„Das Werk ist ein Liebeslied, kommentierte Olivier Messiaen seine „Cinq Rechants“, komponiert 1948 für zwölfstimmigen Chor mit je drei Sopran-, Alt- Tenor- und Bassstimmen. „Dieses Wort allein reicht aus, um die Sänger in ihrer Interpretation des Gedichts und der Musik zu leiten.“ Die fünf Sätze zeichnen in verschlüsselter Weise eine unmögliche Liebesgeschichte nach, in welcher Antoine Goléa, Autor eines Gesprächsbandes mit Messiaen, auch autobiografische Bezüge entdeckt haben wollte. Im bildersatten, surrealistisch angehauchten Assoziationsfluss von Messiaens Textmontage ist Isolde (Yseult) die Hauptfigur. Im ersten Teil wacht Brangäne über das nach Chagalls Manier in der Luft schwebende Liebespaar, und am Schluss des orgiastischen dritten Stücks heißt es: „Alle Liebestränke sind ausgetrunken an diesem Abend“. Der Tod ist von Anfang an mit dabei. Im ersten Teil trifft man auf Orpheus, der seine Geliebte in der Unterwelt sucht, auch Blaubart taucht kurz auf. Im schwarzen Schlussstücks verwelken die Blumen, und Perseus mit dem abgeschlagenen Medusenhaupt geistert durch die Szene.
Olivier Messiaen auf den Spuren von Tristan und Isolde…
Die Beschäftigung mit dem Tristan-Stoff hat sich in mehreren von Messiaens Werken aus jener Zeit niedergeschlagen, so dass es zu einer Art von „Tristan-Trilogie“ gekommen ist. Den Anfang macht der Liederzyklus Harawi von 1945, Untertitel: „Chant de l’amour et de la mort“; das darin vorkommende Liebesthema stammt aus der Bühnenmusik, die Messiaen 1945 für das Theaterstück Tristan et Yseult des Goncourt-Preisträgers Lucien Fabre geschaffen hatte. Den anderen Eckpunkt der Trilogie markieren die Cinq Rechants, während die 1946–1948 entstandene Turangalîla-Symphonie das Verbindungsstück der beiden Vokalwerke darstellt. Zwischen der Symphonie und den Cinq Rechants gibt es vereinzelte Berührungspunkte wie etwa in der erwähnten Coda des dritten Stücks („Alle Liebestränke sind ausgetrunken“), wo die Klangaura der Symphonie unüberhörbar ist. Mit der Melodielinie des Solosoprans, die über dem gesummten Schlussakkord mit dem idiomatischen weichen Mollseptakkord in Sekundlage schwebt, assoziiert man unwillkürlich den Klang der Ondes Martenot. „Souple et caressant“ (biegsam und liebkosend) schreibt Messiaen hier über die Noten.
… und von Claude Le Jeune
Mit dem Werktitel Cinq Rechants bezieht sich Messiaen auf die mehrstimmige Chanson Le printemps (Der Frühling) des französischen Renaissancekomponisten Claude Le Jeune. Die Abfolge von Strophe (französisch „Couplet“) und Refrain heißt bei Le Jeune „Chant“ und „Rechant“, Es ist ein fröhliches Stück mit tänzerischen Rhythmen, und etwas von seiner Vitalität hat auch auf Messiaens eingedunkelte Liebesgesänge abgefärbt. Messiaen hält sich an das Wechselprinzip von Strophe und Refrain, und im ersten Stück folgt er dem Vorbild sogar bis in die Struktur hinein. Bei Le Jeune gibt es vier kräftige fünfstimmige Refrains beziehungsweise „Rechants“, während die dazwischen liegenden drei Strophen nur zwei-, drei- und vierstimmig, also dünner gesetzt sind. Diesen satztechnischen Kontrast übernimmt Messiaen, verteilt aber die Zwei- und die Dreistimmigkeit auf mehrere sich überlappende Gesangslinien. (Die dritte, bei Le Jeune vierstimmige Strophe entfällt bei ihm.)
Das Kontrastprinzip des ersten Teils – kraftvolle, kompakt gesetzte Refrains gegen dünner besetzte, polyphon strukturierte Strophen – wird im weiteren Verlauf mit viel Fantasie variiert. Im zweiten Stück wird die Reihenfolge umgedreht zu Strophe–Refrain–Strophe. Im dritten Teil weitet sich die letzte Strophe zu einem ekstatischen Höhepunkt mit einer entfesselten zwölfstimmigen Polyphonie aus. Im vierten Teil gibt es wieder die klaren Kontrastwirkungen von rhythmisch-kompaktem Refrain und zurückgenommener Strophe, die hier sogar „monoton“ gesungen werden sollen. Im Schlussteil überwuchern die Bilder des Todes den Liebesrausch. Mit den kryptischen Worten „dans l’avenir“ (in der Zukunft) endet das Werk. Ob damit eine Hoffnung angedeutet wird?
Musikalisch ist das Werk in einer schwebenden Atonalität komponiert. In den raumgreifenden Melodielinien dominieren weite Intervalle, die an die Intonation hohe Anforderungen stellen. Durch die fast rituell wirkende Wiederholung einzelner Teile sowie charakteristische Intervallfolgen entstehen jedoch harmonische Fixpunkte, die die Orientierung auch für das Hören erleichtern. Auf der sprachlichen Ebene bedient sich Messiaen neben dem Französischen noch einer imaginären, offenbar vom Sanskrit inspirierten Lautsprache aus kurzen Silben, die als rhythmisch-klangliche Schicht den Vokalsatz enorm beleben und sich im Extremfall zum reinen Geräusch zuspitzen können. Das Ausdrucksspektrum wird damit in Bereiche hinein geöffnet, die das begriffliche Wort nicht mehr erreicht. Sprache löst sich in Musik auf.
Printversion: Programmheft der Salzburger Festspiele zum Konzert der Solistes XXI unter Rachid Safir vom 31. Juli 2017.