Die Berliner Avant Premiere 2019 mit neuen Musikfilmen rief wieder einmal mit Macht in Erinnerung, dass sich unser Musikleben schon vor einem Jahrhundert in ein Klassikmuseum verwandelt hat. Das Auseinanderfallen des Repertoires in traditionelle Werke und aktuelles Schaffen nahm vor dem Ersten Weltkrieg Konturen an, und als Arnold Schönberg 1918 in Wien den „Verein für musikalische Privataufführungen“ gründete, war die Segregation besiegelt. Seither wird in Konzert und Oper, trotz bemühter Gegenmaßnahmen, der Vergangenheit gehuldigt. Es ist ein Ausdruck dessen, was Friedrich Nietzsche einst das antiquarische Geschichtsbewusstsein nannte und bei Überdosis als kulturell schädlich diagnostizierte.
Diese Überdosis ist längst erreicht. Doch was weder Nietzsche noch Schönberg ahnen konnten: Im Medienzeitalter hat das Klassikmuseum eine völlig neue Gestalt angenommen. Die musikalische Vergangenheit ist nicht durch philologisches Wissen alt und grau geworden, sondern erstrahlt in der audiovisuellen Epoche im Glanz von Surroundklang, hochauflösenden 4K-Bildschirmen und weltweiten Übertragungen von Freilichtevents mit -zigtausend Besuchern. Ein Qualitätssprung hat stattgefunden, Vergangenheit ist zur glitzernden medialen Gegenwart geworden.
Klassik als globaler Exportartikel
Die digitalen Medien haben aus der europäischen Klassik einen globalen Exportartikel gemacht. Jenseits der Minderheit, die Zugang zu den exklusiven „live“-Darbietungen hat, wächst eine neue Konsumentenschicht heran, die auf weltweit vier- bis fünfhundert Millionen geschätzt wird. Die Zahl nennt Rob Overman, Programmverantwortlicher beim Medienkonzern Stingray. Das kanadische Unternehmen ist heute einer der Big Player im internationalen Klassikmarkt. Es hat unter anderem die Rechte an den Aufnahmen von Unitel, der von Leo Kirch initiierten Klassik-Schatzkammer, erworben und den angebundenen Musikkanal Classica gekauft. Über eigene Apps und globale Anbieter wie Amazon und Comcast hat Stingray heute Zugang zur Hälfte aller Pay-TV-Haushalte weltweit und versorgt sie nicht nur mit Aida, Nussknacker und Beethovens Neunter, sondern auch mit manchen Minderheitsprogrammen. Dank neuer Technologien ist das Geschäft vereinheitlicht, das Zauberwort heißt Video on Demand und Netflix war der Vorreiter. Ob in Bejing, Paris oder Ottawa, überall kann man direkt auf dem Bildschirm sein Abonnement abschließen. Unbemerkt von den Konzertgängern in Berlin, Hamburg oder München ist Europas musikalische Hochkultur damit zum Premiumobjekt in einer globalisierten Medienlandschaft geworden. Für unseren traditionellen Musikbegriff bleibt das nicht ohne Konsequenzen.
Solche Einblicke gewährt die Avant Premiere 2019, das jährlich in Berlin vom IMZ, dem Internationalen Musik- und Medienzentrum Wien organisierte Treffen der internationalen Produzenten, Vertriebe und Sender von Klassikfilmen. Die Teilnehmerzahl wächst jährlich, diesmal waren es über sechshundert. Neben den vielen Premieren aus dem Mainstream-Repertoire und dem erstmaligen Auftritt von zwei potenten staatsnahen Playern, dem China Intercontinental Communication Center und der Moscow Philharmonic Society, gab es wie immer auch Neues von der Technikfront zu sehen.
8K ist nur eine Frage der Zeit
Das japanische Fernsehen NHK promotet, kaum hat die hochauflösende 4K-Technik richtig Fuß gefasst, mit Macht schon die nächste Stufe 8K, geeignet für Riesenbildschirme in Sälen und im Freien; Aufnahmen aus europäischen Opernhäusern und Konzertsälen, natürlich wiederum mit Nussknacker & Co., dienen dabei als Lockmittel. Am anderen Ende der Reichweiteskala präsentierte der Film- und Theaterregisseur Jan Schmidt-Garre sein virtuelles Einmanntheater, eine mit der Multikamera des Berliner Fraunhofer-Instituts aufgenommen Szene aus Mozarts Figaro; Koproduzent ist die Oper Leipzig. Der Zuschauer setzt sich eine VR-Brille auf und befindet sich mitten im dreidimensionalen Geschehen – Immersion pur. Eine Produktion, die als Experiment fasziniert, deren Markttauglichkeit aber vorerst in den Sternen steht.
Die kreativen Ideen gehen im Großangebot der Opern- und Konzertaufzeichnungen erfreulicherweise nicht unter. Zwischen dem publikumswirksamen Schaulaufen der Dirigenten und neuerdings auch Dirigentinnen – Dutzende Male bekommt man in den Screenings der Avant Premiere 2019 die grandiose Herrschergeste beim Abschlag eines Fortissimo-Schlussakords zu sehen – und den scharf beobachteten Liebesszenen auf der Opernbühne finden sich immer wieder Autorenfilme von starker Aussagekraft.
Kreativität im Film und ein neues Klassikportal für Kenner
So etwa die Visualisierung der Erzählung „Descent into the Maelstrom“ von Edgar Allan Poe durch den norwegischen Filmautor Jan Vardøen mit der suggestiven Musik von Philip Glass. Der auf den Lofoten, Poes Originalschauplatz, gedrehte Film verbindet atemberaubende Landschafts- und Meeresbilder mit Aufnahmen aus dem harten Alltag der einfachen Menschen. Eine Hauptrolle spielt das junge, in Tromsøe beheimatete Arctic Philharmonic Orchestra, das einerseits im Aufnahmestudio gezeigt wird, andererseits Teil der Filmerzählung ist und bei der verrückten Idee, in Konzertkleidung mitsamt Instrumenten einen Berg zu besteigen, vom Schneesturm überrascht wird.
Dass in der neuen digitalen Klassikwelt auch Anspruchsvolles seinen Platz finden kann, zeigt die Initiative des Engländers Tony Britten, Komponist der Champions League Hymne und Autor bemerkenswerter Dokumentarfilme. Unter der Adresse theartschannel.online baut er einen Kulturkanal auf, wo künstlerisch hochstehende Musikfilme im Video-on-Demand-Verfahren angeboten werden. Ein Kanal für Kenner und Liebhaber, leise und unspektakulär beim Start, aber mit Langzeitstrategie. Eigentlich wäre das eine Aufgabe für das öffentliche Fernsehen, aber da sind solche Initiativen wohl nicht mehr zu erwarten.
Solche Art von akustischer Medialität hat unsere Möglichkeiten des Hörens versaut. Es ist hier zur reinen Oberfläche verkommen, aber Musik Kompositionen bieten viel, viel mehr. Es ist ein Jammer, denn diese Oberflächlichkeit wird zum Maßstab.