Giorgio Battistelli ist ein Opernkomponist mit einer Neigung zu extravaganten, bisweilen auch grausamen Stoffen, und so musste er fast zwangsläufig auf den Theatertext stoßen, den Antonin Artaud 1935 über den Fall der Beatrice Cenci verfasste. Beatrice war die Tochter des korrupten und moralisch verkommenen Grafen Cenci, eines römischen Adligen aus der Zeit der Spätrenaissance; sie wurde von ihm vergewaltigt und tötete ihn aus Rache, unterstützt von ihrer Mutter und ihrem Verlobten. Die Folge: Beatrice wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet, die Familie fiel auseinander, und der lachende Dritte war der Papst: Er nutzte den Ruin der Familie, um an das Vermögen Cencis, mit dem er geschäftlich verbunden war, heranzukommen.
Die Horrorstory I Cenci, keine Erfindung von Artaud
Ein üble Geschichte. Doch sie ist keineswegs eine Ausgeburt von Artauds übersteigerter Fantasie, sondern basiert auf historisch verbürgten Ereignissen aus dem Jahr 1599. Daraus machte Giorgio Battistelli seine Oper I Cenci (Die Cenci). Sie wurde 1997 am Almeida Theatre in London in englischer Sprache uraufgeführt und zwei Jahre später in Berlin erstmals in deutscher Sprache nachgespielt. 2019 erlebte sie nun in Lugano in italienischer Sprache ihre schweizerische Erstaufführung.
Die Horrorstory hat eine längere literarische Karriere hinter sich. Als erster ließ sich 1820 Shelley davon zu einem Theaterstück inspirieren. 1837 folgte Stendhal mit einer Novelle in seinen Chroniques italiennes. Nach diesen beiden Quellen schuf Artaud ein Jahrhundert später seinen Vierakter unter dem Titel Les Cenci, und der wiederum diente Battistelli als Vorlage für sein Libretto.
Artaud hat der Geschichte ins Monströse zugespitzt, und die fragmentarisch kurzen Sätze, die Giorgio Battistelli aus dem Originaltext destilliert hat, wirken stellenweise wie Stiche ins lebendige Fleisch. Artauds Idee eines „théâtre de la cruauté“, das die Affekte im Rohzustand und von allen Konventionen befreit zur Wirkung bringen soll, bleibt in Battistellis artifizieller Lesart allgegenwärtig. Graf Cenci, in Lugano von Roberto Latini als kühl berechnendes Scheusal dargestellt, ist ein triebhaftes Raubtier in Menschengestalt, das sich die Vergewaltigung der Beatrice (Elena Rivoltini) lustvoll als Zerstörung ihres Ichs ausmalt. Wenn Cenci über seine perversen Gefühle monologisiert, reisst er die Erzählperspektive brutal an sich, und die Zuschauer steigen mit ihm hinunter in die tiefsten Abgründe seiner Psyche. In solchen Momenten schlägt der erschreckend genaue Blick Artauds auf das Böse im Menschen voll durch.
Text, Musik und Szene als drei relativ autonome Ebenen
Die Bühnenerzählung von I Cenci hat Giorgio Battistelli aufgespalten in die drei relativ autonomen Ebenen Text, Musik und Szene. Mit dem Verzicht auf Gesang – die vier Darsteller haben reine Sprechrollen – schuf er ein Melodram, das durch Mikrofonierung und Live-Elektronik eine räumliche Dimension erhält. Während durch die Sprechrollen das Geschehen wie im epischen Theater auf Distanz gerückt wird, entfaltet sich das emotionale Potenzial des Dramas in erster Linie in der Musik. Sie kommentiert und vertieft das Gesprochene auf wirkungsvolle Weise, aber ohne jede Überhitzung. Als weiteres Element hat Battistelli auch Bildprojektionen vorgesehen.
Die Inszenierung durch Carmelo Rifici auf der weiträumigen Bühne des neuen Konzerthauses LAC konnte von der konzeptionellen Offenheit der Vorlage profitieren und tendierte zum Multimediatheater. In den Videoprojektionen von Francesco Puppini, die simultan auf mehreren Bildschirmen liefen, wurden die im Text angesprochenen und szenisch nur angedeuteten Handlungen als Filmsequenzen in Schwarzweiss dargestellt. Man folgte der Kamera durch lange Korridore, Treppenaufgänge und Zimmerfluchten eines menschenleeren Palastes – eine klinisch saubere, alptraumhafte Szenerie, in der der Hausherr herumgeisterte wie Minotaurus in seinem Labyrinth, in der er seiner Tochter nachstellte und sie schliesslich wie ein verängstigtes Wild zur Strecke brachte. Um die schwarze Perspektive am Schluss etwas aufzuhellen, liess man in Lugano als Epilog noch eine Solotänzerin (Marta Ciappina) ihre poetischen Kreise ziehen – Beatrice sollte nicht sterben.
Eindrucksvoller Raumklang
Zur dramatischen Verdichtung und zugleich räumlichen Ausweitung des Geschehens von I Cenci trug der von Fabrizio Rosso (Klangregie) sowie Alberto Barberis und Nadir Vassena (Live-Elektronik) sorgfältig modellierte Raumklang entscheidend bei. Er überwölbte den ganzen Zuschauerraum, insgesamt waren über zweihundert Einstellungen vorprogrammiert. Die Stimmen und Instrumente wurden diskret verstärkt, stellenweise auch klanglich transformiert und wanderten im Raum. Die beklemmende Geschichte rückte hautnah an den Zuschauer heran, die unheilverkündenden Schritte Cencis im leeren Palast zogen über seinen Kopf hinweg ihre Kreise. Francesco Bossaglia am Dirigentenpult hielt die komplexen musikalischen Verläufe jederzeit fest im Griff.
Die sehr gut besuchte Aufführung war eine Koproduktion der Theatervereinigung LuganoInScena, welche die professionellen Schauspielern verpflichtete, und der Konzertreihe 900presente. Diese dem Conservatorio della Svizzera Italiana angeschlossene, seit zwanzig Jahren bestehende Konzertreihe stellte die sechzehn Instrumentalisten, alles fortgeschrittene Studierende, sowie das umfangreiche technische Team, das für die klangliche und visuelle Realisierung zuständig war.
Nach der musiktheatralischen Bearbeitung von Pablo Picassos Theaterstück „Le désir attrapé par la queue“ von 2018 kam es nun in Lugano mit „I Cenci“ von Giorgio Battistelli erneut zu einer gelungenen Koooperation von erfahrenen Bühnenprofis mit dem musikalischen Nachwuchs. Ein Unternehmen mit Vorbildcharakter – zur Nachahmung empfohlen!
Eine Zweitversion dieses Textes befindet sich in der Schweizer Musikzeitung, Juni 2019.
siehe auch: Giorgio Battistelli und das Musiktheater