Loreley oder Wie man wird, was man ist

Loreley, Szenenbild (Foto: Toni Suter / T + T Fotografie)

Alfredo Catalanis „Loreley“ bei den Sankt Galler Festspielen

Die „Loreley“ von Alfredo Catalani ist auf den Opernbühnen nicht gerade häufig anzutreffen. Aber warum eigentlich? Schon während der Aufführung wundert man sich darüber. Der 1890 in Turin uraufgeführte Dreiakter verfügt doch über alle Ingredienzien, die für einen erfolgreichen Opernabend nötig sind: eine spannende Geschichte, süffige Arien, dramatische Höhepunkte. Liegt es daran, dass der 1893 im Alter von nur 39 Jahren verstorbene Alfredo Catalani zwischen den beiden Schwergewichten Verdi und Puccini erdrückt wurde? Oder an der Vermessenheit, einen so eminent deutschen Stoff wie die Loreley aus einer italienischen Perspektive, sozusagen als Exotikum, aufzubereiten?

Am Stück selbst kann es nicht liegen, dass ihm eine so subtile Missachtung widerfährt. Das Libretto von Carlo d’Ormeville und Angelo Zanardini wirft einen hochinteressanten Blick auf die romantische Legendengestalt. Im Zentrum des Geschehens steht nicht, wie die Frau auf dem Felsen die Männer verführt, sondern wie sie zur Verführerin gemacht wird – ihr Weg von der enttäuschten Liebenden zur Rachegöttin. Auch das große Thema des Bürgers im 19. Jahrhunderts, die Angst vor der unkontrollierbaren weiblichen Sexualität, wie sie etwa Wagner in „Tannhäuser“ beispielhaft dargestellt hat, spukt durch die Geschichte. Venus und Elisabeth, das sind hier die erotisch aktive Loreley und Anna, die ehrbare Nichte des Markgrafen Rudolfo; zwischen ihnen schwankt der leicht verführbare Walter hin und her, und in einem flüchtigen Moment meint man auch einige „Tannhäuser“-Anklänge aus dem Orchester zu vernehmen. Die Musik klingt zwar manchmal ein wenig eklektizistisch, ist aber absolut bühnentauglich. In schönster Belcanto-Manier vereinigt sie von der lyrischen Arie über das feurige Liebesduett bis zum prächtigen Chortableau alles in einem fließenden, üppig aufblühenden Klang und ist auch zu großen dramatischen Zuspitzungen fähig.

Modernes Vanitas-Spektakel vor barocker Kulisse

Mit der Open-Air-Aufführung zur Eröffnung der sommerlichen Festspiele setzte das Stadttheater Sankt Gallen mit seinem Operndirektor Peter Heilker einen Programmakzent, der es auch mit der größeren Konkurrenz im benachbarten Bregenz hätte aufnehmen können. Ein vorzügliches Solistenensemble, allen voran Ausrine Stundyte als Loreley,  ein Großaufgebot von Chören aus Sankt Gallen, Winterthur und Prag und das Orchester unter der Leitung von Stefan Blunier sorgten für musikalische Qualität.

Die Inszenierung vor der ehrwürdigen Barockkulisse der Sankt Galler Kathedrale ließ ein modernes Vanitas-Spektakel in glitzernd-modernem Gewand erstehen. Gideon Daveys Bühne mit ihren blinkenden Tingeltangel-Aufbauten, einem Turm von Glücksspielautomaten und einer quer durch die Fläche verlaufenden Geisterbahn-Schiene setzte das zur verdinglichten Maschinerie erstarrte Verführungspotenzial der Loreley in Bilder von metaphorischer Kraft um, deutsche Romantik wurde mit ein paar Tannen und einem Walt-Disney-Schloss ironisch zitiert. David Aldens Regie fächerte das Geschehen in einzelne Handlungsmomente auf, die sich über die riesige Spielfläche gut verteilten. Mythos, Fin-de-siècle-Bilder und heutige Sehweise wurden mit lockerer Hand zur Deckung gebracht. Das „Märchen aus alten Zeiten“, wie Heine die Geschichte um die Sagengestalt der Loreley nannte, erwies sich als zeitlos aktuell. Besser hätte man seine psychologischen Abgründe nicht ausleuchten können.

(Sankt Galler Festspiele, Premiere am 23. Juni 2017)

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