
Wie ein erratischer Block liegt das Orchesterstück passage/paysage von Mathias Spahlinger in der musikalischen Landschaft. Musikalisches Hartgestein, alle Proportionen sprengend. Zum Anlass seiner Wiederaufführung durch das Ensemble Modern Orchestra, fast drei Jahrzehnte nach seiner Entstehung, sollen dieser Solitär und das Gedankengebäude, in den er eingebunden ist, hier etwas genauer unter die Lupe genommen werden.
Widerstand und Freiheit
Nach dem Wegfall der allgemein verbindlichen ästhetischen Normen im 20. Jahrhundert ist Freiheit zu einem zentralen Thema des künstlerischen Diskurses geworden. Doch um welche Freiheit geht es dabei? Um die schrankenlose, zur Beliebigkeit tendierende Freiheit des anything goes oder um diejenige, die gegen Widerstände erkämpft werden muss? Die zweite Art von Freiheit ist zweifellos die nachhaltigere. Dazu nur zwei Beispiele aus der Vergangenheit: Der berühmte antike Redner Demosthenes soll übungshalber Kieselsteine in den Mund genommen haben, wenn er sich auf seine Reden vorbereitete, und Igor Strawinsky betonte in seiner „Musikalischen Poetik“, wie wichtig es sei, sich beim Komponieren Beschränkungen aufzuerlegen: „Meine Freiheit wird um so größer und umfassender sein, je enger ich mein Aktionsfeld abstecke und je mehr Hindernisse ich ringsum aufrichte. Wer mich eines Widerstands beraubt, beraubt mich einer Kraft. Je mehr Zwang man sich auferlegt, umso mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln.“
Um die Befreiung aus selbstgemachten Fesseln geht es auch in Mathias Spahlingers dreiviertelstündigem Orchesterstück „passage/paysage“. Das ist zwar nicht das erklärte Thema des Werks, aber ein gewichtiger Subtext, der die Klangerscheinung maßgeblich prägt. Hört man sich die Aufnahme der Donaueschinger Uraufführung von 1990 unter der Leitung von Michael Gielen an, so hat man den Eindruck, dass da einer vernehmlich an den Gitterstäben eines selbstgebauten Gehäuses rüttelt, um hinaus ins Freie zu gelangen. Oder mit den Worten Strawinskys: um sich von den Ketten, die den Geist fesseln, zu befreien. Diese Spannung von Kraft und Gegenkraft ist von Anfang bis Ende spürbar und eine bestimmende Größe, was die sperrige Form und die robuste Körperlichkeit des Klangs angeht.
Begriff und Klang, ein produktiver Widerspruch
Der Widerstand, an dem sich die Musik von „passage/paysage“ ideenreich abarbeitet, besteht, was etwas ungewöhnlich klingen mag, aus Begriffen. Genauer: aus theoretischen Überlegungen zu Grundsatzfragen des Komponierens und zur Art und Weise, wie sich Kunst und Wirklichkeit zueinander verhalten. Spahlingers geistige Heimat ist die Tradition des dialektischen Denkens von Georg Wilhelm Friedrich Hegel über Karl Marx bis zu den Nachfolgern im 20. Jahrhundert, zu Ernst Bloch und vor allem Theodor W. Adorno, der das Diktum von Hegel, „Das Wahre ist das Ganze“ (aus der Vorrede der „Phänomenologie des Geistes“ ->download) provokativ umformulierte in „Das Ganze ist das Unwahre“. Eine Pointe, die schon fast das Motto von „passage/paysage“ abgeben könnte.

Ein früher Grundgedanke Spahlingers lautet: Wirklichkeit ist nichts dem Subjekt Äußerliches, sondern konstituiert sich erst in dessen Bewusstsein. Auf die Musik übertragen heißt das: Das musikalische Werk ist nicht durch den Notentext ein für alle Mal definiert, sondern findet seine Endgestalt erst in der Wahrnehmung durch den geistig wachen Zuhörer.
Dieses Wahrnehmungsmodell erfährt in den Achtzigerjahren eine Ausweitung und Differenzierung. Es ist die Zeit der Postmoderne. Das denkende Ich, zuvor eine weitgehend unangefochtene Instanz, wird in Frage gestellt. Wahrheit ist plötzlich nur noch etwas Relatives, und wenn es um die Wahrnehmung von Wirklichkeit geht, macht jetzt das Wort von der Perspektivenvielfalt die Runde. Mathias Spahlinger, der Dialektiker aus Leidenschaft, muss da wohl aufgehorcht haben. Als ätzender Kritiker von festen Wahrheiten jeder Art hatte er früher auch gegenüber den eindimensionalen Slogans der aktivistischen Achtundsechziger stets eine gesunde Skepsis bewahrt. Nun hatte sich der Zeitgeist gewandelt, und die Wirklichkeit, bisher mit Vorliebe als ein Ganzes gedacht, zerfiel unter dem Ansturm der Kritik in Fragmente.
Der Sprung von der Theorie in die ästhetische Praxis
Diesen Punkt, die Kritik der Totalität, hat Spahlinger in „passage/paysage“ zum kompositorischen Prinzip erhoben. Das Ganze ist das Unwahre. Seine theoretischen Überlegungen hat er dabei auf hörend nachvollziehbare Weise in Klang umgesetzt – die musikalische Erfindung hat sich gegen die Widerstände des begrifflichen Denkens durchgesetzt, die „Ketten, die den Geist fesseln“, wurden gesprengt.
Den Weg vorgespurt hatte Spahlinger bereits in den Kompositionen „extension“ (1979/80) für Violine und Klavier und „inter-mezzo“ (1986) für Klavier und Orchester. Sie bilden mit „passage/paysage“ eine Trias. In allen drei Stücken geht es um die Zersetzung von Ordnung, um die Kritik der traditionellen Syntax und, was damit untrennbar zusammenhängt, um die Beseitigung formaler Hierarchien.
Alles ist im Fluss
Für „passage/paysage“ heißt das: Nichts mehr ist fest, alles im Fluss. Das ganze Stück ist im Grunde genommen ein einziger Übergang. Die Klangzustände verändern sich permanent, und keiner hat die Möglichkeit, sich so zu stabilisieren, dass er eine dominierenden Funktion bekommt. Kaum ist er scheinbar etabliert, wird ihm schon wieder der Teppich unter den Füßen weggezogen. Das einzig Feste ist paradoxerweise der andauernde Wechsel der Perspektive. Es gibt keine festen Metren mehr, keine Tonfolgen in Gestalt von Melodien, keinen klaren Unterschied zwischen Tonhöhe und Klangfarbe; Einzeltöne werden in Minicluster, Akkorde durch Zusatztöne und Geräusche in Klanggemische, polyphone Linien durch übermäßige Verdichtung in Klangströme verwandelt. Und selbstverständlich gibt es auch keine harmonische Ordnung mehr in Form von tonalen Hierarchien. Dazu Spahlinger: „Es gibt keine etablierten Gestalten, sondern nur solche, die im Begriff sind, zu entstehen, und solche, die im Begriff sind, zu vergehen, die also wechselnden Kategorien angehören. Es befindet sich also möglichst alles ‚between categories’, das ist die Hauptidee.“
An die Stelle der traditionellen Auffassungen von Satztechnik, Musiksprache und Formbildung tritt damit ein umfangreiches Repertoire an neuen Strukturtechniken, Klanggestalten und Ausdrucksformen. Man wird konfrontiert mit einer zerklüfteten, bis in letzte Detail durchgearbeiteten Klangmasse, die in allen Farben funkelt. Wie ein Lavastrom frisst sie sich durch Raum und Zeit und nimmt ständig neue Gestalt an.
So ist auch der Titel zu verstehen: Eine offene Klanglandschaft mit Passagen, die in alle Richtungen führen, aber nicht mehr zu einem Zentrum. Perspektivenvielfalt eben. „Das ist wie ein Spaziergang, der auch nicht zwingend irgendwohin führen muss, aber der vielleicht eine zwingendere Form von Erfahrung ist, als wenn man sich an die vorgeschriebenen Wege hält“, sagt Spahlinger. Eine komponierte Form, die eigentlich keine ist, weil sich alles stets im Übergang befindet, lässt sich nur durch Paradoxien hinreichend beschreiben.
Dramatik, Ruhe, Stagnation
Trotzdem: Es gibt einige besonders markante Übergange, die das Ganze gliedern; vielleicht nicht in „Teile“ – den Begriff lehnt Spahlinger ja ab –, sondern in etwas, das man als unterschiedliche Klassen von Materialzuständen bezeichnen könnte. So baut die kontrastreiche, blockartig strukturierte Eröffnungspartie ihren hohen Energielevel nach und nach ab und mündet nach etwa sechs Minuten in eine Phase, in der die Klänge ruhig zu pulsieren beginnen. Es ist eine gleichsam atmende Bewegung, die schließlich in Stagnation mündet – die Zeit bleibt hier einfach stehen. Es folgen Momente des Aufruhrs mit dramatischen Aufschwüngen und Abstürzen, Eruptionen des großen Schlagzeugapparats, Passagen, in denen der Klangstrom mit Accelerando und Ritardando konvulsivische Bewegungen vollführt und solche, in denen der Raum in weiten Bögen durchmessen wird.
Die lange Schlusspartie – sie ist eigentlich gar keine, weil der Schluss offen bleibt – ist sodann ein Hörerlebnis der besonderen Art: die schier endlose Wiederholung eines markanten, um den Ton H herumgruppierten Klangaggregats, dessen innere Zusammensetzung und äußere Konturen sich über die lange Zeitstrecke hinweg immer wieder verändern. Es ist dasselbe und doch nicht dasselbe. Je länger diese repetitive Phase dauert, desto tiefer dringt man in das Innere des Klangs ein – und dann merkt man plötzlich, dass Innen und Außen dasselbe ist und man sich längst in der Überfliegerperspektive befindet. Eine Erfahrung wie in der heutigen Virtual Reality. Und man hat vergessen, dass es einmal so etwas wie einen Käfig der Begriffe gegeben hat.
Ensemble Modern: Konzerttermine
3.9.2018 Berlin, Musikfest Berlin
28.9.2018 München, Musica viva