Luigi Nono wurde am 29. Januar 1924 in Venedig geboren. Im Hinblick auf den bevorstehenden 100. Geburtstag wird hier auf der Beckmesser-Seite – soweit ersichtlich zum ersten Mal – die Niederschrift der Tonaufnahme einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion veröffentlicht, die am 2. Februar 1991 in der Berliner Akademie der Künste zum Gedenken an den im Jahr zuvor verstorbenen Komponisten stattfand.
Unter der Leitung von Nele Hertling diskutierten die Komponisten Helmut Lachenmann und Wolfgang Rihm, die Musikwissenschaftler Jürg Stenzl, Nono-Forscher der ersten Stunde, und Klaus Kropfinger sowie Hans Peter Haller, früherer Leiter des Freiburger Experimentalstudios, wo das bahnbrechende Spätwerk Nonos entstand, und sein Nachfolger André Richard; dieser hatte außerdem mit dem Freiburger Solistenchor so ikonische Vokalwerke wie Das atmende Klarsein und Teile des Prometeo einstudiert.
Was diese Diskussionsrunde von ähnlich gelagerten Veranstaltungen unterschied, war die einzigartige Spontaneität der Redebeiträge, Resultat einer tiefen Betroffenheit über den Tod Nonos, mit dem die Mitwirkenden jahrelang in einer freundschaftlichen Beziehung gestanden hatten. Aus dieser persönlichen und zugleich von hohem Sachverstand geprägten Sicht kamen fundamentale Aspekte an Nonos Kompositionspraxis zur Sprache und wurden Werkdetails ans Licht geholt, über die die Rezeption oft hinwegsieht und die dem Normalhörer in der Regel verborgen bleiben. Die Diskussion war eine Sternstunde, der Erkenntnisgewinn enorm. Im inspirierenden Mit- und Gegeneinander der Gedanken spiegelte sich etwas von dem, was auch für Luigi Nono selbst charakteristisch war: das nicht domestizierbare, undogmatische, auf unberechenbare Art frei sich entwickelnde Denken.
Die Diskussion habe ich aus dem Publikum auf Tonband aufgezeichnet. Die Niederschrift hat, was durchaus im Sinne Nonos ist, einen fragmentarischen Charakter – in ihrer Länge ist sie begrenzt durch die Aufnahmekapazität der Tonbandkassette und bricht unvermittelt ab. Der Text versucht den spontanen Gedankenaustausch möglichst original wiederzugeben, redaktionelle Eingriffe halten sich in engen Grenzen. Da praktisch druckreif gesprochen wurde, mussten nur offensichtliche Versprecher korrigiert werden. Kleinere Auslassungen und kurze erklärende Einfügungen sind durch eckige Klammern gekennzeichnet, und um den Text etwas zu gliedern, wurden Zwischentitel eingefügt.
Den Diskutanten habe ich den Text nicht vorab zur Korrektur vorgelegt – eine kleine redaktionelle Unverschämtheit, die sie hoffentlich aufgrund des zeitlichen Abstands von dreiunddreißig Jahren und der Einzigartigkeit dieser Erinnerungen nachsehen werden. Ihr dokumentarischer Wert verdankt sich nicht zuletzt der kreativen Spontaneität der Äußerungen und würde durch nachträgliche „Bereinigungen“ zweifellos gemindert. Gute Gründe also, auf ein freundschaftliches Einverständnis ex post zu hoffen. Wobei Einsprüche natürlich ernst genommen und entsprechende Korrekturen dokumentiert würden.
Max Nyffeler
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Die Ausgangsfrage bei dieser Diskussion über Luigi Nono und sein Werk lautete: Was hat sich an Nonos Musik, am Umgang mit ihr, nach seinem Tod geändert?
Wolfgang Rihm: Ich kann nur für mich sprechen. Er ist nicht mehr ansprechbar, anrufbar. Das war einzigartig, das habe ich vorher nie erlebt. Ich habe ihn oft angerufen, aus nichtigem Anlass, und dann erst beim Gespräch gemerkt, warum ich anrufe, und er war immer Gesprächspartner.
André Richard: Das Problem, dass man ihn nicht mehr fragen kann, betrifft auch die Verantwortung des Interpreten. Was ist sicher, was ist nicht sicher? Wie wird man ihm gerecht? Ist das in seinem Sinne? Es wird schwierig. Ich bringe ein Beispiel: Als das Arditti Quartett das erste Mal in der Bundesrepublik sein Streichquartett spielte, sollte ich Nono mit den Ardittis zusammenbringen. Luigi Nono hat immer nur geschimpft, dass sie die Pausen nicht lang genug nehmen. Ich habe das Arditti gesagt, und er antwortete: „Gut dann werden wir die Fermaten so lang spielen wie er sie noch nie gehört hat.“
Grundsätzlich: Nonos Musik hat Widerstände, und die müssen drinbleiben. Jetzt werden aber die Widerstände einfach weggefegt, die Pausen, die Stillen. Jetzt wird die Musik geglättet, ästhetisiert, ein Hollywood-Sound gemacht. Die Leute müssen dazu gebracht werden, diese Widerstände weiter zu interpretieren. (…)
Hans Peter Haller: Der Übergang war für mich nicht ganz so schwer. Luigi Nono war im Team ein so phantastischer Mensch, dass er uns auf vieles vorbereitet hat. In Wien z.B. ist er einfach vom Regietisch weggelaufen und hat zugehört. Er hat vielleicht mit uns diskutiert, aber wenn ich fragte, wie soll ich das machen, sagte er: Mach es so wie du dir das denkst. Er hat uns eine große Freiheit gelassen, die er sich von Aufführung zu Aufführung selbst genommen hat. Er hat allerdings verlangt, dass wir uns einhören in einen Raum und ein Stück, ein Werk – ich spreche von der Musik der 80er Jahre –, dass wir den Raum vorher kennen lernen und auch versuchen, ihn auszutasten, mit seiner Musik zu erfüllen, weil der Raum gerade in den letzten Jahren für ihn eine große Rolle gespielt hat. Ich würde sagen: Wenn wir heute vor einer Aufführung stehen, so ist es einmal die Partitur, die seine Eintragungen hat, und doch hat er uns sehr viel Freiheit gegeben in der Interpretation. Und wir sind gezwungen, uns endlich einmal selbst mit dieser Musik auseinanderzusetzen und sie aus dieser Auseinandersetzung heraus zu interpretieren. Keinesfalls aber sollten wir versuchen, nun ihn zu imitieren, d.h. diese Eintragungen als absolut anzusehen, die von ihm noch in der Partitur stehen.
André Richard: In den eigenen Reihen der Interpreten, die ihn sehr gut kennen, beginnen [einige] plötzlich die Sachen sehr viel eleganter zu spielen, und er hätte sofort aufgeschrien. Das entfällt jetzt. Jeder müsste diese Disziplin heute aufbringen.
Fragen
Klaus Kropfinger: Die Fragen werden sich jetzt häufen. Man könnte auch fragen, was hat sich nicht geändert, was sollte sich ändern? Sollte man nicht Bedingungen für die Aufführung schaffen, die im idealen Sinne für ihn selten bestanden haben? Es geht um die Frage nach der Zukunftsperspektive.
Helmut Lachenmann: Ich habe 2 Jahre bei Luigi Nono studiert, nach Varianti und Cori di Didone, und zu meiner Zeit ist ein Stück entstanden, Diario Polacco Nr. 1. Damals hat man bei uns gesagt: Nono hat sich im Material festgefressen, es geht nicht mehr weiter. Man hat nicht gefragt: Wo hat er sich festgefressen? Einer hat ihn damals einen Pfitzner der Avantgarde genannt […] Zu „Man kann Nono nicht mehr fragen“: Nachdem ich etwa einen Monat bei Nono studiert hatte, konnte ich ihn schon nicht mehr fragen. Da hieß es sofort: Du musst dich selbst fragen! Und du musst dich so ändern, und du musst dich mit der Wirklichkeit um und in dir so wachsam beschäftigen, dass die Fragen kommen und dass nicht die Antworten, aber deine Reaktionen aus dir kommen. Solche Antworten hätte er auch heute immer wieder gegeben. Ich habe ihn auch immer wieder gefragt, und die Antworten waren: Du weißt das ganz genau, aber du passt nicht auf dich selber auf!
Noch eine andere Sache, wegen André Richard, das kenne ich auch von Nono selbst.
Das war so: Die LaSalles haben das gespielt und Nono war ganz glücklich darüber und hat den Ardittis misstraut. Und nachher sagte er, als er das gehört hatte in Freiburg: Schau mal, die LaSalles, die haben die Fermate gesehen und haben den Ton bis zum Ersterben schön ausgehalten. Irgendwann war dann halt der Bogen zu Ende. Und die Ardittis, die haben ausgerechnet: 21 Sekunden, und der Bogen hat 85 Zentimeter. Also: Pro Sekunde ca. 4 Zentimeter. Damit geriet der Ton in eine Wackeligkeit, er wurde „brüchig“ – ja so klingt’s besser (Lachenmann lacht) – er wurde „brüchig“, man hörte eine ganze Menge in diesem bewusst gewordenen Steinbruch eines einzelnen Tones. Und das sagte dann Nono:
„Schau mal, eigentlich haben die [LaSalles] das sehr gut gespielt. Aber eigentlich haben die Webern gespielt. Und die Ardittis haben mir mein Stück erst einmal gezeigt.“
Was ich damit sagen möchte ist, dass in der Musik nicht einfach ein Komponist etwas strukturiert hat – ich glaube, man könnte es auch nicht „elegant“ spielen – sondern [dass er] durch die Art, wie er es strukturiert hat, überhaupt erst Wahrnehmungen, nicht in einem andächtigen Sinn, sondern in einem aktiven Sinn, möglich gemacht hat. Dinge hörbar gemacht hat, die anders nicht hörbar waren, und das oft selber gar nicht bewusst gemacht hat. Das gibt der Musik von Nono, vor allem für die, die so ein Ideal von Fortschrittstechnik haben, auch einen Aspekt von Kunstlosigkeit. Ich habe mir nie vorstellen können, dass ich bei ihm ein Metier studieren könnte, dass er mir ein Metier vermitteln könnte. Er war in diesem Sinne nie ein „Meister“, der sozusagen eine Sprache immer mehr verfeinert, sondern er war einer, der nach Grönland oder Sibirien oder Berlin geht, um sich selber immer wieder ganz neu zu entdecken. Mit allen dabei verbundenen Krisen, Ängsten und allen Dingen, die sehr real sind. Die hören wir möglicherweise in so einem einzigen brüchigen Ton wieder. An der Stelle meine ich, wir brauchen vielleicht noch den Gigi, und wir brauchen ihn nicht mehr. Diese Bereitschaft, in ein uns selbst unbekanntes Gelände vorzudringen, muss ich praktizieren.
Wolfgang Rihm: Eine Fußnote zum Fragen: Ich habe nie jemanden erlebt, der selber so viel gefragt hat. Wenn man mit ihm zusammen war, ist man ja ständig gefragt worden. Als ich das erste Mal mit ihm zusammen war, das hat mich total umgehauen. Mich hat noch nie jemand vorher so ernst genommen. Soviel grad über das, was ich tue. Es war immer dialogisch.
Der ganze Nono
Jürg Stenzl: Ich erzähle auch mal eine Anekdote. Kurz nach der Uraufführung von Prometeo fragte er: „Kannst du mal vorbeikommen?“ Da begann er mich über meinen Eindruck von Prometeo auszufragen. Er wollte nicht wissen, was ich gut fand, sondern was ich nicht gut fand. Da sitzt man dann da… Aber die Tatsache, dass Nono nicht mehr da ist: Wenn man die Nachrufe durchgeht, fällt eines auf: Für die meisten ist Nono der Komponist, der 1981 mit dem Streichquartett anfängt und 1989 aufhört. Dann wird vielleicht noch Fabbrica illuminata erwähnt und Al gran sole carico d‘amore. Aber es scheint, dass der Komponist der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre weitgehend ausgeblendet wird. Vergessen wir nicht, dass immerhin in den 60er Jahren die Fabbrica entstand, Paradigma einer politisch engagierten Musik. Davon, wie von A floresta é jovem e cheia de vida, war kaum mehr die Rede. Wenn Werke der 50er Jahre, dann die mit kleiner Besetzung, wie Polifonica – Monodia – Ritmica. Aber wer kennt die Prima Composizione [Composizione per orchestra no.1], wer kennt Diario Nr. 1?
Wir müssen über den ganzen Nono reden! Dann zeigen sich die entscheidenden Fragen. Was mir aufgefallen ist: Wie viel des sogenannt späten Nono in einem Werk wie dem Lorca Epitaph drin ist, wie Mehrchörigkeit hier schon realisiert ist. Das Prinzip der „cori spezzati“ ist 1952 in Y su sangre ya viene cantando schon da. Die Art und Weise von differenzierten Spieltechniken für die Streichinstrumente ist da. Und als das Streichquartett kam, hatte man erst den Eindruck: Ach, jetzt beginnt er für Streicher zu komponieren wie sein Schüler Lachenmann! Man hat damals schon vergessen, dass es einen früheren Nono gibt, von dem man offenbar heute genau so wenig wissen will. Zum Beispiel die Tonträgerindustrie. Also meine ich, diese Werke der 50er, auch die großen „engagierten Freskos“, Ein Gespenst geht um in der Welt usw.: Das ist das Nadelöhr, durch das Nono hindurch muss. Diejenigen, die ihn nun als Mystiker oder so auf der Basis der Werke der achtziger Jahre feiern wollen, haben von Mystik wohl genau so wenig Ahnung wie von dem, was in dieser Musik sich wirklich abspielt.
Klangvokabular
Helmut Lachenmann: Ich habe zuerst von Nono den Canto sospeso kennen gelernt, und ich war davon sehr berührt. Das war eine Tonbandaufnahme, die uns Stockhausen vorgeführt hat. Aber damals war Nono auch in Darmstadt, und ich habe ihn kennengelernt und mit 21 Jahren ihm gesagt, dass mich das berührt hat.
Das war vielleicht auch der „politische“ Teil der Sache. Vorsicht gegen Begriffe! Es war gleichzeitig eine Musik, die eben unglaublich mich als Hörenden herausgefordert hat. Es hat auch mit Wahrnehmung zu tun. Auch damit, dass diese Musik für mich eigentlich keine Musik war. Die Töne sind nicht in den Kategorien weitergegangen, in denen sie selbst bei Boulez und Stockhausen weitergingen, die noch Figuration enthielten, die Dinge enthielten, dass man noch in irgendeiner Weise die Musik nachvollziehen konnte. […] Und noch etwas: Egal, ob das Texte von ermordeten Feinden des NS-Regimes waren: Diese Musik hat noch – noch! – Eigenschaften enthalten, die scheinbar in der Umgebung total als erledigt, überflüssig weggeätzt worden waren. Nämlich die hatte so etwas wie Größe, die hatte eine Art von Ausdruck, von Visionärem in einem verklärenden Sinn, etwas fast Religiöses, etwas von Gewalt. Und ich konnte bei ihm die Dinge noch zuordnen, fast wie ich es bei Beethoven noch könnte. Da werden Fanfaren geschmettert – nur, die waren gleichzeitig zerbrochen. Die waren zerstört, gleichzeitig. Dieses ganze Vokabular, was nach dem 2. Weltkrieg ein missbrauchtes, als sinfonisch und dann auch vielleicht kollektiv, magisch, unterdrückend missbrauchtes Vokabular war, das wurde bei ihm nicht einfach in die Rumpelkammer gestellt, und dafür gab es irgendwelche faszinierenden, im Grunde exotischen Abenteuer mit Klängen und Dingen für die Sinneswahrnehmung. Sondern diese Begriffe, die vielleicht älter waren als ihr bürgerlicher Gebrauch, die auch vielleicht archaische Elemente hatten, vielleicht Archetypen waren: Die waren noch da, die waren in ihrer Form, die wir gewohnt waren, zerstört und sie waren gleichzeitig gerettet. Da gab es also ein Pathos, welches den Hörer an seine Möglichkeit, sich ganz anders als Hörer einzustellen, erinnert hat. Und diese Zumutung, dieses Zutrauen an den Hörer, unter der Vorgabe solcher emphatischer Begriffe wie Trauer, Anklage, Schrei etc. anders zu hören, das war im Grunde für mich vielleicht der wichtigste Teil dieses – jetzt hätte ich fast „Anliegen“ gesagt – Aspekts der Musik. Und ich glaube, dass diese Erwartung, dieses Zutrauen eines Zuhörers, dass dieses vermutlich der entscheidende Teil war. Denn Nono als einer, der besessen war von all dem, was ihn getrieben hat, hat sich auch politisch immer wieder ins Unrecht gesetzt. Er wurde auch immer wieder verunsichert. […] Jedenfalls: Der politische Luigi Nono ist nicht trennbar, jedenfalls für mich, vom Visionär Luigi Nono, und ich sag es jetzt auch einmal ein bisschen technisch: vom Strukturalisten. Wer das eine ignoriert, der kommt dann in Gefahr, das zu machen wie das, was wir neulich in Berlin hatten, wo dann eben ein Begriffspaar wie Henze und Nono entstanden ist. Was völlig inkompatibel ist.
Jürg Stenzl: Der Begriff des Rhetorischen scheint mir zentral zu sein. Structures I von Boulez: Wie man das hören soll, stand allemal nicht fest. Die Diskussion um die serielle Musik war eine Verteidigungsdiskussion. Nono hat im Schulbuchsinn seriell zweieinhalb Jahre komponiert. Nämlich vom zweiten Teil der Canti per tredici via Incontri und Canto sospeso. Und schon im Schlusssatz ist es nicht mehr seriell. Dann kommen die Varianti noch…
Wolfgang Rihm: Es ging nie nach Schulbuch.
Rezeptionsprobleme
Jürg Stenzl: Drum ist das Lieblingsstück der Musikologen Incontri. Da kann man Tabellen machen, wie man es bei Ligeti gelernt hat (bei Structures I). Ein Werk wie das Lorca-Epitaph kann man mit denselben Ohren hören wie Ode to Napoleon oder Survivor of Warsaw. Mit diesen Ohren kann man Structures nicht hören.
Es gibt also ein Moment, das, wenn es Ihnen Freude macht, Sie durchaus als konservativ bezeichnen können, nämlich das Festhalten an der Sprachfähigkeit von Musik. Dieses Moment der Sprachfähigkeit von Musik müsste man über Intolleranza hinaus durch die sechziger Jahre hindurch bis zu einem Werk wie Al gran sole carico d‘amore weiterführen. Und dann vor allem auch in Werken wie dem Prometeo und Guai ai gelidi mostri. Ich würde es hypothetisch so sagen: Diesen rhetorischen Ansatz gibt es auch noch im Spätwerk. Nur: er wird anders realisiert, weil Zeit sich verändert hat, weil das, was zu sagen war für Nono, sich verändert hat, weil das Hören sich verändert hat, weil die Stellung, die neue Musik in der Gesellschaft hat, sich verändert hat. Und damit ist ein anderes Moment angesprochen: Die Nono-Rezeption ist weitgehend eine deutsche Rezeption. Er ist in Italien lange wenig oder nicht gespielt worden. Die erste italienische Uraufführung ist 1961 Intolleranza. Und dann hat es wieder relativ lange gedauert. A floresta ist glaube ich das nächste Werk. Nono ist in den 50er Jahren fast ausschließlich in Deutschland rezipiert worden, kaum je in Frankreich, bis der Prometeo dann in Paris kam. Er ist ganz wenig in England rezipiert worden und er war von 1965 an bis heute in den USA völlig boykottiert. Nach der Bostoner Aufführung von Intolleranza war es aus mit Nono in Amerika. Schauen sie sich mal die Perspectives of New Music an, wer von den europäischen Komponisten dort auch nur Erwähnung findet. Sie werden lange suchen müssen, bis der Name Luigi Nono überhaupt mal fällt. Worin lag denn das Skandalon Nono für so viele, und gerade für die University Composers in den USA? Doch wesentlich gerade darin, dass hier ein Komponist seinen Stellungsbezug auf Gegenwart hin musikalisch realisierte, und ein spezifisch deutsches – das nachher ein weltweit gewordenes ist – Verständnis von musikalischer Autonomie in dieser Art nicht akzeptierte. Man kann das sehr schön an den Besprechungen der Wiener Erstaufführung von Canto sospeso nachlesen. Da steht: Soll man diese Texte denn in den Konzertsaal bringen (was auch Stockhausen sagte)? Darf man das überhaupt? Geht das nicht zu weit? Und der Kritiker gibt gleichzeitig die Antwort: Es geht zu weit, das tut man nicht. Es scheint mir entscheidend zu sein, und war von Variazioni canoniche bis zum letzten Werk für zwei Violinen: Nono ging nicht immer nur weit, er ging zu weit. Und dort, um auf die erste Frage zurückzukommen: Dort ist die Frage an uns alle gestellt: Wie hast Du’s mit dem radikalen Ansatz Nonos? Du als Komponist, als Interpret, als Musikhistoriker? Dort scheint mir die Lackmusprobe zu sein. Wie ist dieser Ansatz in die Zukunft weiter zu treiben? Das ist die Aufgabe, die, wenigstens für mich, das Werk Nonos stellt. Und dass die Werke, wenn er nicht mehr da ist, ihre eigenen Wege und Irrwege gehen, das Ästhetisierende, das André Richard erwähnt hat: Das ist das Los eines jeden Komponisten. Alle Versuche, auktoriale Aufführungspraxis zu installieren, denken Sie an Strawinsky, der sagte: Ich mache meine Werke auf Schallplatte, und so sollen sie dann gespielt werden; Hindemith hat das gemacht, Stockhausen und andere: alle diese Versuche sind gescheitert. Die Werke müssen jetzt ihren Weg gehen. Schauen Sie sich die Beethoven- oder Monteverdi-Rezeption an: sie sind immer wieder Verfälschungen [ausgesetzt], bis dann plötzlich einer kommt, der dann eben genau liest.
Wolfgang Rihm: Das Problem bei der Radikalität ist dann allerdings, dass sie nicht reklamierbar ist. Man kann nicht sagen: Die Nonosche Radikalität wird jetzt zur Tonsatz-Vorschrift. Dann fällt man ihm in den Rücken. Dann wird er zum Klassiker. Eine deutsche Krankheit. Mit Cage wird es ja genauso gemacht. Er wird als Tonsatzregel eingeführt. Vorsicht – es ist jeweils die Radikalität dessen, der sie hervorbringt! Es sind diese Wurzeln, an die er geht. Möglicherweise seine. Jetzt davon abzuziehen, es sei dort und dort und dort so zu verfahren, das geht nicht. Als einziges Beispiel kann ich mir nur vorstellen, dass man sich von dieser Subjektivität, die er ja auch ausgestrahlt hat, nicht einschüchtern lässt in der eigenen Subjektivität. Ich habe nie einen subjektiven Künstler kennengelernt, der auch in keiner Weise sich gerechtfertigt hat. Das gab’s ja nicht.
Jürg Stenzl: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den du ansprichst. Man kann sich da keine Rezepte holen wie bei John Cage.
Wolfgang Rihm: Es gibt Kochbücher von Cage.
Klaus Kropfinger: Die Frage der Radikalität stellt sich lebenslang bei Luigi Nono. Non consumiamo Marx: Der zweite Teil wurde in der Rezeption betont, der erste ging unter. […] Die utopische Perspektive hat sich verlagert. Sie war ursprünglich viel direkter mit der unmittelbaren Aktion verbunden und hat sich jetzt offenbar mehr auf eine Fernerwartung differenziert. Das scheint mir ein Moment zu sein, das gerade im Zusammenhang mit Prometeo ziemlich offensichtlich zu sein scheint.
Notation
Jürg Stenzl: Entscheidender Punkt: Die Dramaturgie seiner Kompositionen. Eine Kontrastdramaturgie, die wir schon ziemlich früh, so ca. ab 1952, feststellen können, und deren Transformation über die Jahrzehnte wir mal hörend studieren sollten. Aber eben, da muss man in die Noten hineingehen. Und da müsste man dann mal das Verhältnis zwischen der Differenziertheit der Musik und der oft relativen Undifferenziertheit seiner verbalen Äußerungen zur Diskussion stellen… Boulez oder Wolfgang Rihm haben verbal und musikalisch Differenziertheit. Das gibt es bei Nono nicht.
Wolfgang Rihm: Eine andere Differenziertheit! Sie entsteht dann, wenn jemand nicht die Mittel einsetzt, sondern selbst aus den Mitteln spricht. Wenn das Naturell sich nicht erst mal am Kleiderbügel abhängt und dann in eine fast klassizistische Artikulationsform gerät, sondern wenn es sich selber mitteilt. Das finde ich ganz wichtig, was Jürg Stenzl sagt, dass da ein Gefälle stattfindet. Aber gerade dieses Gefälle führt uns ja in die Differenziertheit erst hinein. Das ist es doch gerade. Wäre da ein wohlüberlegtes Herumsäuseln um technische Aspekte, dann käme man womöglich noch auf den Gedanken, in der Musik sei dem auch so. Nun ist es auch in der Musik nicht so. Und ich glaube, ein Schlüssel für Nono ist vielleicht seine eigene Planlosigkeit und Begeisterungsfähigkeit viel mehr als dieser Eindruck, den wir vielleicht jetzt auch erwecken, als wäre da Stein auf Stein gebaut ein Oeuvre errichtet, von Folgerichtigkeiten auf Folgerichtigkeiten schließbar. Das ist nicht so. Das hat Teil am Leben, und gerade deshalb ist es inkommensurabel. Und das bleibt es auch.
Jürg Stenzl: Man muss in die Noten gehen und nicht immer Nonos eigene Worte paraphrasieren.
Wolfgang Rihm: Auch wenn man in die Noten geht, so ist dort oft das Missverständnis vorprogrammiert. Die Notation ist durchaus nicht die Sache selbst, wie es bei vielen anderen Komponisten der Fall ist. Es ist eine Mitteilung von Wegen, die vielleicht, eventuell, wenn man sie geht, dann doch nicht hinführen, und es ist doch nichts Improvisatorisches. Das ist eine ganz eigenartige Zwischenstellung.
Helmut Lachenmann: Ich finde die Partituren von Nono oft mindestens so fragmentarisch wie seine Texte. Das Tolle ist, dass die Sprache dabei einen bestimmten Ort zugewiesen bekommt, mit einer Menge von Implikationen, die dann funktionieren. Nono hat sich niemals diesem diskursiven Spiel anvertraut, etwas zu erklären. Sondern er hat ein Wort, was irgendwie reif war, in die Gegend gesetzt, und meistens haben die viel schneller funktioniert, auch im Gespräch. Das ist eine Frage der Geschicklichkeit. Ich habe auch einmal einen Nono-Text formuliert, aber so wie er es in einem Fragment gesagt hat, hätte ich es nie sagen können.
André Richard: Zum Fragmentarischen: Das Notenbild ist nicht wie Boulez oder Debussy, alles erkennbar. Ich verstehe das vielmehr als eigentliche Modelle, in denen ein Interpretationsfreiraum offen ist. Das ist ein heikler Punkt. Wir haben von Tonsatz gesprochen, er sei mit seiner Person sehr imposant gewesen, und man dürfte nicht der Versuchung erliegen, es nur so zu machen wie er es wollte. Zum Stichwort Subjektivität: Luigi Nono hat nie viel gesagt, aber dann waren es einfach absolute Hämmer, und er hat z.B. gesagt, was mich betrifft:
Höre deine Musik, versuche zu verstehen, was du hörst, und versuche das was du hörst umzusetzen.
Und Hans Peter [Haller] hat von diesen Modellen gesprochen, deshalb bin ich überzeugt, dass dieses Notenbild eigentlich Modelle sind, wo jeder innerhalb dieser Modelle seinen eigenen Weg gehen sollte, es versuchen sollte, aber trotzdem die Kraft haben […]
[Ende Tonbandkassette Seite A]
Zusammenarbeit im Studio
[Beginn Tonbandkassette Seite B]
Hans Peter Haller: Ein Spielraum wird angegeben, es ist angegeben, was er sich klanglich vorstellt: Klangselektion, mit hohen, mit tiefen Filtern, oder Raumklang-Bewegung, schnell/langsam. Er gibt also Angaben, aber er gibt niemals Angaben, wie viel Lautsprecher er möchte. Das überlässt er vollkommen der Interpretation. Selbst der Interpret hat ja dann nur noch einzelne Töne, die fixiert sind, ansonsten einen Tonraum. Ich möchte anfügen: Das Phantastische war in der Zusammenarbeit, die fast zehn Jahre dauerte, dass er ein Mensch war, der sich nie gescheut hat, etwas zu lernen und immer wieder versuchte, Neues zu lernen. Über seine Arbeit im Experimentalstudio, wo er anlässlich einer Kuratoriumssitzung der Heinrich-Strobel-Stiftung Bericht erstattete, sagte er u.a.:
„Außerdem war die Zusammenarbeit ganz wichtig. Dies war für mich ein neues Lernen zusammen mit den Mitarbeitern des Experimentalstudios. Das heißt eine Art der Teamarbeit. Wir haben diskutiert, es wurde etwas gezeigt, es wurde etwas verlangt, bei manchem war man nicht einer Meinung, aber das gehört auch zur Praxis und zur Forschung.“
Und immer wieder hat er die Analyse in den Vordergrund gestellt. Er hatte Instrumente, die er wirklich kannte – eine Flöte, eine Klarinette; er hatte sie schon oft in seinen Kompositionen eingesetzt, und trotzdem war er erstaunt, als er plötzlich dank der modernen Analysegeräte diese Instrumente, während er sie hörte, gleichzeitig aufgespalten in der Analyse sah. Und das gab ihm dann auch wieder die Möglichkeit, den Klang nicht nur vom Instrumentalisten her zu geben, sondern auch seine Teilbereiche hörbar zu machen, ihn sozusagen aufzuspalten. Das war natürlich für ihn eine neue Welt. Es wurde vorhin von Fragen gesprochen. Ich habe sehr viele Briefe von ihm bekommen, und es waren immer Fragen. Das Ende eines Briefes hieß:
„Dieses ewige Fragen – Dank herzlich – Du verstehst.“
Es hat sich nie damit abgefunden mit den Effekten. Er hat sie sich angehört. Wenn eine neue Klanggestalt für ihn akzeptabel war, dann hat er nachgeforscht: Wie entsteht sie? Wie hast du gespielt mit deinen Lippen am Mikrofon, wie hast du den Klang gestaltet, wie hast du ihn moduliert, was hast du mit Mikrointervallen gemacht? Dann ist er ins Tiefste hineingegangen und hat das auch notiert. Natürlich gab es dann Schwierigkeiten, weil innerhalb der Komposition wurden bestimmte Grenzen überschritten. Und auch hier war Nono ein Mensch, der, immer wenn er gesagt bekommen hat: „Wir sind an einer physikalischen Grenze des Hörens“, sofort gesagt hat:
„Gut, wie kann ich es anders machen? Ich muss es versuchen!“
(Ich spreche jetzt als praktischer Musiker. […] Es gibt auch von den Instrumenten her, von der Technik, den Geräten, gewisse Grenzen, und hier hat Nono von vorneherein gesagt:
„Ich muss das, was ich von den Möglichkeiten her habe, im Maximum ausschöpfen, erforschen, und dann übertragen in meine Komposition. Aber immer innerhalb der Grenzen, die mir gezeigt werden und die auch die Physik selbst gibt.“
Das war für uns in der Zusammenarbeit das Faszinierende: Einmal die Frage, dann das Lernen, das gegenseitige Austauschen, nicht: „Ich komme in ein Studio, ich mach das“ usw. Sondern man hat richtig gespürt, wie in ihm Klanggestalten entstanden sind. Er hat mal einen Termin von 9-12 gehabt; wenn er etwas hörte und er hat etwas gefunden, dann ist er um halb zehn nach Hause gegangen und fing an zu komponieren. Wir hatten andere Besucher und Komponisten im Studio, die meinen dann: „Halt mal an, das muss ich mir kurz notieren, aber ich habe drei Stunden, und die drei Stunden muss ich absitzen.“
Er war also hier radikal: Er ließ uns stehen, er ging fort ohne ein Wort zu sagen, und er kam dann plötzlich zu einem andern Zeitpunkt und hatte das von einer halben Stunde schon verarbeitet.
Dilettantismus oder Eigensinn?
Helmut Lachenmann: Ich mache mich nicht verdächtig, wenn ich das nur sage: Ich habe Freunde, mit denen ich mich streite, und die sagen: Nono war im Grunde genommen ein Dilettant. Nono selber hat mit erzählt von seinem Konflikt mit dem Lehrer Scherchen, der seinen Canto sospeso kürzen wollte, weil er es zum Teil, wie er sagte, „antiökonomisch“ fand, was da passierte. Ein Trompeter für 2 Töne. Oder in Canti di vita: eine vierte Bratsche, völlig überflüssig. Bei Komponisten, bei denen es ein Ethos des Metiers gibt, ist das eigentlich unmöglich, unverzeihlich. Es gibt einen Komponistenfreund, einen Dirigenten, der den Prometeo aus diesem Grund kritisiert, „teure Apparatur, Möglichkeiten werden nicht genutzt.“ Cliché-Vorwurf: Dilettant. Nun glaube ich, dass jeder Komponist, der sich irgendwo in ein Land hineinwagt, wo er alleine ist, ein Dilettant ist. Ich glaube, jeder Komponist hat so eine Zone, wo er sich zumindest subjektiv wie ein Dilettant fühlt, sich nicht auskennt. […] Bei Nono ist es so, dass er seine Musik nicht ansiedelt auf einem Gebiet, was schon so etwas wie ein Metier hat. Das funktioniert zunächst mal nicht. Ich komme nochmals zurück. Es ist eigentlich eine Situation, wo er die Instrumente, die Geräte oder den Konzertsaal oder die Menschen einsetzt und mit ihnen etwas macht, sie möglicherweise sogar unterfordert. Ich habe mit Musikern des Ensemble Modern gesprochen, die in größter Verehrung für die Musik und für Luigi Nono selber gesagt haben: „Ja, ich mache das, ich sitze die ganze Zeit da, habe nichts zu tun und habe einen Ton unendlich lang auszuhalten, ich kann überhaupt nicht wirklich als Musiker mich drin zeigen.“ Und ich sage: Ja, jetzt müsst ihr Musiker werden! In dem Moment ist eben das Musikersein nicht das Abliefern der Dienstleistungen seines gelernten Könnens, sondern des Gestaltens einer Musik um deren Botschaft willen, die auch einen Verzicht auf das erworbene Metier sein können muss. Es ist das Problem des nackten Polizisten: Kann er dann noch Staatsautorität ausstrahlen, ohne Uniform? Das ist die Rolle möglicherweise eines Musikers, der jetzt in einem Bereich – Tongebung – überhaupt das Verhalten eines Musikers praktizieren muss, wo er weithin lahmgelegt ist. […] Sich in einem Bereich als Musiker zu verhalten, d.h. in diesen Bereich den Begriff Musik hereinzunehmen und ihn einzubeziehen, wo solche Begriffe sehr schnell bei der Hand sind wie „Dilettant“, „antiökonomisch“: Ich finde das ist eine ganz wichtige Herausforderung in der Musik Nonos. Vielleicht mehr als bei Komponisten wie John Cage, wo der Aspekt von Antimusik drin ist, der sich in gewissem Sinn schon wieder verstehen lässt. Bei Nono geht es immer noch um die emphatischen Begriffe einer großen Musik, genau in diesem Moment, und ich finde das ist etwas, das man sich bewusst machen sollte beim Hören, beim Spielen und auch beim Reden.
Hans Peter Haller: Er kam eines Morgens bei uns im Studio an mit Schallplatten von Sängern, Opernarien. Er sagte:
„Hör dir das jetzt einmal an: Sie singen Mozart wie Verdi, immer die Koloratur, die Stimme, der Star steht im Vordergrund.“
Das hasste er gewaltig. Er forderte vom Interpreten, dass er sich auf seine Musik einlässt. Bei Prometeo: Er wollte nicht, dass Musiker rausgehen, wenn sie nichts zu tun haben. Sie sollten auch das andere hören. […]
Zeitbezogenheit
Jürg Stenzl: Wichtiger Aspekt: Nono ist ein Komponist gewesen, der ein Werk in einem ganz bestimmten Kontext komponiert und zur Aufführung gebracht hat, und nachher hat er sich eigentlich um seine Stücke wenig oder gar nicht mehr gekümmert. A floresta, 1966 uraufgeführt, sollte 1976 in Mailand wieder gemacht werden. Da gibt es eine Klarinettenstimme, und da begann eine wilde Suche nach dieser Klarinettenstimme. Man fand sie nicht, auch Nono [hatte sie] nicht. Also was machen? Da hat er sich hingesetzt und diese Klarinettenstimme rekonstruiert. Da hat er mir das erzählt, und da sagte ich: Habt ihr denn den William Smith [den Klarinettisten] mal gefragt? Die ist ja vielleicht bei dem zu Hause. Dort war sie dann auch. Aber das Stück ist 65 komponiert worden und dann ging das weg und dann schrieb er ein neues Stück. Weil sich die Zeit verändert hatte und weil es an einem andern Ort sein sollte, und dann war das Material nicht vollständig. Und da hat er ein neues Stück gemacht. Also dieses Moment, dass man nun also sukzessive sozusagen seine Opera omnia aufbaut, das war ihm völlig fremd. Als die Canti per tredici in Stuttgart wieder aufgeführt wurden, ein Werk, das wenig aufgeführt wird, da sagte er: Das ist doch eigentlich ein interessantes Stück. Man sah es ihm geradezu an: Das Stück war 20 Jahre weg gewesen und er sah auch keinen Grund, sich um dieses Stück zu kümmern oder es irgendwelchen Interpreten zu empfehlen.
André Richard: Das war seinem Denken fremd, und ich glaube, wenn man ihm nicht so Druck gemacht hätte von Seiten der Verleger, hätte er sich noch viel weniger gekümmert darum. Man hat auch versucht, ihn in diese Richtung ein bisschen zu kanalisieren, dass er doch „brauchbare“ Stücke schreibe, die sich auch versenden lassen – ich sag es jetzt etwas salopp – also er war wirklich einfach ein Geist, der immer Neues suchen musste. Dass er sich über das, was er geschrieben hatte, wenn das einmal hinter ihm war, und das, was ihn dazu bewegt hatte – überhaupt dieser Motor zum Kreativen – wenn das vorbei war, dann kam sofort das Nächste. Und deshalb hatte er auch die größten Schwierigkeiten, wenn man ihn fragte: Wie muss man das interpretieren, was hast du dir dabei gedacht? Zum Beispiel Diario polacco Nr. 2, da habe ich ihm kurz vor dem Tod noch einige Fragen gestellt. Es waren Fragen, die waren ihm so weit entfernt. Die Frage bei Prometeo mit den Musikern, die wenig zu tun haben, dieser Pragmatismus war ihm total fremd, also: Wie komme ich mit den wenigsten Mitteln am besten ans Ziel. […] Ja, es gibt viele Leute, die ihn als Dilettanten bezeichnen, auch was die Instrumentation angeht, dass das nicht professionell gemacht ist. Aber man könnte ja sagen, dass das Professionelle, das Metier, gerade dort liegt, indem er die Sachen aufbrach und das Neue suchte und diesem Pragmatismus total entsagte, auch der Schule entsagte, den Akademismen.
Metier
Helmut Lachenmann: Ich rede nochmals von Canti di vita e di amore: Es gibt eine Schallplatte mit einem schauderhaften Tenor, und eine Produktion bei BR. […] Leuchtende Frauenstimme im Mittelteil, Gewalttätigkeiten im ersten Teil der totalen Chromatik (nicht nur 12 sondern 24 Töne), und im 2. Teil läuten die Glocken etc. – man kann das Ganze so darstellen, dann scheint es zu funktionieren. Bestimmte Leute, die eben dann die sinfonische Größe spüren, die sind dann ganz glücklich und versinken voll Genuss im Sessel im Orchester oder im Saal. Aber diese Musik ist tatsächlich nie richtig gespielt worden, nach meiner Meinung. Da gibt es Stellen im dritten Teil, da wird gekoppelt ein col-legno-Schlag, Tremolo, ein Beckenschlag, auch wieder als brüchige Form der Tongebung. Und das kann man nie hören. Man macht das ziemlich unscharf. Man braucht ja viel Zeit, Orchestermusiker dann auch auf diese Präzision aufmerksam zu machen, die da verlangt wird. Und im übrigen kommen ja bald wieder die Glocken, kommen die Tamtams, all die Sachen, die wieder was hermachen. Und damit ist diese ganze Feinheit schon in diesen Stücken [weg], zumal es eher um plakative Dinge zu gehen scheint. Ohne dass man das einmal genau spielen würde. Oder Canto sospeso, dieses eine Stück mit den, glaube ich, zwei Paukenpaaren: Wie kann der eine Mensch zwei Paukenpaare da donnern lassen, und da spielen da so kümmerliche Fagotte und in einer völlig ungünstigen Lage müssen Soprane im es‘ im Fortissimo singen, was überhaupt nicht über die Rampe kommt. Na gut, das machen wir eben so allgemein laut, und bemüht und so, und übrigens ist es wieder ein Text, wo Leute umgebracht werden – das ist alles auf der Ebene sehr rasch realisierbar, und wir sind alle ganz moralisch dabei und so weiter. Aber mal wirklich hören, was da passiert! Ich erinnere mich an die Zeit in Venedig, da ging es Gigi noch nicht so gut. Es wurde wenig von ihm gespielt, vor allem nicht in Italien, und er hat im Grunde keine Musik gehört von sich. Das letzte war Cori di Didone in Köln, dann war Stille. Er hat für den Schreibtisch gearbeitet, nicht wie später. Er hat auch übernotiert, z.B. Varianti – völlig unreale Dinge. Mit den Dingen müsste man von der Präzision her nochmals genauso differenzierend umgehen wie heute mit den späteres Partituren. Da wäre spürbar, dass da eine ganze Menge vorhanden ist, und dass der scheinbare Dilettant mit der Nicht-Abgebrühtheit eine Menge von Erfahrungen aufgerissen hat, auf die andere, eben schon eingeschüchtert durch die Schwierigkeiten des so genannten Metiers, vielleicht gar nicht kommen.
Wolfgang Rihm: Zur Metierfrage: Wo ist denn dann das Metier? Bei Nono habe ich nie den Eindruck, dass die sogenannte Metierlosigkeit das Metier, wo vorhanden, denunzieren würde. Er denunziert nie das Metier von Webern oder Boulez. Aber was ist dann Metier? Man darf sich nicht vorstellen, dass Nono eine Art Rimski-Korsakow der Instrumentation war, der nur, weil er ein Ideal hatte, dieses nicht in die Tat umsetzte. Es ist so geworden wie es ist, und manchmal hört man ihm den Wunsch an, doch anders geworden zu sein, und manchmal eben nicht. Dieses ständige Changieren, was einem wirklich in Schwierigkeiten bringt, vor allem wenn man mit Studenten darüber spricht, denn: Wie kannst du einem Studenten, der etwas Ähnliches in seinem Stück bringt, vernünftigerweise klarmachen: Du, den Sopran hörst du da nicht. Und dann holt er den Nono und sagt: Aber hier! Wo wäre dann das Kriterium?
Idiom
Helmut Lachenmann: Apropos Sopran, das ist für mich keine Frage von Metier, wie wenn einer die besseren Brezen backt oder so. Das ist nicht die Frage, sondern: Hier hat ein Komponist ein Idiom geschaffen. Er hat eine Sprache und eine Landschaft aufgerissen, und da geht er weiter. Dann tritt er vielleicht auch mal in die Stille und macht einen Schritt vielleicht zu viel oder zu wenig. Die Dinge schaffen einen Kontext, da kann ich dann sagen: Die Dinge muss ich noch hörbar machen etc. Möglicherweise muss dann ein Interpret, wenn er das sieht, noch einen Schritt weiter gehen als der Komponist.
Wolfgang Rihm: Dass er ein Idiom geschaffen hat, straft doch eigentlich jede Überlegung Lügen [von Leuten], die sagen, es gebe einen Fortschritt im Material in einer Form, die objektiv wäre. Es gibt nur das subjektive Vorgehen, und wer ein Idiom schafft, der hat’s eben geschafft.
Helmut Lachenmann: Nochmals zu Jürg Stenzl, „keine Rezeption in USA“ und „Nono zu hören wie Ein Überlebender aus Warschau“, die scheinbaren Möglichkeiten, das zu hören, dass die genau das Skandalon bei Nono waren. Die Structures I, die kann ich als eine Art perkussiver Zwitschermaschine wieder in meinen ästhetischen Haushalt hereinnehmen, da bekommen sie so einen exotischen Platz, und Ligeti spricht selber in der Analyse der Structures nachher von der „Katzenwelt“ des Marteau sans maître: das eine ist ein bisschen starrer, das andere umso lebendiger. Auf der Ebene sind wir tatsächlich in der Lage, als Avantgardophile eine ganze Menge von scheinbar innovatorischen Dingen zu hören, mit unseren alten Ohren. Während unsere Ohren möglicherweise beleidigt werden, wenn wieder so ein Topos wie der des Appells kommt und nicht nur durch ein Strammstehen oder ein Sich-Mitreißenlassen, sondern zugleich eine Aufforderung zum Aufpassen, zum Hören, verlangt wird. Und an der Stelle ist Nono einfach lästig und gibt für diesen andern Aspekt zu wenig her. Wenn schon Ausdruck, dann lieber gleich Mahler, den wir auch lieber missbrauchen, das funktioniert dann schon.
Jürg Stenzl: Idiom, das scheint mir wichtig zu sein. Gerade Canto sospeso führt das ja hörbar vor. Nehmen Sie nur die Teile für Chor. Dann sehen Sie, dass von der berühmten Nr. 2, die Stockhausen partiell analysiert hat, bis zum letzten für Chor und Pauken ein Prozess [stattfindet]. Der Prozess, wie das Idiom geschaffen wird und es sich nachher transformiert, der ist am Canto sospeso hörend nachzuvollziehen. Das war der Grund, wieso der ursprüngliche Plan, dass der Canto sospeso ursprünglich nämlich elf Sätze haben sollte, nach dem neunten aufgegeben wurde. Am neunten Satz war er dahin gekommen, wo dieser Prozess, strikt musikalisch gesprochen, an ein erstes vorläufiges Ende gekommen war. Die Werke wie La terra e la compagna und die Cori di Didone machen dann diesen neunten Satz von Canto sospeso zum Ausgangspunkt, das Idiom nicht nur zu schaffen, sondern es immer weiter zu entwickeln. Canti di vita e d’amore ist nicht ein, sondern sind zwei Werke […] Canciones a Gujomar sollte auch zwei Stücke werden. Apropos Kürzungen: Ich behaupte, dass der letzte Satz von Polifonica – Monodia – Ritmica, so wie wir ihn heute kennen, die gekürzte Fassung von Scherchen ist. Er ist einfach zu kurz. Ich glaube, man kann auch genau zeigen, wo Scherchen gekürzt hat. Er kürzte immer gleich. […]
Provisorium Werkgestalt
Bei Nono gibt es eine Bereitschaft, in die Werke auch einmal mit der Axt hineinzugehen, und dann entsteht eine Werkgestalt, die für uns so erscheint wie wenn das die ursprünglich konzipierte gewesen sei. Ist es überhaupt nicht. Es gibt da eine Elastizität, oft in letzter Minute, bei den praktischen Aufführungen. Diejenigen, die dabei waren bei der Uraufführung von Prometeo in Venedig, da wurde 24 Stunden vor der Uraufführung ein „Streichkonzert“ veranstaltet, dass einem die Haare zu Berge standen. Als das erste Durchspielen war, war klar, dass der Prometeo drei Stunden dauert oder dreieinhalb. Und dann wurden innerhalb von 24 Stunden etwa eineinhalb herausgenommen.
André Richard: Als er das geschrieben hat, hat er genau wie im Streichquartett in der ersten Fassung Fermaten geschrieben. Ich hatte immer das Gefühl, er wusste überhaupt nicht, wie lang der Prometeo sei. Er hatte unwahrscheinlich viele Fermaten. Ich hatte das Gefühl, er hatte überhaupt keinen Überblick über das Timing. Das hat sich nachher sofort herausgestellt – zusammengestrichen. Und wenn ich denke, dass nach drei Stunden Musik noch das ganze Atmende Klarsein kam – 45 Minuten ein Stück für sich allein als Schluss – das hat man damals in der Generalprobe gesungen. Das hat er dann alles weggestrichen, hat sehr schnell die Situation gerettet. Die Fermaten hat er dann ausnotiert: Viertel=60, eine punktierte Halbe. Abbado sagte, das kann man mit dem Orchester sonst nicht spielen.
Wolfgang Rihm: Was mich fasziniert: Mit den Händen am Material komponiert. Nicht ein Komponieren, was vom Kopf aufs Papier in irgendeiner Form gefilterte Geistesergebnisse absondert, eine Art Destillat von Denkprozessen. Sondern es ist Denken selbst, es ist der Vorgang von Formung, Gestaltung im Moment. Helmut hat mal gesagt, manchmal kommt es ihm vor, als würde er in die Interpreten hinein improvisieren.
Helmut Lachenmann: Man kann das nicht sehen, ohne zu wissen, dass es eben den Nono der 50er- und 60er-Jahre gegeben hat. Das heisst, da ist eine unglaubliche Destillierpraxis vorausgegangen, die von diesen Erfahrungen gelernt hat. Der Nono der 80er ist derjenige, der diese ganze Zeit erlebt und die damit gemachten Erfahrungen so gespeichert hat, dass er jetzt relativ schnell etwas setzen und damit umgehen kann. Aber diese Setzungen selber sind für mich immer noch geladen mit dieser Erfahrung. Ein großer Trommelschlag ist bei ihm was anderes als wenn man sagt: Ich nehme jetzt einfach mal dieses Gerät, diesen Klang, und es kommt was raus. Es kommt aus einem Zusammenhang, in dem das vielleicht gar nicht diese Implikationen hat, und das hört man nämlich […] Ich sehe viel mehr Gewalt in dem Aufbrechen des kleinen Tones als in den paar Stellen in Guai ai gelidi mostri, wo die Trompete aufheult. Das ist wie ein Steinbruch, wo so ein Quader irgendwo herumliegt. Aber gewalttätiger ist diese Stelle nicht als etwa diejenige, wo das insistiert auf einem fast grausamen Pianissimo, wo man permanent etwas schabt. Da ist, glaube ich, vorher eine Reinigung der Mittel vorangegangen, die jetzt keine Angst mehr hat und sich nicht mehr neu kontrolliert, sondern sich einfach verausgaben kann.
Jürg Stenzl: Ich glaube, das kannst du schon in den 50er-Jahren sehen. Gerade wie Diario polacco I.
Helmut Lachenmann: Diario polacco I entstand, als ich in Italien war, er hat gesucht, die Zeit war notwendig […] Im Unterricht: „Zwei Töne wie melodisches Cellul, das ist altes bürgerliches Musikdenken! Ein Triller!“ Da war noch ein Kämpfen um musikalische Morphologie. Das hat er abgeschüttelt, als er Intolleranza geschrieben hat – da hat er einfach Canto sospeso hineingenommen […]
Wolfgang Rihm: Aber wie geht jetzt die Rezeption damit um? Wir reden darüber jetzt relativ locker. Es gibt die Wissenschaft, die Hörer, die Komponisten. Wie gehen die damit um? Das interessiert mich. Was macht ein Komponist, wenn er jetzt auf der Suche ist? Der stellt doch etwas her, was gar nicht vorhanden ist. Was macht ein Wissenschaftler, der da was liest, was es gar nicht gibt? Und der Hörer hört etwas, was es gar nicht gibt. Was gibt es dann? Das ist das Wesen von Musik, an das man da kommt.
Das offene Kunstwerk
Jürg Stenzl: Ich möchte etwas zur Genese von Intolleranza sagen. Calvino hat versagt, Ribellino hat ein ganz konventionelles Libretto gemacht und dann hat er [Nono] schließlich selber sein Libretto zusammengeschustert. Es ist relativ leicht, eine generelle Intention dieses Werkes darzustellen, als Historiker: Was war geplant, wie viel ist davon realisiert worden? Jetzt rede ich als jemand, der sich überlegt: Wie soll man dieses Werk heute machen? Ich würde mit einem Regisseur zusammensitzen und sagen: Welches ist das musikdramaturgische Prinzip in diesem Werk? Dann wäre ich ohne weiteres bereit, auf der Basis eines durchdachten Konzepts das, was Nono gemacht hat, weiterzuführen. Zum Beispiel einen Ausschnitt von Diario Polacco irgendwo hineinzutun, wo er sinnvoll ist. Intolleranza ist ohnehin so etwas wie eine Zusammenfassung der Erfahrungen der fünfziger Jahre, und wenn, dann kann man auch ein Stück Lorca-Epitaph hineintun.
Wolfgang Rihm: Bei Al gran sole ist es auch so.
Jürg Stenzl: Ich habe jetzt noch ein unvollendetes Werk für 72 Solostimmen gefunden, das seit 15 Jahren in der Unibibliothek in Basel liegt, als Nachlass eines Westschweizer Musikkritikers. Es heißt: Da un diario italiano. Die Texte kennen wir alle, die stehen im Zweiten Teil der Intolleranza. Die Musik kennen wir zum Teil auch, denn die steht zum Teil im zweiten Teil von Ein Gespenst geht um in der Welt von 1971, und zum Teil steht sie auch im zweiten Teil der Intolleranza, zum Teil nicht. Und der zweite Teil von Al gran sole ist auch, wie Harry Vogt gezeigt hat, soweit Selbstzitat, das man fast etwas den Eindruck hat, er hat die Lust am Werk verloren. Ich mag mich an ein Gespräch mit Vogt erinnern, als der dann diese ganze Zusammenstellung mit Selbstzitaten gemacht hat, mehr als zwei Drittel im zweiten Teil von Al gran sole sind Selbstzitate aus früheren Werken. Nun wenn ich sage Selbstzitate, muss ich mich gleich korrigieren: Er hat nie das Werk genommen und einfach abgeschrieben, sondern es ist das Prinzip der Transkription, wie wir es von Liszt kennen. Er nimmt dann diese 72 Chorstimmen und macht daraus eine Szene für kleinen Chor, großen Chor und Orchester. Wie er das macht, ist wirklich ein Lehrbeispiel, wie er mit seinen eigenen Materialien umging, wenn sie in einen neuen Kontext hineinkamen: nämlich da zu einer großen Opernszene, oder wenn sie ein instrumentales Interludium wurden in einer Kantate wie Ein Gespenst geht um.
Wolfgang Rihm: Busonis Dr. Faust ist dieselbe Praxis. Hans Peter Haller sagte: Wir machen alles zu kompliziert. aber es ist immer beides da.
Helmut Lachenmann: Nochmals zum Idiom. Ich erinnere mich nur, dass alles, was damals bei Nono passiert ist, eigentlich kein Unterricht war, sondern ein Nachdenken über die Mittel. d.h. das Komponieren war fast gleichbedeutend wie das musikalische Material, soweit es schon da war, zu erkennen in seiner Vorgeprägtheit, und darauf zu reagieren. Und damals – das soll man schon trennen, damals – war Nono derjenige, den hab ich gehört in Darmstadt, der sagte, man könnte von einer Darmstädter Schule sprechen, was ja heute ein Schimpfwort ist. aber Nono hat es so gesagt. Er hat wirklich geglaubt […]
[Ende Tonbandkassette Seite B]