Ein Orchesterstück als verfeinertes Spätprodukt der spektralistischen Kompositionsweise
Das 2010 in Nizza uraufgeführte Orchesterwerk „Voyage par-delà les fleuves et les monts“ von Hugues Dufourt stellt nach den eigenen Worten des Komponisten einen Schritt in kompositorisches Neuland dar. „Ich habe mit mir selbst gebrochen“, sagt er. „Nach der Uraufführung wurde ich von einem Kenner meiner Musik gefragt, was mit mir los sei. Da war ich erst einmal überrascht, doch beim gründlichen Nachdenken über die Vorgeschichte des Stücks wurde mir klar, was er meinte.“[1] Tatsächlich merkt man schon beim ersten Hören, dass sich dieses Werk von den vorangegangenen wesentlich unterscheidet. Zwar sind auch sie gekennzeichnet durch den für Dufourt charakteristischen Klangfluss und das Prinzip der kontinuierlichen Transformation, doch in „Voyage par-delà les fleuves et les monts“ geht der Komponist einen entscheidenden Schritt weiter. Die auf die Spitze getriebene, mit neuen Methoden erreichte Differenzierung der Mikrostruktur führt hier zu einem sich permanent wandelnden, nicht eindeutig lokalisierbaren Klanggebilde, das sich aus sich selbst heraus fortlaufend neu gebiert. Quantität kippt um in eine neue Qualität.
Spektralismus und Wissenschaftsphilosophie
Hugues Dufourt, geboren 1943 in Lyon, gehört wie Tristan Murail, Gérard Grisey und Michaël Levinas zum Kreis der Komponisten und Interpreten um das Pariser Ensemble L’Itinéraire, die in den 1970er Jahren, inspiriert durch ihre Klangforschungen am Computer, ihre auf Obertonanalysen basierten Kompositionstechniken entwickelten, die unter der Bezeichnung „Musique spectrale“[2] zusammengefasst werden. Bereits während seines Kompositionsstudiums bei Jacques Guyonnet in Genf hatte er Zugang zu einem sehr gut ausgestatteten Elektronik-Studio; hier kam er auch erstmals in direkten Kontakt mit der Musik des von ihm hoch geschätzten Varèse, als er in der Genfer Aufführung von „Déserts“, dem Pariser Skandalstück von 1954, die Tonbandzwischenspiele aussteuerte. Als Doppelbegabung studierte er Musik und parallel Philosophie, später war er langjähriger Leiter der Forschungsabteilung im Bereich der Philosophie und dann auch der Musik an der staatlichen Forschungseinrichtung des Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Sein starkes Interesse gilt den Berührungspunkten der beiden Disziplinen, und über die Wissenschaftsphilosophen, mit denen er auch persönlich in Kontakt kam, sagt er, sie hätten ihn gelehrt, „dass die mentalen Prozesse beim wissenschaftlichen und künstlerisches Schaffen im Grunde genommen gar nicht so verschieden sind, auch wenn man sie natürlich nicht verwechseln sollte“.
Die theoretische und praktische Beschäftigung mit dem Computer brachte ihn schon in den sechziger Jahren zur Überzeugung, dass es sich bei der Digitalisierung um einen Vorgang von herausragender historischer Bedeutung handelte: „Die Revolution des Computers war nicht bloß eine technologische oder wissenschaftliche, sondern ganz grundsätzlich eine Revolution des Denkens.“ Und ganz nebenbei erwuchs daraus auch die Notwendigkeit einer neuen musikalischen Theorie und Praxis – die Idee des Spektralismus war geboren. Nötig war eine Neudefinition der Musik und ihrer Sprache auf der Basis der durch den Computer gewonnenen Erkenntnisse. „Früher arbeiteten die Komponisten mit dem Klang der Instrumente, jetzt aber mit dem mikroskopischen Detail des Klangs, und das auf völlig rationale Weise. Der Computer ist für den Komponisten, was das Fernrohr für Galilei war.“ Bei seinen physikalisch-akustischen Forschungen stützte er sich unter anderem auf die Schrift des Wissenschaftsphilosophen Gaston Bachelard „Le Pluralisme cohérent de la chimie moderne“[3], die ein bahnbrechendes Kapitel über die Spektren enthält. Dank der inzwischen weit fortgeschrittenen Instrumentaltechnik war es nun möglich, solche Erkenntnisse systematisch auf die kompositorische Praxis anzuwenden und künstlerisch fruchtbar zu machen.
„Voyage par-delà les fleuves et les monts“, ein Werk des permanenten Übergangs
Das „Fernrohr des Galilei“ aus den 1960er Jahren ist fünfzig Jahre später in „Voyage par-delà les fleuves et les monts“ zum Hubble-Teleskop geworden; eine verbesserte Wahrnehmung erfasst neue Dimensionen der Klangmaterie und ermöglicht die feinsten Übergänge. Die Arbeit an der Mikrostruktur bringt die Klangobjekte zum Fließen, und was man wahrnimmt, sind die globalen Veränderungen eines raffiniert gestalteten, vielfarbigen Klangstroms, der sich schwerelos durch den Raum bewegt und dessen Bestandteile nicht mehr identifizierbar sind. Vergleichbar ist das – auf einer historisch früheren Stufe – mit der Orchestertechnik am Schluss der „Götterdämmerung„, wo die Details der rhythmisch unterschiedlich strukturierten Instrumentalschichten auch nicht mehr für sich, sondern im Dienst einer globalen Wirkung stehen. Doch geht es bei Hugues Dufourt nicht um illustrative Wirkungen, sondern um eine rein musikalische Problematik: um die wissenschaftlich abgestützte Synthese der akustischen Mikroelemente zur Erzeugung einer in sich geschlossenen, hochgradig differenzierten Klangerscheinung.
Mit den gängigen analytischen Kategorien ist „Voyage par-delà les fleuves et les monts“ nicht mehr beizukommen. Lineare Gestalten fehlen darin ebenso wie klar konturierte Rhythmen. Obwohl die einzelnen Instrumentengruppen in der Partitur deutlich voneinander abgehoben sind, kann man hörend keine überlagerten Schichten mehr erkennen; der rational gesteuerte Verschmelzungsprozess hebt alle Gegensätze auf. Die Dimensionen des Klangraums sind so fließend wie die Harmonik, die Instrumentalfarben oft gar nicht mehr identifizierbar: Was kommt von den Streichern, was vom Schlagzeug, was von der Klarinette? Woraus bestehen die Mischungen? Und da es keine erkennbaren Formteile mehr gibt, gibt es auch keine Übergänge. Das ganze Stück ist ein einziger Übergang. Von irgendwo zu nirgendwo.
Das klingt nach elektronischer Komposition, und Dufourt leugnet nicht, dass er sich beim Komponieren von der Vorstellung einer für die Elektronik spezifischen Prozesshaftigkeit leiten ließ. Doch auf die Feststellung, dass man dieses Stück, wenn es mit geeigneten Mitteln digitalisiert würde, durchaus auch als genuin elektronisches Lautsprecherwerk zu Gehör bringen könnte, wendet er ein: „Das wäre längst nicht so differenziert. Auf dem Computer kann man nur mit Programmen arbeiten, man bleibt stets in deren Darstellungsformen gefangen. Ich bevorzuge das Orchester, denn das Dionysische gibt es nur dort.“ Bereits 1977 sagte er: „Das Orchester ist noch immer unser bester Synthesizer“[4],und daran hält er auch heute noch fest. Er weiß, wovon er spricht. Zwanzig Jahre lang hat er am Ircam als Forscher und Pädagoge gearbeitet und Doktorarbeiten über Computermusik betreut. Das dort erworbene Wissen ist eine der theoretischen Säulen seines heutigen Komponierens.
Computeranalyse und antike Musiktheorie
Wie entstehen die subtilen, an elektronische Musik erinnernden Klangprozesse in „Voyage par-delà les fleuves et les monts“? Allgemein gesagt: vor allem durch den gezielte Einsatz von komplexen, häufig auch völlig neuen Obertonphänomenen und ihre Kombination. Die Methoden, die Dufourt hier anwandte, sind das Resultat von Erfahrungen und theoretischen Vorarbeiten, die sich über mehr als ein Jahrzehnt hinzogen; dazu gehören einerseits die Computeranalysen von Klängen, die am Ircam zu seinem täglichen Brot gehörten, andererseits das Studium der antiken Musiktheorie. Letzteres betrieb er anhand griechischer Originalquellen, aber auch durch die Lektüre entsprechender Untersuchungen der amerikanischen Musikwissenschaft, die in diesem Bereich führend ist. „Für die Griechen gingen Musik und Mathematik zusammen“, sagt Dufourt, „und so gesehen ist die Musikgeschichte eine Geschichte der musikalischen Arithmetik. Ihre komplexen mathematischen Problemstellungen führen, auf die Musik übertragen, zu extrem differenzierten Resultaten.“ Er verweist auf den metaphysischen Charakter der altgriechischen Traktate: „All diese arithmetischen Schlachten, die da geschlagen wurden, waren im Grunde genommen Bilder der Unendlichkeit, und die so errechnete Musik diente dazu, dem Diesseits zu entkommen.“
Das alles ist in die Arbeit an den neuen Klängen von „Voyage par-delà les fleuves et les monts“ eingeflossen, sei es als technische Anleitung, sei es als Hintergrundüberlegung. Vielleicht wurde auch die Wahl des Titels dadurch beeinflusst. Die „Reise zwischen Flüssen und Gebirgen“ bezieht sich auf ein berühmtes Gemälde des chinesischen Landschaftsmalers Fan Kuan aus dem frühen 11. Jahrhundert, das Dufourt, der seine Titel gerne aus der bildenden Kunst bezieht, verbal sehr genau beschreibt, aber nicht musikalisch illustriert. Einige winzige Gestalten – offenbar eine Handelskarawane – sind darin inmitten einer imposanten Natur zu sehen.
Zu den häufig auftauchenden Obertonkonfigurationen in „Voyage par-delà“ gehören Doppelflageolett-Tremoli der Streicher, oft glissandierend, und spezielle Multiphonics der Bläser.

Alles ist genau bezeichnet, alles ist spielbar, auch die Tremoli zwischen dem Grundton und seinen Obertönen in den Klarinetten oder die gewagten Mehrklang-Tremoli in der Bassklarinette, die Dufourt mithilfe eines befreundeten Instrumentalisten definieren konnte. In den so erzeugten Klangereignissen verschwinden die exakten Tonhöhen; zu hören ist nur ein unbestimmter Geräuschklang, ein „Debussyscher Nebel“, resultierend aus den komplexen, aber genau kalkulierten Schwingungsverhältnissen.
Auch die Glissandi, an denen die Partitur reich ist, sind keine bewegten Tonhöhenpunkte, die klare Linien in den Raum zeichnen wie bei Xenakis, sondern instabile, schwer definierbare Geräuschereignisse, und die Spur, die sie im Raum hinterlassen, ist verwischt und kaum hörbar. Dufourt machte die Erfahrung, dass einige gezielt eingesetzte Ereignisse dieser Art genügen, um das gesamte Klanggebilde in einen labilen Zustand zu versetzen. Das Prinzip bei den Einzelereignissen heißt „Unidentifizierbarkeit“ und beim orchestralen Gesamtklang „Interferenz“. Dufourt verweist auf den physikalischen Ursprung dieses Prinzips: „Bei der Interferenz von Lichtwellen beobachtet man, wie das funktioniert, und so mache ich es auch mit dem Orchester. Das sind Interferenz-Techniken.“
Rationalität und allgemeine Verständlichkeit
Untersuchungen über die musikalische Verwendung von Mehrklängen und Obertonstrukturen gibt es zahlreiche; Hugues Dufourt hat sie studiert und daran angeknüpft. Was seine eigenen Entdeckungen angeht, so hat er großen Wert auf Eindeutigkeit und auf praktikable Griffe gelegt. Das Ziel ist allgemeine Verständlichkeit und Gültigkeit und – sehr französisch – die „rationalité“ des Systems. Die Klänge sollen von jedem Orchestermusiker gespielt werden können. Die jahrelange, aufwändige Arbeit konnte er nicht allein leisten. Sie ist das Produkt der Zusammenarbeit mit zahlreichen Orchestermusikern, in erster Linie mit Dominique Delahoche, Komponist und Soloposaunist im Orchestre National de Lorraine in Metz. Während eine gemeinsam verfasste Studie über die Posaune demnächst bei Lemoine herauskommt, wird auf mittlere Frist bei den Editions Delatour eine Reihe von Heften erscheinen, in denen die neuen Spielweisen für die wichtigsten Orchesterinstrumente systematisch und praxisnah dargestellt werden. Hugues Dufourt will dabei als Berater zur Verfügung stehen und die Autorenschaft Dominique Delahoche überlassen. „Ich habe ihm gesagt: Die Idee stammt von mir, aber wir haben das zusammen erarbeitet, und nun sollen Sie die Verantwortung übernehmen.“ Mit seinen 72 Jahren geht es ihm nicht mehr um persönliche Profilierung, sondern um einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Orchesters im 21. Jahrhundert.
Max Nyffeler
Hinweise
Eine Printversion dieses Artikels ist erschienen in der Neuen Zeitschrift für Musik Nr. 3/2016
CD-Aufnahme bei Timpani
Werke von Hugues Dufourt bei Lemoine
Hugues Dufourt: La musique spectrale. Une révolution épistémologique, Editions Delatour France, Sampzon 2014 (485 S.).
Anmerkungen
[1] Alle Zitate stammen, sofern nicht besonders nachgewiesen, aus zwei Gesprächen, die am 2.3.2016 in Paris und am 24.3.2016 per Telefon mit dem Komponisten geführt wurden. (Übs. d. d. Autor)
[2] Den Begriff prägte Dufourt in seinem 1979 verfassten und zwei Jahren später publizierten Aufsatz „Musique spectrale: pour une pratique des formes de l’énergie“, Zeitschrift „Bicéphale“ Nr.3/1981, S. 85–89.
[3] Editions J. Vrin, Paris 1932.
[4] „L’orchestre reste encore notre meilleur synthétiseur“, zit. nach: Martin Kaltenecker, „Le son comme énergie“, Booklet zur CD „Œuvres pour orchestre, volume 1“, Timpani TIM1C1195, S. 3.