Das Netzwerk Music in Africa (MIA) steht für ein zukunftsorientiertes, von zivilgesellschaftlichem Veränderungswillen geprägtes Afrika. Mit dem Bild eines Elendskontinents, das uns die Medien mit Vorliebe vermitteln, hat es nichts zu tun, und es geht auch nicht um Schleichwege nach Europa. Sein Ziel ist vielmehr der Aufbau funktionierender musikalischer Strukturen in den eigenen Ländern.
Das stand nun zur Debatte bei der „Music In Africa Conference For Collaborations, Exchange And Showcases“ (ACCES), die Ende November 2017 in der senegalesischen Hauptstadt Dakar stattfand. Der Musikkongress brachte zwei Tage lang Musiker, Produzenten, Organisatoren und Kulturpolitiker aus allen Teilen Afrikas zusammen. Das Treffen war eine Art Zwischenbilanz einer nunmehr siebenjährigen Aufbauarbeit. 2010 hatte die Münchner Siemens Stiftung die Music in Africa Foundation gegründet, zu deren Aufgaben es gehört, die Kooperation und den Informationaustausch unter den afrikanischen Musikern und Musikinstitutionen zu fördern.
Die operative Leitung der Music in Africa Foundation ist mit ausgewiesenen Fachleuten aus den Bereichen Musikmanagement, Urheberrecht und Finanzen besetzt; Vorsitzende ist die Senegalesin Aisha Deme, Informatikerin und Mitbegründerin des Internet-Kulturportals agendakar.com in Dakar. Unterstützt wird das Projekt von der Siemens Stiftung und den afrikanischen Goethe-Instituten; auch ACCES war ein Produkt dieser Zusammenarbeit. Dem Initiator Jens Cording, Mitarbeiter der Siemens Stiftung, schwebt vor, dass sich das in kurzer Zeit rasant gewachsene Netzwerk mit Zentrale in Johannesburg eines Tages selbst trägt.
Die Aktivitäten der Music in Africa Foundation spielen sich auf zwei Ebenen ab. Kernstück des Netzwerks ist das Webportal musicinafrica.net, eine umfangreiche Datenbank in Englisch und Französisch mit Essays, tagesaktuellen Nachrichten und Videodokumentationen sowie Selbstporträts von inzwischen rund 14.000 Musikern, Produzenten und Veranstaltern quer durch den Kontinent. Eine zweite Ebene bilden die Kooperationsprojekte, Workshops und Bildungsaktivitäten mit Partnern vor Ort. Alle Aktivitäten liegen in afrikanischen Händen.
Afrika sei ein Kontinent der Hoffnung mit einer einzigartigen Fülle von Musikkulturen, sagte Baaba Maal, international bekannte Koryphäe der senegalesischen Musik, in seinem Eröffnungsreferat zu ACCES 2017. Er ermunterte die nachwachsende Generation, das musikalisches Talent für sich und die Gesellschaft gewinnbringend zu nutzen und sich das nötige Wissen anzueignen: Wie funktioniert die Musikindustrie? Wer ist und was macht der Produzent, der Verleger, der Agent? Und wie bewege ich mich in diesem Feld? Solche Fragen treffen den Nerv der Gegenwart.
Die wachsende Bedeutung der Medien
Das Publikum ist jung, die Musikkulturen befinden sich im Umbruch. In Afrika wurde Musik schon immer als Teil der Alltagskommunikation verstanden, doch heute spielen die Medien für diese Kommunikation eine immer größere Rolle. Die wichtigen Entwicklungen vollziehen sich heute in den urbanen Zentren als Synthese eigenständiger Traditionen mit internationalen Einflüssen.
Als Katalysator wirkt die Musikindustrie – unter dem Begriff versteht man nicht in erster Linie die Multis aus USA und Europa, sondern die unübersehbare Vielfalt lokaler und regionaler Unternehmungen und Netzwerke. Wer sich in ihnen bewegt, strebt heute zuallererst nach Professionalisierung, und zwar auf allen Ebenen, vom Verfassen eines Songs bis zur unverzichtbaren Präsenz im Internet. Viele erhoffen sich durch die Teilhabe an dieser Musikszene soziale Anerkennung unter ihresgleichen und die Erfüllung ihres Traums von einer internationalen Karriere in Afrika und vielleicht sogar darüber hinaus. Das erinnert an die Rolle, die der Fußball für die urbanen Underdogs in Brasilien spielt.
Bei den Musikern gibt es eine verstärkte Tendenz zur politischen Aussage. Die traditionellen Rolle der Musik als Kommunikationsmittel erhält neue Facetten, meint Eddie Hatitye, Mitglied der Music in Africa Foundation und freier Musikproduzent:
„Ich habe noch keine Regierung in Afrika gesehen, die nicht mit der Macht der Musik gerechnet hätte. Doch diese Macht dient oft Zwecken, an die die Musiker selbst gar nicht glauben. Es gibt Geld, und dann machen sie mit. Musiker lassen sich gerne instrumentalisieren. Aber sie sollten sich der Macht bewusst werden, die sie haben. Die große Botschaft lautet: Wenn die Musiker der Versuchung des Geldes widerstehen, dann merken sie plötzlich, wie wichtig ihre Stimme im Kampf für das Gute ist. Wir sollten uns mehr nach ethischen Gesichtspunkten richten, denn dann setzen wir uns für das ein, was gut für uns ist.“
Ungenügender Geldfluss, erschwerte Mobilität
In den auf den Kongresspodien von ACCES behandelten Themen spiegelte sich das afrikanische Musikleben in seiner ganzen Breite. Probleme wurden nicht ausgespart. In den meisten Ländern mit Ausnahme von Südafrika fehlt es zum Beispiel an funktionierenden Inkassosystemen für die Urheberrechte; das Geld kommt nicht bei den Musikern und den Produzenten an.
Ein weiteres Hindernis sind die fehlenden Reisemöglichkeiten der Künstler. Flugtickets innerhalb Afrikas kosten zwei- und dreimal soviel wie nach Europa, die Visabestimmungen sind schwerfällig, der teure Geldtransfer frisst große Teile des Honorars auf. Von der für 2020 von der Afrikanischen Union geplanten Einführung eines einheitlichen afrikanischen Passes erhoffen sich Musiker und Veranstalter wesentliche Erleichterungen.
Zu diesen Problemen – mangelnde Mobilität und stockender Geldfluss – äußerte sich Andre Le Roux im Interview. Er ist Leitungsmitglied der Music in Africa Foundation und Managing Director der Urheberrechtsgesellschaft SAMRO (das südafrikanische Pendant zur deutschen GEMA).
Bedrohung der Kulturen durch den militanten Islam
Eine ACCES-Gesprächsrunde widmete sich der Lage der Musik in den Konfliktgebieten der südlichen Sahara, wo gegenwärtig das vom deutschen Auswärtigen Amt unterstützte Programm MIAconnect zur Unterstützung des schwer beeinträchtigten Musiklebens läuft. Aus erster Hand wurde über die kulturellen Zerstörungen berichtet: In Nordmali wurden nach dem Überfall der Dschihadisten vor fünf Jahren die Musiker mit Tod und Verstümmelung bedroht und flüchteten in den Süden, wo inzwischen das Festival sur le Niger in der Stadt Ségou ein Auffangbecken bildet. In Nordnigeria, wo die Scharia eingeführt wurde, muss heute jedes neue Lied die Zensur passieren.
In Somalia wiederum ist ein Kulturkampf entbrannt: „Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir, dass die Musik als Ausdruck unserer Humanität überlebt, oder schauen wir zu, wie sie zum Verschwinden gebracht wird?“ fragt Jama Musse Jama, Präsident der somalisch-italienischen Red Sea Cultural Foundation.
Senegal: Hiphop und selbstbewusste Frauen
An der Westküste ist von solchen bedrohlichen Entwicklungen nichts zu spüren. Musik ist hier Teil der enormen gesellschaftlichen Dynamik. Im Senegal mit seinen rund 14 Millionen Einwohnern und einem Durchschnittsalter von neunzehn Jahren ist der Hiphop allgegenwärtig und sogar zum wichtigsten Medium der politischen Auseinandersetzung geworden. Seit vor einigen Jahren von einer Gruppe von Rappern und Intellektuellen die Bewegung „Y’en a marre“ („Mir reicht’s“) gegründet wurde, hat sich die Hiphop-Bewegung als politische Kraft blitzschnell im Land ausgebreitet. Inzwischen gibt es im Internet auch das „Journal rappé“, eine politische Tagesschau, wo mit Rapmusik zum Angriff auf die etablierte Politik geblasen wird. Die Bewegung schwappt auch auf die umliegenden Länder über.
Der Wind der Veränderung bläst aber noch aus einer anderen Richtung. Im kulturell stark von Frankreich beeinflussten Senegal gibt es eine sehr aktive Frauenbewegung. Die Frauen wollen sich aus der traditionellen Rolle, die sie bisher an Familie und Haushalt gefesselt hat, lösen und kämpfen um Anerkennung in Berufsleben und Öffentlichkeit.
Es ist im Grunde genommen dieselbe Problematik wie in den entwickelten Gesellschaften in Europa oder Nordamerika, nur zeigt sich hier alles in zugespitzter Form. Der Erneuerungsprozess ist schwieriger und erfordert von allen Beteiligten mehr Energie. Doch es stellen sich Erfolge ein, vor allem natürlich in den urbanen Milieus. Der Musiksektor ist davon nicht ausgenommen.
Die Wurzeln der senegalesischen Frauenbewegung liegen in den sechziger Jahren, und für die heutigen Feministinnen sind die damaligen Pionierinnen ein Vorbild, wie Aisha Deme, die Vorsitzende des Exekutivbüros der Music in Africa Foundation, im Interview erläutert. Der Kampf der senegalesische Frauen um Gleichberechtigung unterscheidet sich von der bisweilen sektiererischen Militanz europäischer Feministinnen – die Männer gelten nicht als Feinde, sondern sollen als Partner gewonnen werden. Das, sagt Aisha Deme, sei die subtilere und letztlich auch schlauere Methode, die alten Rollenmodelle zu überwinden.
Sogar in der machohaften Hiphop-Bewegung erobern sich Frauen langsam ihren Platz. Dabei gibt es aber, wie beim Musikkongress ACCES in einem dem Thema „Frau und Musik“ gewidmeten Panel erwähnt wurde, noch immer feine Abstufungen: Choristinnen sind Normalität, Solosängerinnen schon weniger und Instrumentalistinnen Seltenheit. Das wird vermutlich nicht lange so bleiben. Noch ist Maah Khoudia Keïta vermutlich die einzige Bassistin in ganz Westafrika, sagt Aisha Deme im Interview. Aber in ein paar Jahren wird sich das auch geändert haben. Die gesellschaftlichen Veränderungen machen auch vor dem Musikleben nicht Halt.
siehe auch Singing Wells, the East African Music Research Programme