Was gab es vor zehn Jahren beim Start des Web 2.0 für eine Aufregung, als der internet-Händler Amazon damit begann, bei seinen Angeboten auch gleich die zugehörigen „Rezensionen“ zu veröffentlichen! Es war die Rede von der Verwandlung der Kritik in Reklame, man befürchtete die Entmachtung des professionellen Kritikers durch Amateurschreiber und verkappte Werbetexter. Was man damals ahnte, ist inzwischen eingetroffen.
Die Rezensionen haben sich fest eingebürgert, nicht nur bei Amazon und nicht nur bei Büchern und CDs, sondern auch bei Waschmaschinen, Computern und Gartenartikeln. Unter den „Rezensenten“ gibt es ein kenntnisreiches Für und Wider um die angebotenen Produkte. Und wenn eine Lampe gnadenlos herunter- oder ein CD-Spieler schamlos hochgeschrieben wird, so dass eine deutliche Interessenlage sichtbar wird, erzeugt das schnell eine relativierende Widerrede. So entsteht ein Diskurs, aus dem bei einiger Vorsicht durchaus verlässliche Informationen über die Produkte herauszulesen sind. Kritik als Entscheidungshilfe beim Kauf – eine Textsorte von unerwartetem Nutzen.
Durch diesen Internet-Fortschritt hat sich die Rolle der Kritik ganz allgemein verändert. Sie ist tendenziell kürzer geworden, was nicht nur dem schrumpfenden Umfang der Zeitungen zuzuschreiben ist, sondern auch den durch das Internet geprägten Lesegewohnheiten und –erwartungen. Die Epoche, als Joachim Kaiser seinen Dreispalter über Benedetti Michelangelis Klavierabend schrieb, ist zu Ende. Ebenso überlebt haben sich frischfröhlich dahergesagte Meinungen, das selbstreferentielle Prunken mit angelerntem Wissen und der vor der breiten Öffentlichkeit ausgetragene Fachdiskurs von Insidern. So etwas wird in den Leserkommentaren der Online-Ausgaben, und über diese verfügen heute die meisten Printmedien, eiskalt abgestraft. Die Online-Kriterien schlagen auf die Printausgaben zurück und beschleunigen den Wandel, der den klassischen Journalismus erfasst hat.
Viele beklagen diese Entwicklung. Man kann sie aber auch als positive Herausforderung verstehen: als Ansporn, besser auf die Bedürfnisse der Kritik-Konsumenten einzugehen, sie mit qualifizierten Informationen zu versorgen und mit Meinungen zu konfrontieren, die zum Weiterdenken anregen und beim Lesen Vergnügen bereiten. Kritik als Faktencheck und nicht als flotte Behauptung, der Rezensent als kompetenter Dienstleister für ein wissensdurstiges Publikum und nicht als virtuoser Phrasendrescher oder, noch schlimmer, als einer, der bloß die Verlagsmitteilungen und CD-Booklets wiederkäut.
Beim manchen Kurzrezensionen in Printmedien oder bei CD-Kurzkritiken im sogenannten Kulturradio schimmern solche Quellen oft durch. Der Werbecharakter ist damit viel durchschlagender als bei der Amazon-Rezension, weil sich der Abschreibetext nicht als solcher zu erkennen gibt, sondern im Mäntelchen der eigenen Reflexion daherkommt. Und der Leser oder Hörer kann sich, anders als im Online-Medium, nicht spontan dagegen wehren. Der oft zu hörende Vorwurf an die „Kommerzunternehmen“ im Netz, sie missbrauchten Kritik zur Werbung, klingt deshalb scheinheilig.
Im Netz hätte ein qualifizierter Journalismus gute Chancen. Der Wildwuchs an Blogs, ob gut oder schlecht, ist dafür ein Gradmesser. Aber noch fehlt das Geld, und das Modell der Huffington Post, das Autorenhonorar bloß in Form von öffentlicher Aufmerksamkeit auszuzahlen, kann kein Vorbild sein. Als Standard wird sich wohl der duale Vertriebsweg – Print und Netz – herausbilden, wobei im Netz zunehmend Bezahlschranken eingerichtet werden. Darauf verweisen neueste Untersuchungen im Pressebereich. Die Kulturkritik wird sich in Zukunft auf die neuen Bedingungen einzurichten haben.
Doch das Netz ist unersättlich, und bereits zeichnen sich neue Entwicklungen ab. Der Amazon-Eigentümer Jeff Bezos hat im August für 250 Millionen Dollar die „Washington Post“ gekauft. Der französisch-iranische Ebay-Gründer Pierre Omidyar hat den „Guardian“-Journalisten Glenn Greenwald angeworben, der auf seinem Laptop die Dokumente von Edward Snowden mit sich herumträgt, um mit ihm eine Online-Zeitung zu gründen. Und schon 2012 kaufte der alte Fuchs Warren Buffet, viertreichster Mann der Welt, 63 Zeitungen auf. Er macht aus ihnen bestimmt keine Papierflieger.
Es geht um mehr als um Spielzeuge für umtriebige Milliardäre. Eine Verschmelzung von weltweit agierenden Netzportalen mit althergebrachtem Qualitäts- und knackigem Enthüllungsjournalismus ist zu erwarten. Wer bei Amazon etwas einkauft, erhält demnächst vielleicht ein zehntägiges Netz-Abo für Nachrichten wahlweise aus Politik, Wirtschaft oder Kultur, und wer bei Ebay etwas ersteigert, vielleicht die letzten News aus Snowdens Archiv. Treueprämien für gute Kunden – wer braucht da noch die „Tagesschau“?
Max Nyffeler
Dezember 2013