In der Sackgasse

Deutschland geht es prächtig. Die Steuern sprudeln, die Wirtschaft brummt, der Inlandkonsum steigt, und sollte sich in der allgemeinen Saturiertheit einmal unterschwelliger Frust bemerkbar machen, so steht dem aufgeklärten Verbraucher zur Triebabfuhr ein breites Angebot an salonfähiger Pornokunst zur Verfügung. Die dritte merkelianische Regentschaft erweist sich als die beinahe beste aller Welten. Was will man mehr?

Das scheint man sich auch in der zeitgenössischen Musikszene zu sagen, trotz Murrens über Mittelkürzungen und Orchesterabschaffungen; ein Indiz für die Zufriedenheit ist das Fehlen der guten alten Utopien, nach denen am Sanktnimmerleinstag einst der Kapitalismus überwunden werden sollte. Für die Komponisten läuft das Geschäft recht gut, wenn auch schön abgestuft wie im Fußball: Zuoberst die Bundesligisten mit dem Siemens-Logo auf dem Trikot, dann die wackeren Zweitligisten, die vom lokalen Wasserversorger unterstützt werden, und so weiter bis hinunter zu den Amateuren. Jeder auf seinem Spielplatz, jeder mit seinen Aufstiegsschancen. Je nach Jurorengunst. Und wer kann, produziert und liefert auf Hochtouren an die Veranstalter, die stets an Neuem interessiert sind und wie eh und je ihre Arbeit verrichten.

Wo das amtlich geförderte Glücksstreben die Menschen zu braven Eurobürgern gemacht hat, die friedlich ihrem privaten Materialismus, genannt Kauflaune, huldigen dürfen, da fragt man sich: Warum sollte diese friedliche Welt der Dinge nicht auch Gegenstand des Komponierens werden? Die Zeitschrift „Positionen“, ein Forum für alle diejenigen, die Musik vor allem als theoretisches Konstrukt begreifen, hat eine Antwort darauf gefunden. Sie hat vor einiger Zeit wieder einmal einen neuen Komponiermodus definiert, die „Diesseitigkeit“, und die Neuigkeit in unermüdlicher PR-Arbeit auch in anderen Medien platziert. Da ist viel von Strategie, Konzept, Apparat und Wahrnehmung die Rede. Nicht zu vergessen das berühmte Material. In der Praxis sieht das dann so aus, dass Alltagsgegenstände vom Pappbecher bis zum Medienschrott in einem Anfall von Trivialmaterialismus zu künstlerisch verwertbaren Gebrauchsgegenständen umcodiert und damit in den Rang von ästhetischen Objekten erhoben werden. Das erinnert von fern an den radikalen Cage aus der Zeit um 1960. Nur mit dem Unterschied, dass seine das Denken öffnende Unbestimmtheit jetzt in preußische Ordnung gebracht und zum Baukastenprinzip für Bastler umgeformt wird.

Mit der Aufwertung der Dingwelt wolle man die Anbindung der Musik an die Gegenwart befördern, lautet ein Argument; am großen Dialog über die Welt teilhaben, ein anderes. Doch was ist „Welt“ hier anderes als die banale Welt des Konsums und seiner Abfälle, mit denen selbstvergessen gespielt wird? Eine erstaunliche Bewusstseinsverengung. Die dialektisch dem „Diesseits“ eingeschriebene Kehrseite – die unerforschte Dimension dessen, was sich Begriffen und sinnlicher Wahrnehmung entzieht und womit sich ernstzunehmende Musik schon immer befasst hat – wird als uninteressant beiseite gewischt. Wittgenstein fand seinerzeit, über das sprachlich nicht Fassbare sollte man schweigen, um sich dann später umso intensiver mit dessen Grenzen zu beschäftigen. Aber das war bekanntlich ein altmodischer Philosoph, der noch nichts vom ultimativen Wirklichkeitsgehalt der viereckigen YouTube-Filmchen wusste, an denen sich das Weltbild der Diesseitigkeitsfraktion erklärtermaßen auch orientiert.

Inzwischen nähert sich ein anderer Philosoph der Bastlertruppe, um ihren Bemühungen um Welthaltigkeit das nötige begriffliche Korsett zu verpassen: der nette Theoriedoktor Harry Lehmann. Über Adorno ist er zu Luhmann vorgedrungen und bietet nun der Musikwelt Hilfestellung in Systemtheorie an. Nach seinem Befund, das Sinfonieorchester sei durch das Computersampling ersetzbar, ist er nun dabei, unter dem Motto der „gehaltsästhetischen Wende“ einen neuen Begriffskäfig zu bauen, in dem sich auch die Diesseitigen zu Hause fühlen können. Dass dabei die Selbstreferenzialität ganz oben stehen wird, lässt sich schon aufgrund von Lehmanns Fußnoten vermuten. Sie verweisen meist auf eigene Texte. Über diese Sucht zur Unfreiheit könnte man lachen, wenn es nicht so traurig wäre, wie hier eine Gruppe von offensichtlich nach Neuem suchenden Komponisten sich derart in der Sackgasse der Dingwelt verrannt hat. Gehört es zur neuen Bescheidenheit in der Zeit der dritten merkelianischen Regentschaft, das zu tun, was sich die Subventionsgeber heimlich wünschen: Verschönerung des alternativlosen Alltags?

Betrachtet man die publizistische Diesseitigkeits-Kampagne vor einem etwas weiteren Zeithorizont, so drängt sich indes noch eine andere Vermutung auf: Soll damit etwa dem Diamat, dieser abgehalfterten philosophischen Kategorie des real untergegangenen Sozialismus, in der Unwirtlichkeit der kapitalistisch gewordenen Hauptstadt zu einer kleinen Auferstehung verholfen werden? Doch man sollte nicht vergessen, dass der kluge Analytiker Karl Marx die ideologische Überhöhung der Dingwelt, wie sie hier praktiziert wird, einst unter „Fetischcharakter der Ware“ eingeordnet hat. Er würde er sich in Highgate in seinem Grab umdrehen, wenn er wüsste, was er mit seiner problematischen Aussage, das gesellschaftliche Sein bestimme das Bewusstsein, angerichtet hat.

Max Nyffeler

April 2014

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