Der 1998 im Alter von nur 52 Jahren verstorbene Gérard Grisey komponierte „Les Chants de l’amour“ in den Jahren 1982-1984. Er gehörte zu der Gruppe von Komponisten und Interpreten, die sich um 1970 unter dem Namen „L’Itinéraire“ (Der Weg) zusammenschlossen, um gemeinsam musikalisches Neuland zu erforschen. Hugues Dufourt, Komponist, Wissenschaftsphilosoph und theoretischer Mastermind der Gruppe, prägte für dieses Neuland den Begriff „Spektrale Musik“. Er verstehe darunter eine bestimmte Art von computergenerierter Musik, sagt Dufourt, und ergänzt:
„Der Computer hat eine riesige Veränderung der Maßstäbe bewirkt. Früher arbeiteten die Komponisten mit dem Klang der Instrumente, jetzt aber mit dem mikroskopischen Detail des Klangs, und das auf völlig rationale Weise. Der Computer ist für den Komponisten, was das Fernrohr für Galilei war.“
Dieses Fernrohr hat Grisey auch für „Les Chants de l’amour“ benutzt. Grundlage der Komposition ist der Satz „I love you“, der von Grisey in zahlreiche Sprachen übersetzt und durch Spektralanalyse in seine klanglichen „Atome“ zerlegt wurde: Einschwingvorgänge und Teilspektren von Vokalen und Konsonanten – Qualitäten, die als sogenannte Formanten Klangfarbe und -charakter eines Tons bestimmen. Mit dem Blick durch das Fernrohr wird der Einzelton zum Klanguniversum, aus dessen physikalischen Grundeigenschaften das Werk generiert wird.
Über seine Verfahren sagte Grisey:
„Am Anfang steht der Prozess; er bestimmt die Veränderung der Klangfiguren und führt dazu, ohne Unterlass neue zu schaffen. […] In meiner Musik kann der Klang niemals für sich selbst betrachtet werden, sondern er ist immer durch den Filter seiner Geschichte gegangen. Wohin geht er? Wo kommt er her? Diese Frage stelle ich mir in jedem Augenblick beim Schreiben einer Partitur.“
„Les Chants d’amour“ hat dieselbe vokale Besetzung wie Messiaens „Cinq Rechants“, nämlich Sopran, Alt, Tenor und Bass zu je drei Stimmen. Dazu kommt nun aber noch eine im Studio gefertigte Tonband-„Stimme“ mit synthetisierten und vielfältig transformierten Vokallauten. Sie dient dem Ganzen als eine Art Bordunton, auf den sich der Vokalsatz harmonisch und klanglich abstützt und mit dem er dialogisiert.
Der von Grisey beschriebene Prozesscharakter wird zu Beginn mit bilderbuchhafter Deutlichkeit demonstriert. Kurze Tuttischreie, bestehend aus den Silben des in zehn Sprachen übersetzten Satzes „Chants de l’amour pour tous les amants de la terre“ (Liebeslieder für alle Liebenden dieser Erde) bilden den Rahmen; sie stehen für eine sprachliche Totale und symbolisieren zugleich eine universalistische Perspektive, wie sie – in anderer Form – am Schluss noch einmal hörbar wird. Aus dieser statischen Totale schälen sich nun stückweise einzelne melodische Partikel heraus, die Ausschnitte aus Obertonreihe über dem Ton G repräsentieren; in einem organischen Wachstumsprozess entfernen sie sich immer weiter vom Grundton.
Texturen und der Klangcharakter verändern sich in den fünf pausenlos aufeinander folgenden Teilen kontinuierlich, die Klangmaterie ist in ständigem Werden begriffen. Gesungene, gesprochene, geflüsterte und gehauchte Passagen, solistische, dialogische und kollektive Rede lösen sich fließend ab, klar verständliche Textfragmente und semantisch besetzte Geräuschklänge tauchen auf und verschwinden wieder. Mit solchen im traditionellen Sinn „inhaltlichen“ Elementen werden narrative Fäden in die abstrakte Klangmaterie eingezogen. Sie verleihen dem von einer technizistischen Aura umgebenen Werk eine durchaus menschliche Note und lassen immer wieder unerwartete Traditionsbezüge aufblitzen.
In der Vokaltechnik, auch was die Selbstreflexion der Form angeht, erinnern „Les Chants de l’amour“ Modelle wie Dieter Schnebels „Maulwerke“ oder seine „Glossolalie“, und der Schluss weckt sogar Assoziationen an die romantische Poetik eines Robert Schumann. Wenn in der Coda, nach den Atemgeräuschen des Einschlafens, die Vokalisten schweigen, öffnet sich in der virtuellen Welt der Tonbandklänge eine Traumsphäre, in der sich eine anonyme Menschheit zum Gespräch trifft, und es entsteht beinahe der Eindruck, dass nun im kühlen Medium der Elektroakustik die Stunde des Dichters geschlagen habe.
Printversion: Programmheft der Salzburger Festspiele zum Konzert der Solistes XXI unter Rachid Safir vom 31. Juli 2017.