Ein Gespräch aus früheren Jahren zur Erinnerung an Klaus K. Hübler. Nach einem vielversprechenden Anfang fiel er 1989 einer schweren Krankheit zum Opfer, die eine lebenslange Behinderung zur Folge hatte. Doch mutig setzte er seine kompositorische Arbeit über all die Jahre hinweg fort. Nun ist er am 5. März 2018 in München in seinem 62. Lebensjahr verstorben.
Max Nyffeler: Sie haben Ihr 1. Streichquartett Alban Berg gewidmet. Wollten Sie sich damit auf Bergs Ausdruckswelt berufen?
Klaus K. Hübler: Eine bestimmte Idee steckt dahinter. Am Schluß der Lyrischen Suite gibt es diesen Verebbensgestus, ein „morendo“. Ich dachte, es müßte eigentlich nicht nur in poetisierender Form möglich sein, diesen Gestus zum Ausdruck zu bringen, sondern es müßte möglich sein, ein ganzes Stück so anzulegen, daß es praktisch vom ersten Takt an das Struktur- oder Formmerkmal des „morendo“ aufweist, das sich in immer wieder anderer Weise äußert. Zum Beispiel im ersten Satz durch das Zerfließen und Längerwerden der Notenwerte – das zieht sich praktisch durch das ganze Stück hindurch.
Es gibt sehr viele Vortragsbezeichnungen in diesem Stück: „Zart aber ausdrucksvoll“, „senza emozione“, „heftig ausbrechend“, „hysterisch“, „mit höchster Kraft“, „mit stets wachsender Furcht“ usw., also Angaben, die vielmehr der psychologischen als der technischen Sphäre angehören.
Da schlägt natürlich Berg voll durch. – Es ist ja so: das Material ist ganz statisch, was Tonhöhenfolgen usw. angeht. Mich hat es damals interessiert, einen Widerspruch zwischen der Materialebene und dem affekthaften Bereich zu erzeugen; aus diesem Widerspruch sollte die für dieses Stück charakteristische Ausdrucksqualität hervorgehen.
Hat das etwas mit dem Begriff „Dialektische Kompositorik“ zu tun, den Sie in Ihrem Kommentar zum 3. Streichquartett benutzen? Ist diese Idee beim 1. Quartett auch schon im Hintergrund?
Ja. Schon bei der noch früheren „Musica mensurabilis“ ist sie im Hintergrund. Mit den einfachsten geraden Notenwerten – Sechzehnteln, Achteln, usw. – sollte hier eine Art mathematische Exaktheit angestrebt und gleichzeitig verlangt werden, daß bestimmte Phrasen jeweils sehr laut und ohne jedes Vibrato auf einen Bogen genommen werden. Gerade die Forderung, daß dabei alle Tonschwankungen vermieden werden sollten, führt nun gleichsam automatisch zu Tonschwankungen. Beim Versuch, das unter hohem Druck ganz gleichmäßig hervorzubringen, passieren unvorhersehbare und nicht abwägbare Dinge, z.B. das Abgleiten des Tons in Geräusche. Die berechnete und berechnende Art der Ausführung schlägt um in Unberechenbares.
Sollen also dem Interpreten unlösbare Aufgaben gestellt werden, um Zufallselemente in die Musik einzuschmuggeln?
Hm – ich suche eigentlich nicht das Zufallsprodukt…
Aber Sie wollen – ich berufe mich auf Ihren Text zum 3. Streichquartett – für die Interpreten eine Art Zwangsjacke schaffen, die sie zwingt, nach Wegen zu suchen, um sich trotzdem irgendwie durchzuschlängeln?
Richtig. Ich glaube, daß bei der gegenwärtig so gepriesenen Verfügbarkeit der Mittel, wo man also nicht mehr gegen verfestigte Stile ankomponieren muß, wie das etwa noch Schönberg gegen Brahms mußte – daß man in dieser Situation sich den kompositorischen Widerstand selbst aufstellen muß. Das versuche ich dadurch, daß ich Konstruktion nicht nur als Mittel verwende, um Musik herzustellen, sondern zugleich auch als Mittel, das mich eben gerade daran hindert. Als Komponist muß ich versuchen, dem von mir Gesetzten, das mir dann als Fremdes entgegenkommt, auszuweichen und Finten zu erfinden, um trotzdem noch Musik auf’s Papier zu bekommen.
Keine verbrauchsfertigen Lösungen
Das ist ja wohl das Problem des Wertsubjektivismus der Moderne überhaupt, nicht nur in der Musik: Der Mensch ist gezwungen, sich seine Werte selbst zu setzen, denn es gibt keine dogmatische Überlieferung mehr, die ihm die Werte gleichsam verbrauchsfertig zur Verfügung stellt.
Das Wort „Wertsubjektivismus“ gefällt mir nicht so recht. Das würde heißen: Ich setze mich an den Schreibtisch und bringe irgendwas zu Papier, was mir gerade einfällt.
Ich meine damit die kritische und verantwortungsbewußte Wahl einer Möglichkeit von vielen. Einen subjektiven Akt, der auch nur subjektiv begründbar ist.
Aha. Ja, so finde ich’s ok.
Treffen Sie eine negative Auswahl von Materialien, Verfahrensweisen oder Prinzipien?
Ja. gewiß schließe ich manches aus. Zum Beispiel meine ich, daß eine Kunst, die sich in der Zeit ausdehnt, versuchen sollte, diese Zeit so intensiv und so reich wie möglich auszufüllen. Von daher scheiden bestimmte Dinge von vorneherein als ästhetisch uninteressant aus: Wiederholungsraster, zum Beispiel um meditative Stimmungen zu erzeugen, u. dgl.
Und die Tonalität? Damit kann man ja auch die Zeit sehr dicht und reichhaltig gestalten. Sie benutzen sie eher wenig.
Diese Frage spielt bei mir nicht so eine Rolle. Vielleicht, weil ich eher in Intervallbeziehungen und linear denke als harmonisch. Allgemein gesagt: Einerseits interessiert mich heute vor allem eine Art zu komponieren, bei der das Material nicht neben dem Stück liegt. Das Stück sollte seine eigene Geschichte reflektieren, durch Rückbezüge auf sich selbst. Es sollte sich in seinem Verlauf immer wieder in neuen Ausschnitten und Facetten selbst zum Material werden. Nicht in dem Sinn, daß es nun Tabellen gibt, in denen man nachschauen kann, was als nächstes zu kommen hat, sondern daß ein Anfang da ist, der eine Konsequenz hat in einem zweiten Abschnitt, und daß diese neue Stufe wieder die Voraussetzung bildet für das Folgende usw. Nicht ein ideales Schema, das hinter dem Stück steht, sondern das reale Endprodukt ist das Wesentliche.
Schreiben für das Instrument
Einerseits also eine Musik, die sich fortwährend selbst erzeugt. Und andererseits?
Das andere, was mich interessiert, ist die Idee des Wiederaufgreifens einer „instrumentengerechten Schreibweise“. Das klingt immer ein bisschen nach Hindemith, aber gerade das ist nicht gemeint. Etwas vereinfacht gesagt, gab es in der Avantgarde zwei Richtungen. Die eine, das serielle Denken, tendierte dazu, die Instrumente praktisch als nichtexistent zu betrachten; es wurden irgendwelche Oktavverteilungen vorgeschrieben, wobei dann der Interpret und sein Instrument höchstens unangenehm auffielen, wenn die Oktavlage nicht verfügbar war usw. Das andere Extrem war die rein verfremdende Verwendung der Instrumente: Mit Styropor auf dem Cello reiben u. dgl. Das mag durchaus gut klingen, scheint mir aber ein falscher Weg der Entwicklung zu sein, weil dabei der ganze Reichtum der historisch erworbenen spieltechnischen Fähigkeiten praktisch weggeworfen wird. Für solche Dinge sollte man besser ein eigenes Instrument schaffen oder ein Monochord benutzen. Dazu braucht man ja keine Stradivari und auch keinen Spezialisten, der sich jahrzehntelang bemüht hat, bestimmte historisch gewachsene Fertigkeiten zu erwerben. Wenn ich für Streicher schreibe, zum Beispiel im 3. Streichquartett, versuche ich aus dem Instrument heraus zu denken, d.h. das Instrument selbst als einen Faktor in den Kompositionsprozeß einzubeziehen. Ich glaube, daß dadurch auch eine ganze Menge neuer Spieltechniken ermöglicht werden. Vor allem durch Polyphonisierungsprozesse bei der Tonerzeugung, also durch gezielte Asynchronitäten bei Bogen- und Saitenwechsel und ähnliches, die denn auch zu vom normalen Klang ganz abweichenden klanglichen Resultaten führen und die das, was von Fertigkeiten schon vorhanden ist, vielleicht in eine andere Richtung führen können.
Die Frage der Notation
Das bedingt auch neue Notationsformen. Beim Posaunenstück „Cercar“ z.B. gibt es ein System für die Züge, eines für die Luftdosierung und Artikulation, also die inneren Organe, und Hilfslinien, z.B. für den Einsatz des Dämpfers. Klang und Notation verhalten sich hier noch in einer halbwegs anschaulichen Analogie zueinander.Wie ist das jetzt bei den Streichern? Das 1. Quartett klingt noch relativ traditionell und ist auch so notiert, während beim 3. Quartett die viel weiter entwickelte Notation offenbar auch ganz neue, komplexere Klänge ermöglicht hat. Der Klang ist die Synthese eines Prozesses, dessen Einzelschritte im Resultat verschwinden und nicht mehr rückwärts analysierbar sind. Klang und Notation sind einander nicht mehr gestaltmäßig zuzuordnen, sondern bilden vielmehr zwei parallele, abstrakt vermittelte Sprachsysteme. Konkret beim 3. Quartett: Die Notation für jedes Streichinstrument z.B. besteht aus je einem Fünf- und aus einem Vierliniensystem und darüber noch drei Einzellinien. Was ist hier notiert?
Also, von unten nach oben: Das Fünfliniensystem gibt an, was die Griffhand tut – die Doppelgriffe usw. Das mittlere Vierliniensystem stellt die vier Saiten dar, von unten nach oben: g-d-a-e, und gibt an, in welchem Zeitpunkt welche Saiten angestrichen werden sollen, also praktisch die Bewegung des Saitenwechsels.
Im Grunde genommen offenbar eine Art Tabulaturnotation…
Das stimmt; weiter hinten kommt tatsächlich sogar noch eine reine Tabulaturnotation vor. – Die Einzellinie über dem Vierliniensystem gibt den Rhythmus des Bogenwechsels an. Das heißt: Saitenwechsel und Bogenwechsel sind asynchron, sie überlappen sich, und das heißt weiter: Der Komplex Saitenwechsel/Bogenwechsel bestimmt, was von den Griffen auf dem unteren Fünfliniensystem überhaupt hörbar wird. Nicht alles, was gegriffen wird, wird unmittelbar hörbar, manches nur teilweise oder mit Verspätung. Deshalb gibt es nötigenfalls die Fingerkuppenschläge – da, wo die Notenköpfe als Kreuze notiert sind -, um den Beginn eines neuen Griffs hörbar zu machen.
Ganz oben gibt es nochmals zwei Einzellinien. Was bedeuten sie?
Die oberste dient dazu, die Bogenart zu bestimmen: col legno, ordinario, usw.; die zweitoberste gibt den Ort des Streichens auf der Saite an: sul tasto, sul ponticello, usw. Hier kann es zu einer Art Trillereffekt kommen, zwischen ordinario und col legno oder zwischen tasto und ponticello, was den Klang dann nochmals splittet.
„Es ist alles machbar, was ich schreibe“
Da stellt sich wohl die Frage: Schafft es der Interpret überhaupt, diese Vielzahl von Spielanweisungen im Sinne der Partitur zu koordinieren? Ich kann mir vorstellen, daß hier ein Interpret diese Notation erst einmal Baustein um Baustein buchstabieren lernen muß, bevor er die zahlreichen synchronen Verläufe zu einer Sinneinheit verschmelzen kann. Linke Hand, rechte Hand, Bogen- und Saitenwechsel, Stricharten usw. – er muß an alles gesondert denken und kommt sich vielleicht wie ein Tausendfüßler vor, der sich seiner tausend Füße bewußt wird und nun nicht mehr weiß, welchen Fuß er wann bewegen soll. Vorher ging’s mehr oder weniger organisch, und jetzt muß er plötzlich alles kontrollieren.Was haben Sie mit Interpreten für Erfahrungen gemacht?
Ja, vorher ging’s auch nicht unbedingt organisch. Die „organische“ Bewegung ist ja schon ein sehr reflektierter Vorgang. Wenn man einem Geigenschüler zuhört, dann merkt man, wie „unorganisch“ das alles ist, was da gleichzeitig abläuft.
Aber es wird dann sozusagen zu seiner zweiten Natur.
Ja. Aber es muß dann wieder neu bewußt und wieder auseinandergenommen werden. Das geht eigentlich erstaunlich rasch. Die Spieler versuchen zuerst, die verschiedenen Aktionen zu gewichten. Zuerst kommen die Griffe für die Tonhöhen und die Auf- und Abstriche, dann versuchen sie, den Saitenwechsel mit einzubauen.
Wie nahe kommen die Interpreten Ihren Klangvorstellungen?
Ich glaube, die Abweichungen vom Notentext sind hier nicht größer als bei der traditionellen Notation. Eine absolute Deckungsgleichheit zwischen Text und Interpretation ist sicher nicht möglich; die wird ja auch bei einem Haydn-Quartett nie erreicht. Aber es sind deutlich unterscheidbare Grade der Annäherung feststellbar.
Rechnen Sie beim Komponieren bewußt mit dieser Unschärfe oder Differenz? Ist es Ihre Absicht, den Interpret nur Annäherungswerte erreichen zu lassen?
Das möchte ich gerade nicht. Ich strebe ein größtmögliches Maß an Präzision an. Beim Komponieren probe ich die Klänge alle genau durch. Es ist alles machbar, was ich schreibe, und ich möchte auch, daß es gemacht wird. Auch bei der Diskoordination, die dadurch entsteht, daß der Bogen nicht stets an den Saiten ist, habe ich daran gedacht, daß alles an einem bestimmten Punkt zum Erklingen kommt; das heißt, diese Interdependenzen sind schon ganz genau auskonstruiert. Andererseits kann man sich natürlich fragen: „Läßt sich nicht die eine oder andere Stelle vereinfachen?“ Da meine ich, daß so ein Stück doch zwei Komponenten hat: Es gibt etwas zum Hören, aber es gibt auch etwas zum Lesen – also eine sinnliche und eine eine rein intellektuelle Komponente, und diese scheint es mir zu rechtfertigen, daß auch Dinge passieren, die die Wahrnehmungsgrenze überschreiten. Ein hochtrabender Vergleich: Bei einer isorhythmischen Mottete von Machaut wird beim Hören von der Isorhythmik auch nichts zu merken sein. Oder eine Spiegelfuge, die noch dazu als Umkehrungskanon in drei verschiedenen Notenwerten notiert ist: die wird man auch anders wahrnehmen, je nachdem ob man sie hört oder analysiert uind liest. Diese Dualität ist für mich wichtig – es gibt nicht nur das klangliche Resultat.
Die Verbindung von Intellekt und Klangsinnlichkeit
Sie wollen also nicht Partituren schreiben, die absichtlich die Grenzen des Spielbaren überschreiten, oder die, wie bei Hespos zum Beispiel, die Schwierigkeiten einsetzen, um emotionale Kräfte gleichsam explosiv freizusetzen.
An die Grenzen gehen meine Stücke schon: an die des körperlichen und intellektuellen Reaktionsvermögens. Aber ich überschreite sie nicht, ich suche nicht das Extrem. Die Hespos-Ästhetik ist nicht die meine. Ich möchte eine bestimmte konstruktive Klangwelt erzeugen für ein Stück – konstruktiv nicht im Sinn einer technoiden Welt, sondern als Verbindung von intellektuellen und klangsinnlichen Elementen. Um diese zu erzeugen, vor allem auch den Eindruck des Polyphonen, muß ich einfach einen bestimmten Komplexitätsgrad setzen. Nur mit Achtelnoten erreiche ich es nicht. Aus dem Wunsch, diese Klangwelt entstehen zu lassen, resultieren für den Spieler dann manchmal doch extreme Anforderungen. Das Extreme ist aber nie Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck, meine Klangvorstellung zu realisieren.
Mittlerweile habe ich gesehen, daß das auch andere Komponisten anstreben, etwa Reinhard Febel, der eine ganz andere Ästhetik hat als meine; er nimmt Finger- und Bogenbewegung auseinander, läßt z.B. Triolen greifen und Sechzehntel streichen.
Hat Sie Ferneyhough zu dieser Denkweise angeregt?
Anregungen habe ich sicher von ihm erhalten. Nur, das erste Mal, wo solche Verfahren bei mir auftauchen, in der Geigensonate von 1978, habe ich Ferneyhough noch gar nicht gekannt. Der Vergleich mit Ferneyhough kommt natürlich immer bei meinen Stücken; er wird meines Erachtens etwas überstrapaziert. Ich glaube, wir haben ästhetisch doch ein verschiedenes Verhältnis zu diesen technischen Sachen. Er will den Interpreten doch ganz bewußt an die Grenze treiben, es findet eine Art Selbstentäußerungsprozeß des Interpreten statt. Ich sehe die Komplexität bei mir wie gesagt mehr als eine Notwendigkeit, um einen bestimmten Klang zu erzeugen. Das scheint mit der Hauptunterschied zwischen Ferneyhough und mir zu sein.
Das Darmstädter Buhkonzert und der Instrumentalwiderstand
Übrigens, etwas Komisches: diese neuen Spieltechniken stoßen mehr bei den Komponisten als bei den Interpreten auf Mißtrauen. Vor der Uraufführung des 3. Quartetts in Darmstadt habe ich mit den Interpreten das Stück am Nachmittag vorgestellt, und da haben es die Interpreten gegen die Vorwürfe von Komponisten, das alles sei ja gar nicht machbar, in Schutz nehmen müssen. Das war 1984, mit einem großen Buhkonzert nach der Uraufführung.
Warum wohl das Buhkonzert?
Das weiß ich auch nicht. Vielleicht weckte ich zuviel Unbehagen. Mit solchen Stücken wird ja das Komponieren entschieden unbequemer. Das Instrument, das man einsetzt, muß man vorher genau studieren in seiner Tonerzeugung, und das ist natürlich zeitaufwendig. Aber das finde ich eben reizvoll: Zum „Kompositionswiderstand“ kommt dann noch der „Instrumentenwiderstand“, und man hat dann gegen beide anzukämpfen. Andererseits glaube ich, daß dann die Instrumente ihren „Geist“ offenbaren können. Sie erweisen sich dann plötzlich als eine Art Inspirationsquelle – ich mag das Wort eigentlich nicht -, als eine Ressource von Einfällen und Möglichkeiten. Das funktioniert ungefähr nach Walter Benjamins Prinzip: Man hat da ein Instrument, man studiert es, liest auch die Bücher darüber, spricht mit Interpreten. Dann geht man zurück an den Schreibtisch und kümmert sich nicht mehr darum, was der Interpret nun für spielbar oder unspielbar hält, sondern überlegt, was ist einfach aufgrund physischer Möglichkeiten machbar. Man betrachtet so lange das Instrument, bis es sozusagen seinen Geist offenbart und selbst Möglichkeiten eröffnet, die ganz individuell nur ihm allein zugehören. Ich glaube, Benjamin spricht davon, daß dann „der Gegenstand sein Geheimnis preisgibt“. So ist es natürlich nicht möglich, ein Stück für Blockflöte oder Kontrabaß oder Klavier zu schreiben. Man schreibt ein Oboenstück, das für Flöte eben nicht spielbar ist, obwohl die beiden Instrumente im Prinzip den gleichen Tonumfang haben, denn es ist so idiomatisch, daß es genau dieses Instrument und kein anderes anspricht.
Haben Sie auch schon gezielt für Interpreten geschrieben, wie Sie gezielt für Instrumente schreiben?
Das reizt mich gar nicht so. Nicht weil mich der einzelne Interpret nicht interessieren würde. Ich schreibe ja viel Solostücke und Kammermusik, und ich möchte ihn einbeziehen – nicht im Sinn der Popularästhetik, um ihm einen möglichst großen Freiraum zur Entfaltung zu schaffen, sondern im Gegenteil: Ich bin überzeugt, daß er einen möglichst kleinen Freiraum braucht, um seine Fähigkeiten optimal zu entwickeln. Dann finde ich aber auch, daß ein Stück als Stück existieren und unabhängig sein sollte von einem einzelnen Interpreten. Es würde mich nicht reizen, Effekte zu komponieren, die nur gerade von einem bestimmten Spieler beherrscht werden. Sicher verlange ich auf den Instrumenten Dinge, die vielleicht erst von einem kleinen Teil der Interpreten realisiert werden können, aber auf Dauer werden sie eine Chance haben, sich zu etablieren.
Fortschritt oder Änderung der Perspektive?
Gehen Sie davon aus, daß sich die instrumentalen Möglichkeiten ständig noch mehr erweitern ?
Bei den Bläsern ist das sicher der Fall. Gerade die Oboe hat in den letzten Jahren ihren Tonumfang um fast eine halbe Oktave erweitert. In technischer Hinsicht liegt da noch viel drin, auch in Artikulation und Blastechnik.
Sie sind von der Möglichkeit des Fortschritts überzeugt.
Das mußte wohl jetzt kommen… Sicher nicht im Sinne etwa Schönbergs, der die Musikgeschichte gleichsam teleologisch auf sich zulaufen sah, und der daherging und nun Händel „verbesserte“. Ich weiß nicht, ob das nun „Fortschritt“ ist oder nicht doch vielmehr als „Veränderung“ bezeichnet werden kann. Fortschritt hat immer den Beigeschmack, daß das Vorherige veraltet ist. Es sind aber einfach andere Qualitäten, die in den Vordergrund treten. Bei Brahms ist z.B. ein großer und schöner Ton gefordert. Für mein 3. Streichquartett braucht es aber ganz andere Qualitäten. Der große und schöne Ton spielt keine Rolle. Deswegen würde ich die technischen Dinge, die hier vom Spieler gefordert werden und die bei Brahms noch keine Rolle spielen, nicht als Fortschritt bezeichnen, sondern nur als eine Veränderung der Technik und damit natürlich auch als eine Erweiterung des Reservoirs an Ausdrucksmöglichkeiten. Das würde ich zugestehen, aber nicht im Sinne einer Höherentwicklung oder dergleichen. – Die Fortschrittsthematik bringt mich da noch auf einen andern Gedanken: Ich sehe mich mit meinem Versuch, in bestimmter Weise auf die Instrumente einzugehen, ziemlich allein dastehen, und das finde ich doch ziemlich schade. Ich glaube, daß jede Generation und jede Zeit auch aus so handgreiflichen Dingen, wie mit Instrumenten umgegangen wird, ihren Klang bezogen hat. Ihr Ausdrucksrepertoire war an die Art des Umgangs mit Instrumenten geknüpft. Heute sehe ich ein Auseinanderklaffen: Einerseits sind starke neue Ausdrucksbestrebungen zu beobachten, aber zugleich existiert ein vollkommenes Desinteresse an den Mitteln. Ich glaube, daß das mit der Zeit zu einem großen Defizit führen wird.
Siehe auch: Zum Schaffen von Klaus K. Hübler: Nicht Pathos, sondern Heiterkeit
Das Interview mit Klaus K. Hübler entstand im Sommer 1985 in Zürich und wurde in der Zeitschrift MusikTexte Nr. 20/1987 veröffentlicht.