Hans Zender über seinen Werdegang als Komponist, Dirigent und Musikschriftsteller, über fernöstliche Kulturen und den abendländischen Logos. Und er wundert sich, dass in deutschen Konzertsälen nicht gelacht werden darf.
Herr Zender, Sie haben neben Ihrer kompositorischen und schriftstellerischen Arbeit eine bemerkenswerte Karriere als Dirigent gemacht. Mit siebenundzwanzig waren Sie Chefdirigent in Bonn, später Generalmusikdirektor an der Oper in Kiel und in Hamburg, Chef des RSO Saarbrücken und des Radiokammerorchesters Hilversum sowie Erster Gastdirigent der Oper in Brüssel, und ab 1999 bildeten Sie zusammen mit Michael Gielen und Sylvain Cambreling das berühmte zehnjährige Triumvirat beim SWR-Sinfonieorchester. In allen diesen Positionen haben Sie der neuen Musik große Aufmerksamkeit geschenkt und viele Uraufführungen dirigiert. Beginnen wir doch einmal mit den Skandalen, die damit verbunden waren. Eduard Brunner, der Klarinettist der Uraufführung von Lachenmanns Accanto, berichtete, dass damals 1976 in Saarbrücken einige Leute fast in Ohnmacht gefallen seien.
In den sechziger und siebziger Jahren konnte sich das Publikum noch unglaublich aufregen. Diese Spontaneität, im guten wie im bösen Sinn, ist verschwunden. Allerdings habe ich das mit Accanto vor sechs, sieben Jahren zu meiner Überraschung nochmals erlebt. Das Publikum hat sich angestellt wie bei der Uraufführung.
Wo war das?
Im Wiener Konzerthaus, bei einem Gastspiel mit dem SWR-Orchester. Schon bei der ersten Kadenz, wo der Solist leise Geräusche erzeugt, haben sie „Lauter!“ geschrien. Dann ging es weiter, und dann kam „Üben! Üben! Üben!“ aus dem Publikum. Das war eine Störung des Stückes mit voller Absicht. Und so ging es weiter. Ich habe immer überlegt: Sollst Du abbrechen? Nein, habe ich mir gesagt, am besten ist Weiterspielen. Das hat sich auch bezahlt gemacht, es ging dann gut zu Ende. Aber es war eine Tortur. Das Orchester hat ganz dumm geguckt, so eine Reaktion haben die seit 20 Jahren nicht mehr erlebt.
Ist Ihnen das auch mit eigenen Stücken passiert?
Ja, bei der Uraufführung von Canto IV zum Dürer-Jahr 1971 in Nürnberg. Bruno Maderna hat dirigiert, das Clytus Gottwald-Ensemble hat gesungen und das Nürnberger Orchester hat es gut gespielt. Und nach fünf Minuten ging das los. Maderna hörte zwischendurch auf zu dirigieren, denn der Lärm im Saal war so groß, dass man die Musik nicht mehr richtig hören konnte. Einige hatten auch Trillerpfeifen mitgebracht. Es wurde so arg, dass der Chor anfing zu improvisieren und Sachen sang wie „Stadt der Reichsparteitage“ und „Nürnberg, ha, ha!“. So ging das dann weiter. Die haben sich beinahe geprügelt, da hat nicht mehr viel gefehlt. Und am Schluss wurde dann sogar mit Tomaten geworfen.
Tempi passati.
Ja, leider. Das waren lebendige Reaktionen auf das Ungewohnte, Unbekannte. Heute ist alles elegant und pflegeleicht in Watte gepackt.
Querfeldein durch die Musikgeschichte
Herr Zender, Sie haben auch lange als Operndirigent gearbeitet.
Das hat mich früh geprägt. Direkt nach dem Studium bin ich ans Theater gegangen, in Bonn. Und dreizehn Jahre war ich Opernchef. Dreizehn Jahre Irrenhaus (lacht). Meine Opern wären ohne diese Erfahrungen nicht denkbar.
Ihr Repertoire als Dirigent war stets außerordentlich breit. Bei den Zeitgenossen haben Sie sich für so gegensätzliche Positionen wie Bernd Alois Zimmermann und den New Yorker Kreis um John Cage eingesetzt und maßgeblich zur „Entdeckung“ von Giacinto Scelsi beigetragen. Im traditionellen Bereich dirigierten Sie die Sinfonik von Haydn bis Mahler und den Parsifal in Bayreuth, und in späteren Jahren war Bruckner ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit.
Bruckner stand zu lange im Schatten Wagners. Ich halte ihn für einen der Allergrößten.
Was fasziniert Sie an ihm?
Vor allem die Zeitdehnung. Man wird schon in den ersten Takten damit konfrontiert. In meinem Aufsatz Zur Konstruktion der Zeit bei Anton Bruckner habe ich mich eingehend damit befasst. Dieser Zwang zu großen Zeitdimensionen! Das ist wie eine Säulenreihe, die man abschreitet. Eine große Architektur, absolut einmalig. Und dann liebe ich seine Scherzi. Bis auf die Nullte habe ich alle Sinfonien von ihm gemacht.
Und Mahler?
Mahler habe ich unglaublich gern, ich habe von ihm jede Note dirigiert. Er ist natürlich anders als Bruckner, ein großer Subjektivist.
Wenn Sie auf Ihre Dreifachtätigkeit als Komponist, Dirigent und Musikschriftsteller zurückblicken: War das in Ihrer Entwicklung von Anfang an so angelegt?
Nein, ich begann als reiner Praktiker. Ich wollte nie etwas über Musik lesen und habe in meiner Studienzeit alle theoretischen Vorlesungen geschwänzt. Es hat mich einfach nicht interessiert. Ich wollte nur in der Musik baden. Einmal hatte ich einen verrückten Traum: Ich sitze auf der Orgelempore in einer schönen, hellen Barockkirche und spiele. Der Chor ist auch schon da. Ich sehe ihn zwar nicht, aber ich dirigiere ihn, während ich Orgel spiele. Dann wird mir plötzlich klar: Ich komponiere das Stück ja gerade! Was ich denke, singen die auch sofort! Es war wunderbar, wie das funktionierte. Und dann bin ich aufgewacht.
In dieser Verbindung von Dirigent und Komponist haben Sie die Entwicklung der Nachkriegsmusik maßgeblich mitgestaltet: Stichworte Serialismus, Aleatorik, ostasiatische Einflüsse, Mikrotonalität.
Am Anfang war ich stark von Boulez beeinflusst. Was ich im Studium bei Fortner gelernt hatte, das formalistische, auf Webern aufbauende Denken, fand ich bei Boulez in Reinkultur vor. Dann bekam ich ein einjähriges Stipendium für die Villa Massimo in Rom und traf dort auf Bernd Alois Zimmermann. Diese Begegnung hat mich tief geprägt. Er hat mich aus dem intellektuellen Käfig des Serialismus befreit – obwohl er sehr genau seriell gearbeitet hat. Aber er hat das ästhetisch erweitert zu einem pluralistischen Verständnis von Klang und Struktur. Das war für mich die Rettung. Wir waren dann zehn Jahre sehr eng befreundet, bis zu seinem Tod. Sein letztes Stück, Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne, hat er für mich geschrieben, und wir haben das dann 1972 in Kiel uraufgeführt.
Musik über Musik
Ein wichtiger Schaffenszweig von Ihnen sind die „komponierten Interpretationen“. Sie haben Werke von Haydn, Beethoven, Schubert, Schumann und Debussy auf schöpferische Weise kommentiert.
Ich habe das eigentlich aus purer Lust gemacht. Als Zwischenspiel, bei dem man sich kompositorisch entspannt und seinen Lieblingsmusiken nachgeht. Schumanns Fantasie zum Beispiel habe ich im Studium viel gespielt und war nie zufrieden, und da dachte ich: Jetzt möchte ich das doch einmal hören, wie ich mir das vorstelle, und habe es instrumentiert.
Bei den Diabelli-Variationen von Beethoven handelt es sich nicht um eine bloße Instrumentierung, sondern um eine Rekomposition.
Auch das hat mir letztlich großen Spaß gemacht. Aber das Ensemble Modern musste mich erst ein Jahr lang bearbeiten, bis ich mich daran wagte. Vor Beethoven habe ich einen Heidenrespekt.
Sie haben damit auch etwas geschafft, was wenigen gelingt: Humor in der Musik auszudrücken. Gleich die erste Variation wirft einen um.
Ja, ich liebe den Humor in der Musik, aber das Problem ist das Publikum. Im deutschen Konzertsaal darf nicht gelacht werden. Ich habe mal geschrieben: Auf der deutschen Bühne darf nicht gelacht werden, da muss immer Blut fließen wegen der vielen Tragödien, die wir uns geliefert haben. Und das gilt auch ein bisschen für den Konzertsaal. Aber für mich ist Humor wichtig. Meinen Dialog mit Haydn zum Beispiel finde ich wirklich komisch, auch in der Oper Stephen Climax gibt es viele komische Stellen. Aber die Leute sitzen mit offenem Mund da und trauen sich nicht zu lachen. Ich versteh’ das nicht.
Japanische Geisteswelten
1972 begegneten Sie erstmals der japanischen Kultur. Wie kam es dazu?
Ich war mit den Münchner Philharmonikern auf einer vierwöchigen Japantournee und habe dabei diese mir völlig unbekannte Kultur kennengelernt. Das hat mich richtiggehend umgeworfen. Das ganz Einfache, Ruhige, das völlig Uneuropäische. Diese Leerheit, Schmucklosigkeit hat mich unerhört beeindruckt, und ich dachte: So geht es ja auch, die Mittel müssen nicht dauernd übersteigert werden. 1975 habe ich dann Muji No Kyô, das erste „asiatische“ Stück, komponiert und 1977 die LO-SHU-Serie begonnen.
Anzumerken ist hier, dass Sie nie irgendwelche Chinoiserien im Sinn hatten, also eine Imitation asiatischer Musizierweisen. Ihre Annäherung an die fernöstlichen Kulturen erfolgt in den Kategorien von Form und Struktur – die LO-SHU-Reihe basiert zum Beispiel auf magischen Zahlenquadraten –, auf geistig-philosophischer Ebene und durch eine andere Zeitwahrnehmung. Zen spielte eine wichtige Rolle.
Ich habe auch mehrere Gedichte des japanischen Zen-Mönchs Ikkyu aus dem 15. Jahrhundert vertont. An seiner Dichtung kann man ablesen, was mich damals interessiert hat. Da gibt es eine Mischung von Groteske, ganz tiefer Religiosität und einer Neigung zum analytischen Denken. Alles wird ganz kurz angerissen, und daraus entsteht eine geistige Polyphonie.
Die Beschäftigung mit dem fernöstlichen Denken zieht sich seither durch Ihr ganzes Schaffen. Das jüngste Beispiel ist Hannya Shingyo für Männerchor und Orchester, uraufgeführt 2014 in Saarbrücken. Ein wildes, ausdrucksstarkes Stück. Um was geht es da?
Hannya Shingyo, das sogenannte Herz-Sutra, ist ein zentraler Text der buddhistischen Lehre, der den Weg zur höchsten Weisheit weist. In meinem neuen Buch, das im Oktober erscheint, gibt es einen Aufsatz, wo ich diesen Text mit dem ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums („Am Anfang war das Wort…“) vergleiche; Johannes wiederum liegt den Logos-Fragmenten zugrunde. Ich versuche in diesem Aufsatz den Logos-Begriff nicht nur intellektuell zu fassen, wie das bei uns allgemein üblich ist, sondern auch unter sinnlichen Aspekten. Dass also Sinn und Sinnlichkeit zur Deckung kommen. Bei mir ist das schon lange ein Thema, aber hier wollte ich die beiden Seiten noch einmal ganz scharf gegeneinanderstellen. Es betrifft die Musik in ihrem Kern. Ich versuche die Musik nicht einfach als eine prälogische Sprache zu deuten, sondern als eine fundamentallogische. Als Fundament der Sprache, als eine sich bildende begriffslose Sprache.
Ist das ein Versuch, das westliche und östliche Denken auf theoretischer Ebene zur Synthese zu bringen? Das haben Sie ja auch in Ihren Werken jahrzehntelang angestrebt.
Genau das. Der Text ist eine Art Summe, wenn man so will.
Musikalischer und sprachlicher Logos
Das Thema „Logos“ treibt den Komponisten und Musikdenker Zender seit Jahren um.
Das ist offenbar eine deutsche Erbschaft, Faust hat sich damit ja auch schon herumgemüht. Ich will halt weg von der einseitigen Interpretation des Logos als rationalem Denken. Die Musik ist nicht einfach eine rationale Angelegenheit. Das Faszinierende ist für mich, dass sie zwar eine präzise mathematische Konstruktion darstellt, bei der man alles in Zahlen schreiben kann, doch gleichzeitig hat sie, bei den wirklich großen Werken, diese ungeheuer affektive, irrationale Wucht. Das kommt in unserer Auffassung von logischem Denken nicht mehr vor. In meinen Aufsätzen möchte ich zeigen, dass der Logos der Musik anders ist als der Logos der Sprache; er ist affektbetont und nicht bezeichnend. Die Musik kann nichts bezeichnen, sie kann nur ein affektives Echo einer Sache oder eines Vorgangs geben. Und dann versuche ich den Begriff des Logos so weit zu trimmen, dass er auch das Denken der Sinne integriert. „Die Sinne denken“: Diesen Satz habe ich sehr früh von Georg Picht übernommen. Unsere ganze Kultur hat sich stark nach dem Logischen und Rationalen hin entwickelt, was ja an sich richtig und gut ist, aber das ist so einseitig geworden, dass das Vitale darin nicht mehr vorkommt. Das Kunstwerk ist mehr oder weniger zur Maschinenkonstruktion verkommen
Mit dem Material als Gegenstand, der einem als etwas Fremdes, Äußeres, gegenübertritt.
Wir denken gegenständlich, obwohl Musikdenken kein gegenständliches Denken ist. Die Sprache, soweit sie von den präzisen Wissenschaften benutzt wird, ist aber tatsächlich zum gegenständlichen Denken geworden in unserer Kultur; schon Rousseau sagte, sie habe sich von einer poetischen in eine mathematische Sprache verwandelt. Wir müssen die alten Ansätze neu beleben und verstehen, dass die Sprache, der Logos, eine Bedeutung hat, die nicht nur rational ist. Wir tun immer noch, als wäre die Welt eine Maschine, und das hat auch auf unser Musikverständnis abgefärbt.
Harmonik und mikrotonale Forschung
Asien hat Ihnen nicht nur die Augen geöffnet für einen anderen Logos-Begriff, sondern Sie auch zu einer neuen Art von Mikrotonalität geführt.
Das chinesische Denken hat mich sehr stark beeinflusst. Die hatten ja schon 2000 vor Christus ein Zwölftonsystem, das ist kaum zu fassen. Nur war das nicht chromatisch, sondern es bestand aus ganzzahligen Intervallen. Das war eine hochentwickelte Kultur, nur völlig anders als wir. In meiner Kantate nach Meister Eckhart von 1980 habe ich dieses Tonsystem angewandt, und das hat mich dann später auf die Spur der deformierten Spektren gebracht. Ich habe es natürlich nicht einstimmig verwendet, sondern mehrstimmig, und daraus etwas für das chinesische Denken völlig Absurdes gemacht, nämlich eine neue Fassung unserer Harmonik. Und das hat mich die ganzen Jahre über sehr beschäftigt. Die Harmonik ist vielfach zu einem puren Clusterdenken verkommen, was die Werke eindimensional erscheinen lässt. Ich denke da ganz anders. Von vornherein muss das harmonische Feld geklärt sein, in dem ein Gebilde steht.
Um was geht es bei den „deformierten Spektren“?
Allgemein gesagt um eine Methode, nicht mit statischen, sondern mit flexiblen Obertonspektren zu arbeiten, deren Zusammensetzung sich andauernd ändert. Das klingt jetzt vielleicht kompliziert, aber das Schöne ist, dass die Ohren das erkennen. Sie sprechen auf reine Intervalle als Orientierungspunkte an.
Welche Werke sind so gearbeitet?
Vor allem die Stücke ab den 90er Jahren, also Shir Hashirim (Canto VIII) und Logos-Fragmente (Canto IX), dann die Oper Chief Joseph, die Kalligraphien und Cabaret Voltaire. Auch Hannya Shingyo und die Reihe Hölderlin lesen.
Die frühere tonale Harmonik hat den Klangraum sehr genau strukturiert. Sind solche spektralen Methoden da gleichwertig?
Nicht gleichwertig, sondern besser! Sie haben den riesigen Vorteil, dass man nicht mehr in das Kadenzschema eingesperrt ist. Der Raum ist offen, man kann in alle Richtungen denken und hat zugleich die Möglichkeit, die Ordnungsstrukturen zu nutzen, die das System bietet. So bewegt man sich nicht im luftleeren Raum, wie das bei den Kompositionen geschieht, die die Harmonik außer acht lassen. Hier liegt für die Musik ein großes Stück Zukunft.
Ausschnitt aus den Gesprächen, die Max Nyffeler am 8. und 9. August 2016 mit Hans Zender führte.
Printversion: Neue Musikzeitung (NMZ) Nr. 9/2016, Beilage zur Münchner musica viva-Saison 2016/17.
Siehe auch den Nachruf „Erinnerung an Hans Zender“