Die armenische Musik kann auf eine uralte Tradition zurückblicken, und Komitas Vardapet (1869-1935) ist der Komponist, der die Tradition für die Gegenwart fruchtbar gemacht hat.
Für Westeuropäer ist die armenische Musik größtenteils eine Terra incognita. Allenfalls im European Song Contest ist hin und wieder eine Gruppe aus Armenien zu hören. Doch das kleine Land im Kaukasus zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer verfügt über eine reiche Musikkultur, die sich durch alle Zeitläufte hindurch behauptet hat. Sie hat auch das durch die Türken verübte Genozid an den Armeniern überlebt, das zwischen 1915 und 1917 rund anderthalb Millionen Opfer forderte, den Rest des Volkes in alle Windrichtungen auseinandertrieb und Armenien vorübergehend von der Landkarte ausradierte.
Die armenische Musik hat eine zweitausendjährige Tradition
Die Geschichte der armenischen Musik kann rund zwei Jahrtausende zurückverfolgt werden und ist eng an die Geschichte der Armenischen Apostolischen Kirche gebunden. Deren Bezeichnung rührt daher, dass der Überlieferung nach die Apostel Bartholomäus und Judas Thaddäus das Christentum im ersten Jahrhundert nach Armenien brachten und dafür den Märtyrertod starben. Seit Beginn des vierten Jahrhunderts ist das Christentum offiziell Staatsreligion. Daran hat sich in der wechselvollen Geschichte des Landes nichts geändert, so dass Armenien heute das Land mit der ältesten christlichen Staatskirche ist.
Die Musik spielt in der armenischen Liturgie eine tragende Rolle. Die Melodik beruht wie in der westlichen Musiktradition auf Tetrachorden (Viertonfolgen) aus Halb- und Ganztönen, wobei aber der vierte Ton eines Tetrachords zugleich der erste des nächsten ist; damit ergibt die Summe zweier Tetrachorde nicht eine Oktave, sondern eine Septime, was Folgen für die Struktur der Musik hat.
Charakteristisch für die geistlichen Gesänge ist die Verbindung von stimmlicher Ausdrucksintensität und Wohllaut. In der noch älteren Volksmusik ist das populärste Instrument das Duduk, ein Doppelrohblattinstrument wie die Oboe, von dem es heißt, es komme mit seiner Ausdrucksfähigkeit der menschlichen Stimme nahe. „Seele und Gefühl“ sprächen aus ihm, sagte der armenische Komponist Aram Chatschaturian, und von Jordi Savall, dem katalanischen Erforscher historischer Musikkulturen, wird der Ausspruch überliefert, das Spiel auf dem Duduk spende geistigen Trost, es sei in der Lage, „alle Wunden und jeden Kummer zu heilen“.
Komitas und der Weg zu den Quellen
Der Mann, der diese orale Musiktradition erstmals systematisch erforschte und auch kompositorisch für sich nutzbar machte, war Komitas Vardapet, Priester, Musikforscher, Komponist und Sänger. Er wurde 1869 im Kütahya im damaligen Osmanischen Reich geboren und gilt als der Begründer der modernen armenischen Musikkultur. Sein Name bezieht sich auf den Hymnendichter Komitas aus dem siebten Jahrhundert, der Beiname Vardapet ist ein geistlicher Titel und heißt soviel wie „Gelehrter“.
Komitas wurde zuerst Priester und kam dann aufgrund seiner musikalischen Interessen mit einem Stipendium nach Berlin, wo er 1899 einen Doktortitel in Musiktheorie und Ästhetik erwarb. Nach seiner Rückkehr nach Armenien begann er mit Volksmusikforschung. Zu diesem Zweck bereiste er – ähnlich wie später Béla Bartók – die ländlichen Regionen und zeichnete rund 3000 der teilweise uralten armenischen Gesänge auf. Mit Veröffentlichungen in Volksliedsammlungen sowie Vortragsreisen und Konzerttourneen in Westeuropa machte er diese musikalischen Schätze erstmals auch über Armenien hinaus bekannt.
Dann kam 1915 der Völkermord an den Armeniern. Komitas, der sich damals in Konstantinopel aufhielt, gehörte zu den Ersten, die verhaftet wurden. Doch er entkam – vermutlich auf Intervention westlicher Fürsprecher – dem Tod und wurde nach Paris gebracht, wo er 1935 psychisch gebrochen starb. Sein sterblichen Überreste wurden 1936 nach Erewan, der Hauptstadt des wieder erstandenen armenischen Staates, gebracht und dort in einem Ehrengrab beigesetzt.
Das Sakralwerk Patarag
Der Patarag ist das Herzstück des armenischen Ritus; er ist vergleichbar dem katholischen Messeordinarium, nur viel länger und in der Form nicht kanonisiert. Die Vertonung durch Komitas ist nicht die einzige, aber nach allgemeiner Auffassung die bedeutendste Neukomposition dieser Liturgie. Er konnte sie in einer ersten Fassung noch beenden, bevor 1915 das Gemetzel an den Armeniern begann.
Die formale Offenheit der Vorlage nutzte er zur Erneuerung der liturgischen Tradition. Er befreite die traditionellen Monodien von allem überflüssigen Zierat und integrierte auch Elemente des archaischen Volksgesangs in seine sakrale Komposition. Vor allem aber erweiterte er die Einstimmigkeit zur Polyphonie. Mit der Besetzung von Tenor (Diakon), Bass (Priester) und vierstimmigem gemischten Chor a cappella, aus dem gelegentlich auch vier Solostimmen hervortreten, schuf er eine Komposition von hohem künstlerischem Eigenwert, ohne die Konzentration auf die religiöse Botschaft je zu beeinträchtigen. Die Einheit von Glaubensfestigkeit und kompositorischer Durchdringung des Stoffs legt bei allen Unterschieden in Musiksprache und kulturellem Kontext einen Vergleich mit Bachs Passionen nahe.
Die musikalische Gestaltung beeindruckt durch Formenvielfalt und stilistische Geschlossenheit nicht weniger als durch ihre Konzentration auf den Textinhalte. Psalmodien, rezitativische Gebete, einstimmige chorische Litaneien und mehrstimmige Chorsätze, deren lineare Stimmführung in eine leuchtende Harmonik eingebettet sind, stehen im Dienst des Wechselgesangs zwischen Vorsängern und Gemeinde. Sologesang der Chorgesang bilden ein lebendiges Mit- und Ineinander, die in ihrer Textur stark unterschiedlichen Einzelnummern fließen zu einer einheitlichen Großform zusammen. Im Chor selbst wechseln sich polyphone und homophone Partien, Sätze mit Diskantmelodik und mit Haltetönen organisch ab. Mit dem begrenzten Tonvorrat von Abschnitten aus der modalen Skala erzeugte Komitas eine schier unerschöpfliche melodische und harmonische Vielfalt. Es sind Gesänge von vollkommener Schönheit.
Intime Verbindung von Wort und Musik
Das liturgische Ritual des geoffenbarten Wortes wird in Komitas‘ Fassung des Patarag auf musikalisch einzigartige Weise überhöht. Ihre Wirkung beruht nicht auf Überwältigung, sondern auf der intimen Verbindung von Wort und Musik sowie auf der Intensität und der Schönheit der klanglichen Erscheinung. Damit vermag das religiös gebundene Werk auch Menschen mit anderem kulturellem Hintergrund unmittelbar anzusprechen. Und es ist wohl nicht zu hoch gegriffen, in den Dialogen, Wechselgesängen und beschwörenden Anrufungen den Ausdruck des Zusammengehörigkeitsgefühls eines Volkes zu sehen, das einst vor der Vernichtung stand und in diesem Werk bis heute einen geistigen Orientierungspunkt findet, an dem es seine Existenz ausrichten kann.
Auszug aus dem Programmheftbeitrag zum Konzert „in tyrannos“ mit Werken von Luigi Nono, Tigran Mansurian, Komitas und traditioneller armenischer Musik, Salzburger Festspiele, 21. Juli 2022.