mir ein Klavier, und ich bestand darauf: ein richtiges Klavier und kein Spielzeugklavier, wie man es in den Spielzeugläden findet. Das stellte ich klar. Und dann kauften mir meine Eltern zu Weihnachten ein Spielzeugklavier. Ich kam die Treppe herunter und sah es. Und ohne ein Wort zu sagen, ging ich in den Keller, holte eine Hacke und schlug es entzwei. Das ist symbolisch für mein ganzes Leben: Wenn in der Musik nicht all das drin ist, was ich mir vorgestellt habe, möchte ich sie am liebsten verbrennen – ich möchte nichts mehr damit zu tun haben. Mit anderen Worten: Ich bin eine Art musikalischer Idealist, ein schöpferischer Mensch – alles oder nichts.
Ein Komponist zwischen Amerika und Europa
George Antheil, geboren an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, hatte den gleichen Jahrgang wie Kurt Weill und Ernst Krenek. Und wie bei diesen haben auch bei ihm die katastrophischen Ereignisse der ersten Jahrhunderthälfte ihre Spuren in Leben und Werk hinterlassen. Alle drei übersiedelten beim Heraufkommen des Nationalsozialismus in Europa in den dreißiger Jahren in die USA. Doch während Weill und Krenek emigrierten, war es für den Amerikaner George Antheil, der 1922 als junger, unternehmungslustiger Komponist und Pianist nach Europa gekommen war, eine Heimkehr. Für alle drei war es jedoch ein Bruch in der Biografie und im Werk. Verwundert stellte Antheil nach seiner Rückkehr nach Amerika fest:
Ich bin amerikanischer Komponist. Ich habe nicht immer hier gelebt, aber ich bin hier geboren. In Europa hieß es stets, ich sei amerikanisch. Und nun erklären alle Leute in Amerika – oder wenigstens in New York –, ich sei europäisch. Persönlich glaube ich weder das eine noch das andere. Eins von beiden muss falsch sein.
Als George Antheil 1933 nach Amerika zurückkehrte, hatte die Machtergreifung Hitlers gerade der Schlusspunkt hinter das turbulente Musikleben gesetzt, das seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in Europa seine bunten Blüten getrieben hatte. Schluss mit dem avantgardistischen Übermut, und Schluss mit der Bürgerschreckpose, von der die Künstler in Metropolen wie Paris oder Berlin ganz einträglich leben konnten. Die graue Depression hielt Einzug.
Amerika wiederum, das Land der Freiheit, hatte nichts zu bieten, was auch nur von ferne mit dem frivolen Musikleben in den europäischen Kulturhauptstädten vergleichbar gewesen wäre. Eine puritanische Gesellschaft, in der Geldverdienen erste Bürgerpflicht war und avantgardistische Eskapaden keinerlei Tauschwert besaßen. Außer sie ließen sich als Entertainment vermarkten, wie es Antheil bei einem denkwürdigen Abstecher von Paris nach New York schon 1927 erlebt hatte.
Doch dazu später mehr.
Ein Amerikaner in Berlin…
George Antheil war 1922 als Zweiundzwanzigjähriger nach Europa gekommen, und wenn man seinen blumig erzählten Memoiren Glauben schenken kann, waren die Gründe für seine Reise so eigensinnig wie seine musikalischen Ideen. Er hatte er sich in eine blonde Sechzehnjährige verliebt, und als die besorgten Eltern das Mädchen heimlich nach Europa schickten, beschloss er wie ein Romanheld, sich in der Fremde auf die Suche nach der Angebeteten zu machen.
Die Blonde fand er zwar nicht wieder, dafür traf er in Berlin auf die schwarzhaarige Ungarin Boski Markus, die seine Frau werden und später mit ihm in die USA zurückgehen sollte. Sein Europa-Unternehmen hatte Antheil mit Hilfe des New Yorker Agenten Martin Hanson gestartet, der einen vielversprechenden jungen Pianisten für Konzerte in Europa gesucht hatte. Hanson, so berichtet Antheil, gab ihm genaue Anweisungen:
Ich nehme Sie mit nach London und arrangiere ein Konzert in der Wigmore Hall. Ist es ein Erfolg, dann gehen Sie nach Berlin und feilen Ihren Beethoven bei Artur Schnabel aus. Wird es kein Erfolg, fahren Sie nach Amerika zurück und vergessen den Vorfall. Gelingt es Ihnen, die Wigmore Hall und Schnabel zu überstehen, sorge ich für eine ganze Reihe von Konzerten in Deutschland, Österreich und Italien.
… und bei den Deutschmusikern in Donaueschingen
Unterwegs änderte Hanson jedoch seinen Plan und ging mit seinem Schützling direkt nach Donaueschingen, wo auf Einladung des Fürsten von Fürstenberg die im Jahr zuvor gegründeten Musiktage stattfanden.
Ich fragte mehrere deutsche Musiker, warum keine modernen Komponisten aus dem Ausland auf dem Programm stünden. „Was!“ riefen sie im Chor, „gibt es denn überhaupt neue Musik von ausländischen Komponisten?“ Sie waren aufrichtig, und über diese Aufrichtigkeit war ich erschrocken. Nicht alle Komponisten und Musiker dieser Festtage waren so ahnungslos. Die Klügsten wussten genau Bescheid – sie merkten es an den verringerten Tantiemen und an dem plötzlichen Widerspruch der Außenwelt gegen die jahrhundertealte „Überlegenheit“ der deutschen Musik. Dennoch waren nicht einmal diese imstande, zu ihrem eigenen Nutzen das zu begreifen, was dem Musikverstand des Durchschnittsdeutschen immer unfasslich geblieben ist, nämlich dass „wahre“ Musik möglicherweise auch außerhalb der Grenzen von Deutschland-Österreich-Ungarn komponiert werden kann. Sie vermochten es einfach nicht zu fassen. Es war eine geistige Hürde, die keiner von ihnen – vielleicht Hindemith und Krenek ausgenommen – zu überspringen vermochte.
In Donaueschingen stieß ich, das Symbol des unerprobten jungen Amerika, überall auf diese Einstellung.
Die einzigen, die in Donaueschingen Interesse an Antheil und der neuen amerikanischen Musik bekundeten, waren paradoxerweise zwei, wie er anmerkt, „monokelbewaffnete junge Preußen“: Der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt und sein Freund, der Dirigent Rudolf Schulz-Dornburg. Schulz-Dornburg brachte kurz darauf in Berlin seine erste Sinfonie mit den Philharmonikern zur Uraufführung. Antheil tauchte in das Berlin der Nachkriegszeit ein. Und so erlebte er die frühen zwanziger Jahre:
In Berlin hatte die wirkliche Hungerszeit begonnen. Das Geld, das die Menschen gespart hatten, war nichts mehr wert. Frauen und Mädchen aus den besten Kreisen gingen auf die Straße. Alles war schon verkauft worden. Nun verkauften sie sich selber. Es gab einfach zu viele Frauen. Die meisten deutschen Männer waren gefallen oder Krüppel geworden. Es war seltsam, in jenen Tagen in Berlin ein junger Ausländer mit Geld, mit genügend Geld zu sein.
Sonderbare Begegnung mit Strawinsky
Der Amerikaner Antheil im Nachkriegs-Berlin, nicht nur mit genügend Geld, sondern auch mit einer völlig neuartigen, vom Tempo des technischen Zeitalters durchpulsten Ästhetik in Gepäck. Doch der Clash of Civilizations, der hier stattfand, war künstlerisch nur begrenzt fruchtbar. Antheil fristete sein Leben als Pianist, der seine Beethoven-Chopin-Brahms-Programme mit eigenen Stücken beendete und das Publikum damit in Aufruhr versetzte. Auf diese Zeit bezieht sich auch seine Anekdote, er habe vor Beginn des Konzerts demonstrativ seinen Revolver, den er als waschechter Amerikaner immer bei sich trug, auf das Klavier gelegt, um die Zuhörer einzuschüchtern. Berlin ödete ihn an.
In die Berliner Zeit fällt auch die für ihn ungemein wichtige Begegnung mit Igor Strawinsky, der sich hier mehr oder weniger freiwillig zwei Monate lang aufhielt. Die beiden trafen sich täglich zum Essen und führten intensive Gespräche. Doch später entzweiten sie sich. Strawinsky behauptete, Antheil hätte sich ihm aufgedrängt, und Antheil meinte, Strawinsky hätte bei ihm aus erster Hand Aufschlüsse über die amerikanische Mentalität und das amerikanische Musikleben gesucht, weil er vorhatte, sich in der neuen Welt nach Aufführungsmöglichkeiten umzusehen, und weil er vielleicht einen Puffer suchte, um sich vor Zudringlichkeiten zu schützen:
Wie gewöhnlich wird die Wahrheit vermutlich irgendwo in der Mitte liegen. Dann ist es durchaus möglich, dass ich mich Strawinsky wirklich aufgedrängt und ihn täglich über Gebühr belästigt habe. Er war mein Held. Ich betete das Gehirn an, das jenen ungeheuren, welterschütternden „Sacre du printemps“ konzipiert, die Finger, die „Die Geschichte vom Soldaten“ den „Renard“, Petruschka“ und den „Feuervogel“ geschrieben hatten. Andererseits hat Strawinsky meine Gesellschaft vermutlich bewusst gesucht, um mich nicht nur als ersten offiziellen Gewährsmann über Amerika, sondern auch als Gegenmittel gegen die deutschen Dirigenten und vortragenden Musiker zu benutzen, die ihn täglich bestürmten. Dadurch, dass er sich ausschließlich mit einem jungen, unbekannten amerikanischen Komponisten und Pianisten abgab, schlug er ihnen allen auf besonders beleidigende Art ins Gesicht – was sowohl er wie auch sie verstanden.
George Antheil geht nach Paris
Am 13. Juni 1923 wechselt Antheil die Stadt. Er zieht mit Boski Markus nach Paris. In den nächsten Jahren leben sie in einer winzigen Wohnung an der Rue de l’Odéon, direkt über dem Buchladen von Sylvia Beach, der Verlegerin von James Joyce. Sylvia Beach macht Antheil alsbald mit dem Schriftsteller und mit vielen anderen Künstlern bekannt, die den forschen jungen Amerikaner alsbald zu ihrem Favoriten küren.
Ezra Pound hat Zugang zu den ersten Salons von Paris und setzt sich in den Kopf, den Ankömmling in diesen Kreisen als Geheimtip zu platzieren: „Das junge, unbekannte Genie.“ Als begleitende Maßnahme veröffentlicht er einen Aufsatz unter dem Titel „Antheil und die Harmonielehre“. Margaret Anderson, die Herausgeberin der in der Literatur tonangebenden „Little Revue“, vermittelt Antheils Pariser Debut als Pianist.
Margaret sagte: „Fang an zu üben und sorg dafür, dass du deine radikalsten Sachen im Programm hast, die Sonaten, die in Deutschland die Skandale hervorgerufen haben.“
George Antheil tritt in der ersten Hälfte einer Abendveranstaltung mit dem renommierten Ballets Suédois auf. Ein gesellschaftliches Ereignis, und „Tout Paris“ ist gekommen, um den sagenumwobenen jugendlichen Provokateur aus der Nähe zu begutachten. Das Spiel klappt und die Provokation zündet wie eine Rakete. In Antheils Erinnerung hört sich das wie ein kleines Déjà-vu des „Sacre“-Skandals von 1913 an.
Als ich anfing, merkte ich, wie ein stählernes Schweigen über das Publikum kroch. Wenn den Hörern ein Werk wirklich gefällt, dann husten sie weiter, rutschen hin und her, flüstern; das alles ist der normale und behaglich Hintergrund der Konzertmusik. Aber wenn das Publikum sofort in stählernes Schweigen verfällt – dann hüte dich!
Dann bemerkte ich, wie plötzlich eine scharfe kleine Welle durch das Publikum lief. Für mich ist das immer der erste Windstoß, der als Vorläufer eines unmittelbar folgenden Orkans über einen stillen Ozean fährt! Und dann brach der Sturm los!
Irgend jemand in der vorderen Reihe begann zu pfeifen, ein Mann neben ihm versetzte ihm eine Ohrfeige. Ein gefährliches Rascheln des Erstaunens knisterte durch das Publikum. Im Orchester sprang ein Musiker auf und rief ärgerlich: „Ruhe! Ruhe!“ Jetzt standen wir am Rande des Skandals.
Ich spürte die Pistole unter dem linken Arm und spielte weiter. Ich hatte Skandale in Deutschland erlebt, aber dies hier versprach wirklich etwas Ordentliches zu werden. Die Franzosen sind eine andere, leidenschaftlichere Rasse, Abkömmlinge jenes Mobs, der den Karren zur Guillotine folgte! Die Katastrophe blies mir ihren Atem in den Nacken.
Doch die Katastrophe und ich waren bei Konzerten alte Freunde. Das war „Heimat“ für mich. Und als mir das klar wurde, war ich plötzlich ruhig. Schließlich konnte ich mir immer noch den Weg freischießen! Ich hatte sogar Zeit, mir selber zuzuhören und zu denken: „Was bist du für ein toller Pianist, Antheil, du Hund!“ Meine Drüsen schalteten in den vierten Gang.
Umschwärmt von der Pariser Kulturschickeria
Diese Pariser Jahre waren Antheils glücklichste Zeit. Er war der Liebling der Kulturschickeria, Künstler von Erik Satie bis Cocteau, von Hemingway bis Joyce schätzten seine geradlinige, dem Maschinenzeitalter huldigende Art, Musik zu machen. Die kleine Wohnung über der Buchhandlung von Sylvia Beach wurde zum Treffpunkt der Pariser Intelligenz. Antheil verbuchte diesen Prestigeerfolg mit Genuss.
Ich darf der Wahrheit gemäß versichern, dass mindestens an einem Nachmittag James Joyce, T. S. Eliot, Ford Maddox Ford, Ernest Hemingway, Wyndham Lewis und Ezra Pound gleichzeitig bei uns Tee tranken.
Folgt man seiner Darstellung, so avancierte Antheil nun zum musikalischen Bannerträger des 20er-Jahre-Zeitgeistes in Paris. Die romantischen Gefühle des spätbürgerlichen Individuums hatte man überwunden und begann sich in einer objektivierten, von kessen Jazzrhythmen unterlegten Empfindungswelt einzurichten. Antheil, bei dem sich pianistische Exzellenz mit unbekümmertem Draufgängertum verband, fiel dabei die Rolle zu, das Bild des guten alten Bohémiens und Bürgerschrecks mit einem Schuss Cowboytum aufzupeppen. Das war so richtig nach dem Geschmack der stets nach neuen Reizen gierenden Pariser Snobs.
Um 1923 hatte Antheils Aktionismus noch einen erfolgreichen Widerpart zur Glätte des aufkommenden Neoklassizismus gebildet. Doch in seinem Zweiten Klavierkonzert von 1926 schien auch er sich dem geläuterten neoklassizistischen Klangideal angepasst zu haben. Die Pariser Musikkritik, die von Antheil noch immer eine pikant gewürzte Avantgarde-Kost erwartete, ging nach der Premiere auf Distanz. Das war umso fataler, als er nun auch noch den Misserfolg seines „Ballet mécanique“ in New York verdauen musste.
Der Skandal als Flop: Das „Ballet mécanique“ in New York
Die amerikanische Erstaufführung von Antheils „Ballet mécanique“ in der New Yorker Carnegie Hall 1927 war einer der großen Skandale in den an Skandalen reichen zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts – allerdings nicht, wie in solchen Fällen üblich, zum propagandistischen Vorteil des Künstlers. Denn der Skandal wurde vom Veranstalter auf durchsichtige Weise inszeniert, und so geriet die Aufführung zu einem künstlerischen Misserfolg, der dem Komponist in Amerika noch jahrelang anhing.
1926 hatte Antheil das Werk in Paris zur Uraufführung gebracht. Es war, entgegen seinem Titel, nicht als Ballett, sondern als Musik zu einem Film mit Bildern von Fernand Léger entstanden. Bei der erfolgreichen Premiere war alles dabei, was damals in Paris Rang und Namen hatte: Jean Cocteau, Erik Satie, Ezra Pound, James Joyce und viele andere. In seinen Lebenserinnerungen blickt Antheil mit gemischten Gefühlen auf das Werk zurück.
Falls das Publikum überhaupt noch an mich denkt, wird es wahrscheinlich an den Komponisten dieses verdammten „Ballet mécanique“ denken. Für mich ist es eine seltsame Erinnerung, dass ich es schon 1925 – vor beinahe zwanzig Jahren – beendet habe; und noch immer werde ich zu den „jungen amerikanischen Komponisten“ gezählt. Deshalb ist dieses „Ballet mécanique“ für mich das geworden, was das cis-Moll-Präludium für Rachmaninoff gewesen sein muss. Es ist geradezu mein Nachtmahr, obwohl ich seit 1925 nie wieder an so etwas wie Mechanistik in der Musik gedacht habe – weder in ästhetischer noch in praktischer Hinsicht.
Dem „Ballet mécanique“ ist der Einfluss der Futurismus anzuhören. Nebst vier Klavieren dominieren Schlaginstrumente und Geräuscherzeuger wie Türklingel das Klangbild. Gegen Schluss soll mit einer Maschine in der Art von Luigi Russolos „Intonarumori“ das Geräusch eines Flugzeugpropellers simuliert werden, mit der Absicht, einen tiefen Brummton zu erzeugen. Dahinter stand die barocke Idee des Orgelpunkts, der die Schusskadenz einleitet.
Der New Yorker Impresario, der die für teures Geld gemietete Carnegie Hall füllen musste, entfesselte vorab einen PR-Rummel, der unerhörte Sensationen versprach. Für die Aufführung selbst hatte er eine reißerische Idee: In letzter Minute ließ er einen richtigen Propeller auf die Bühne stellen. Doch weil kein Propeller im Konzertsaal so rücksichtslos auf Touren gebracht werden kann, dass er ein kontinuierliches Motorengeräusch erzeugt, wurde hinter dem Propeller eine entsprechende Geräuschmaschine aufgestellt. Das alles geschah gegen den Willen des verbitterten Komponisten.
Das Publikum sollte glauben, es höre das Geräusch des richtigen Propellers. Und die Verantwortlichen hofften zuversichtlich, dass die Zuhörer dadurch in Furcht versetzt würden, der Propellerwind würde sie von den Sitzen blasen, ganz besonders die in den ersten Reihen. Ein anderes schwer belastendes Moment an diesem Abend war der ungeheure, sensationelle Vorhang, der an der Hinterwand der Carnegie Hall hing, ein Element, das ich vor allem deshalb bedaure, weil es, mehr noch als alle andern Dinge, den Profit auffraß, den ich mir von dem einträglichsten aller meiner Konzerte erhofft hatte. Dieser gigantische, ziemlich geschmacklose Vorhang (er stellte ein jazztolles Amerika von 1927 dar) brachte auf einen Schlag zwei Dinge fertig: Er schickte mich pleite nach Europa zurück und er verlieh der ganzen Veranstaltung den Anschein völliger Scharlatanerie.
Am gleichen Abend erblickte auch Antheils „Jazz-Symphony“ das Licht der Welt, gespielt vom „All Negro Orchestra“ unter der Leitung des Jazzmusikers W. C. Handy. Es war nach der Ersten Sinfonie von 1921 sein zweiter Versuch, zwischen gehobener und populärer Musiksphäre – oder zwischen E und U, wie man heute sagen würde – eine Brücke zu schlagen.
Die seriöse New Yorker Musikkritik reagierte verächtlich auf das effekthascherische Konzerthappening mit dem „Ballet mécanique“, der im elitären Paris an schicke Skandalerfolge gewöhnte Komponist war am Boden zerstört und verzog sich wieder nach Europa.
Abenddämmerung und ein Zwischenhoch in Europa
Doch in Paris begann sich der Wind langsam zu drehen. Die unbeschwerten zwanziger Jahre neigten sich dem Ende zu, und mit ihnen die Hochkonjunktur der Avantgarde. Auf den Rat seines alten publizistischen Unterstützers Stuckenschmidt machte sich George Antheil nun noch einmal auf nach Berlin.
In Deutschland waren die Hungerjahre inzwischen vorbei. Viel amerikanisches Kapital war in das zerstörte Land geflossen und die Inflation war besiegt. Eine neue Wirtschaftsblüte schien sich anzukündigen, und mit ihr ein neues kulturelles Hoch. 1927 wurde in Leipzig Kreneks Oper „Jonny spielt auf“ uraufgeführt, ein Jahr später in Berlin Kurt Weills „Dreigroschenoper“. Beide wurden Riesenerfolge, und das Musiktheater schien eine neue Zukunft zu haben.
Nun machte sich Antheil ebenfalls an eine Oper: „Transatlantic“, eine politische Satire über einen korrupten Ölbaron, der seinem Land einen Präsidenten finanziert. Das Stück hatte 1930 in Frankfurt Premiere und erlebte sechs Aufführungen, wurde aber zu Antheils Lebzeiten nirgendwo mehr nachgespielt. Eine Enttäuschung, die den langsamen Abschied Antheils von Europa einleitete. Die politische Abenddämmerung in Europa erlebte Antheil mit seiner Frau an der französischen Riviera, wo die internationale Geld- und Kulturelite ihre letzte Party feierte.
Hier schien eine synthetische Sonne auf den glitzernd synthetischen Strand, angefüllt mit synthetisch glücklichen Menschen. Ich sagte zu mir selber: „Es kümmert mich nicht. Das ist die letzte Gelegenheit, ehe ich Europa für immer verlasse. In ein, vier oder fünf Jahren wird es einen Krieg geben, danach wird das Europa, das ich kenne, nicht mehr vorhanden sein. Paris natürlich ausgenommen – Paris wird niemals, darf niemals untergehen… Doch Europa, das Europa meiner Jugend – damit ist es für lange Zeit aus. Also hinein in die letzten Orgien vor der Flut.“
George Antheil entdeckt Amerika
Antheil kehrte mit seiner Frau 1933 nach Amerika zurück. Es war schwer für ihn, in seiner alten Heimat Fuß zu fassen. Nach einem Intermezzo in New York unternahmen die beiden Europaflüchtlinge ihre ganz persönliche Entdeckung Amerikas; das Land war bis dahin auch für Antheil eine Terra incognita gewesen. Sie reisten mit dem Auto über Virginia, Florida und Texas bis nach New Mexico und schließlich nach Kalifornien.
In der in Hollywood vollendeten Dritten Sinfonie hielt George Antheil seine Reiseeindrücke musikalisch fest. Parallel dazu versuchte er sich als Filmkomponist zu etablieren, Geldnot zwang ihn dazu. Dann reifte der Plan für die Vierte Sinfonie heran. Es wurde eine Kriegssinfonie. Und wie schon in seinen europäischen Jahren reagierte er damit sehr präzise auf die Gegenwart. Die Komposition begann er 1942 während der Schlacht bei El Alamein, in der der britische General Montgomery der deutschen Wehrmacht in Nordafrika die entscheidende Niederlage beibrachte. Uraufgeführt wurde das Werk 1944 durch Leopold Stokowski in einer landesweiten Radiosendung von NBC.
Ich habe die Vierte Sinfonie mehrmals gehört. Und jedes Mal, wenn ich sie höre, sehe ich unser kleines Strandhaus in der Nähe von Los Angeles vor mir, die nächtlichen Verdunkelungen nach dem Tag von Pearl Harbour, als sich die ganze Küste dauernd in Alarmbereitschaft gegen eine etwaige japanische Invasion befand, und höre das dauernde, niemals endende Dröhnen der Flugzeuge, die ihre Sturzflugübungen gegen angebliche japanische U-Boote in unserem Hafen machten. Doch in meiner Vierten Sinfonie fanden sich vor allem El Alamein, Stalingrad und das neue Amerika, dessen Erwachen ich sah.
Die Vierte Sinfonie bewegt sich im Spannungsfeld zwischen politisch aktuellem Zeitbezug und historisierendem Klangideal. Die düstere Stimmung der Kriegsjahre wird in eine in der europäischen Tradition verankerte Form eingebunden – der handwerklich versierte Komponist hatte inzwischen die Sinfonik von Beethoven bis Sibelius genau studiert. Die konflikthaften Partien des ersten Satzes bilden ein Selbstzitat aus seiner Oper „Transatlantic“ von 1930. Das lässt die verschiedentlich kritisierte Nähe dieser Passagen zu den Kriegssinfonien Schostakowitschs in einem anderen Licht erscheinen.
Torpedos und Antikriegslieder
In Hollywood versuchte sich Antheil nicht nur als Filmkomponist, Kolumnenschreiber für das Lifestyle-Magazin “Esquire“ und – zusammen mit dem Filmstar Hedy Lamarr – als Erfinder eines funkgesteuerten Torpedos, das sie 1941 patentieren ließen, sondern er betätigte sich auch als politischer Kommentator und Berater.
Bis zum Kriegseintritt Ende 1941 waren die USA noch stark isolationistisch orientiert, Europa war für sie weit weg. Antheil hingegen wusste über den alten Kontinent gut Bescheid, hatte er doch die Heraufkunft des Nationalsozialismus aus nächster Nähe verfolgen können. Dazu kam, dass sein jüngerer Bruder als amerikanischer Diplomat in Osteuropa unterwegs war und ihm bei persönlichen Treffen vermutlich einiges von den geheimen Kriegsvorbereitungen der Nazis berichtete.
Der politisch aufgeweckte George Antheil wusste seinen Informationsvorsprung zu nutzen. Bereits 1939 veröffentlichte er einen aus der Rückblende des Jahres 1950 geschriebenen Aufsatz unter dem Titel „Deutschland hatte gar keine Chance“, in dem er den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion, das kommende Scheitern der Naziarmee und die spätere Invasion der Alliierten in Nordafrika und im Westen prophetisch voraussagte.
Als sich mit dem Kriegseintritt der USA ein Teil der Prognosen bewahrheitete, wurde er über Nacht zum respekteinflößenden Kenner der europäischen Politik. Manchester Boddy, ein einflussreicher Zeitungsmann und Radiokommentator in Los Angeles, verpflichtete den finanziell klammen Komponisten als Berater. Für 65 Dollar die Woche, für ihn ein kleines Vermögen, lieferte Antheil das Material, mit dem Boddy seine Kommentare unterfütterte.
Politik wirkte bei Antheil bis in das Privatleben hinein. Für seinen 1937 geborenen Sohn Peter schrieb er eine Reihe von Kinderliedern, die auf spielerische Weise auf das Zeitgeschehen eingingen. Zu den Songs, die er ihm am Klavier vorsang, gehörte auch „Captain Peter Shoots Down Nazi Air Ship“. Die witzige, theatralische Nummer vom heldenhaften Kapitän Peter wurde von Antheil auf Band aufgenommen und ist heute im Internet erhältlich.
Abgetaucht in Kalifornien
Mit der Zeit verschwand für Antheil das ferne Europa am Horizont, seine Konturen verschwammen. Die einzige Verbindung waren die Gespräche mit den vielen europäischen Emigranten in Kalifornien. Antheil war nun endgültig zum Amerikaner geworden. Doch ein Echo, wie er es in den Roaring Twenties in Europa gefunden hatte, blieb ihm in der kunstfremden amerikanischen Gesellschaft versagt. Die Sensationserfolge im Paris der zwanziger Jahre waren Geschichte, und bis zu seinem frühen Tod 1959 führte er nur noch ein Nischendasein.
Seine Sechste Sinfonie schrieb George Antheil zum Andenken an die im Krieg Gefallenen und als Hoffnung auf eine freundlichere Zukunft. Die Liebe zu seinem Land, die in dieser Sinfonie zum Ausdruck kommt, wurde ihm nur bedingt erwidert. Erst die Nachwelt hat langsam entdeckt, was er mit seinem Spagat zwischen Alter und Neuer Welt, mit seiner Verschmelzung von populärer und gehobener Musikkultur, wirklich war: ein Grenzgänger der amerikanischen Moderne im 20. Jahrhundert.
Max Nyffeler
Der Text basiert auf einer Radiosendung für den WDR Köln von 2009.
Die Zitate stammen aus der 1945 erschienen Autobiografie von George Antheil, „Bad Boy of Music“. (Deutsch: „Enfant terrible der Musik“, München 1960.)
Die Illustration von Miguel Covarrubias stammt aus der Webseite zu George Antheil.