Am 7. Mai 2014 beginnt die vierzehnte Münchener Biennale für neues Musiktheater. Es ist die letzte unter der Leitung von Peter Ruzicka, der sie 1996 von Hans Werner Henze übernommen hatte. Für eine Gesamtbilanz ist es jetzt noch zu früh, denn die Ausgabe 2014 ist ja noch nicht über die Bühne gegangen. Doch anhand der Vorankündigung mit den skizzierten Stückbeschreibungen lässt sich immerhin bereits erkennen, wohin die Reise geht.
Das Programm steht in diesem Jahr unter dem Motto „Außer Kontrolle“, entnommen einer Neuproduktion von Detlef Glanert nach einem Schauspiel von Elias Canetti. Das klingt nach Science Fiction und Technik-GAU, meint aber das Verhalten der Menschen, wenn sie unversehens frei über ihr Leben entscheiden können und nicht wissen, wann sie sterben. Und um Tod und Leben geht es auch in anderen Werken. Der 34-jährigen Serbe Marko Nikodijević wendet sich der verrätselten Welt des 1983 ermordeten Komponisten Claude Vivier zu. Beim vier Jahre ältere Katalanen Hèctor Parra steigt – in Umkehrung der antiken Orpheus-Sage – nicht Eurydike, sondern Orpheus als Toter aus der Unterwelt und wird durch weibliche Liebe zum Leben errettet. In „Sommertag“, dem neuen Stück von Nikolaus Brass nach der Vorlage von Jon Fosse, hält eine Frau Rückschau auf den Tag, an dem ihr Mann aufs Meer hinausfuhr und nicht mehr zurückkam. Und dann gibt es noch den Zweiakter „Kopernikus“ von Claude Vivier, Untertitel: „opéra-rituel de mort“. Bei so viel Todesthematik mutet ein offensichtlich politisch intendiertes Stück wie „Wüstung“ des Kanadiers Samy Moussa beinahe wie ein Fremdkörper im Gesamtprogramm an.
Ins Blickfeld rücken die „letzten Dinge“ – existenzielle Fragen, die aus dem Hier und Heute beleuchtet werden. Aber nicht beantwortet. Denn wer könnte das schon? Auch der Mythos als jenseitiger Fluchtpunkt scheint abgedankt zu haben: Der Mensch muss sich mit seinen Unzulänglichkeiten abfinden. So bleibt als letzter Ausweg nur der Nicht-Ort, die Utopie. Der über achtzigjährige Dieter Schnebel, Blochianer mit Herz und Hirn, hat in seinen „Utopien“ für Vokalensemble und Instrumente jedoch nicht das unbestimmt Andere im Blick, sondern die alte christliche Trias Glaube, Liebe, Hoffnung.
Ob in dieser thematischen Ausrichtung etwas von Abschiedsnostalgie seitens des Leiters der Biennale mitschwingt? Tatsache ist jedenfalls, dass die Darstellung konfliktreicher Innenwelten nun den sozialkritischen Realismus aus Henzes Zeiten weitgehend verdrängt hat. Die etwas reißerische Ankündigung, im diesjährigen Programm gehe es um „schärfste Gegensätze: Befreiung–Katastrophe, Erlösung–Horror, Aufbruch–Untergang“, kann davon nicht ablenken.
Münchener Biennale für neues Musiktheater im Umbruch
Die Zeiten haben sich geändert. Das zeigt sich auch im Hinblick auf die Entwicklung, welche das Unternehmen unter Ruzicka durchgemacht hat. Von der frohgemut angekündigten „Zweiten Moderne“, mit der um 2000 der Aufbruch ins neue Jahrtausend gefeiert wurde, ist nicht viel mehr übrig geblieben als ein paar mediale Spielereien und komplexistische Partituren, die inzwischen auch schon Staub angesetzt haben. Auch das jetzige Programm verspricht von der Machart her Neues und Unkonventionelles. Ob diese formale Suche mit der Sinnsuche, die in den schwer lastenden Themen anklingt, in Übereinstimmung gebracht werden kann, oder ob beim Publikum das große Kannitverstan obsiegt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.
Max Nyffeler
Mai 2014