Die Oper, der Shitklick und das junge Publikum.

Eine Tagung in Mailand zum Thema Oper und digitale Medien

Von der Scala gibt es die schönen, noch auf die Zeiten Toscaninis zurückgehenden Plakate mit dem loorbeerumkränzten Mailänder Stadtwappen im Kopf. Auch die Eintrittskarten waren noch bis vor kurzem mit diesem emblematischen Logo geschmückt. Sie wurden von Hand eingetütet, per Post verschickt und galten bei den Besuchern als Trophäe. Damit ist nun Schluss. Gegen den kundenfreundlichen Einwand des Kartenverkaufsbüros („Die Leute wollen das doch sammeln!“) führte die Scala-Verwaltung schnöde E-Tickets ein, mit Strichcode und Versand per E-Mail. Das spart Kosten und erlaubt obendrein die digitale Kontrolle über die Kundendaten. Der Charme der analogen Welt hat sich überlebt.

Das kleine, aber signifikante Detail illustriert den schwierigen Transformationsprozess, den ein stark in der Tradition verwurzeltes Opernhaus wie die Scala beim Eintritt in die digitale Ära durchlaufen muss – oft im Kampf gegen eingefahrenen Publikumserwartungen und die eigene institutionelle Trägheit. Lanfranco Li Cauli, Marketingchef der Scala, sprach darüber beim Fachtreffen „Re-Imagining Opera for the Digital Age“ in Mailand, das vom Internationalen Musik- und Medienzentrum Wien IMZ und der Accademia Teatro alla Scala veranstaltet wurde.

Lanfranco Li Cauli (li.), Leiter Marketing u. Fundraising der Scala, und Tagungsleiter Peter Maniura

Teilnehmer an dieser Tagung über Oper und digitale Medien waren Mitarbeiter von Opernhäusern, viele aus Italien, gut die Hälfte Frauen – die neue Generation der Macher, die in zehn Jahren an den leitenden Posten sitzen wird. Mit den neuen Medien waren alle vertraut, und so ging es ganz direkt um die Praxis: Welche Möglichkeiten bieten die digitalen Mittel, wie hole ich den größtmöglichen Nutzen aus ihnen heraus?

Ohne Social Media geht auch in der Oper  nichts mehr

Mit der Digitalisierung geht ein kultureller Wandel einher, und sein Ende ist nicht abzusehen. Für Peter Maniura, den Tagungsleiter und einstigen Pionier für neue musikalische Sendeformen bei der BBC, ist der Einsatz der digitalen Medien in den Kulturinstitutionen heute unabdingbar. „Wenn du es heute nicht machst, bist du morgen tot“, sagt er mit Blick auf deren Einbeziehung in den Produktionsprozess und die Öffentlichkeitsarbeit im heutigen Musikbetrieb. Das schließt auch die Social Media mit ein, und wer meint, er müsse sich mit diesen oft unsauberen Kommunikationskanälen nicht die Hände schmutzig machen, wird schnell eines Besseren belehrt.

Oper und digitale Medien : Die Rolle der Social Media
Typologie der geilen Emotionen, die die Social Media auslösen können.

Das Thema Oper und digitale Medien wurde konsequent praxisbezogen abgehandelt. Als ein mit allen Wassern gewaschener Medienarbeiter verriet Maniura auch einige professionelle Tricks aus der digitalen Publizistik: Nicht trockene Fakten herunterbeten, sondern Geschichten erzählen; das konkret Lokale betonen, denn es wirkt authentisch; Vermeiden des „Shit-Klick-Faktors“ – das reflexhafte Wegklicken des Zuschauers, wenn sein Interesse nicht sofort gefesselt wird.

Was die Spatzen von den Dächern pfeifen, war auch bei diesem Treffen stillschweigender Konsens: Die traditionellen Kulturinstitutionen befinden sich im Umbruch, und richtige Umgang mit den neuen Medien wird über ihr Überleben entscheiden.

Digitale Medien als Türöffner zu neuen Publikumsschichten

Als besonders erfolgsversprechend gilt die Öffnung zu jenen Publikumsschichten, die zum Beispiel an Oper interessiert sind, aber den Kunsttempel nicht betreten wollen. Das betrifft vor allem das junge Publikum und hochkulturfremde soziale Schichten. Dass dabei die digitalen Medien der beste Türöffner sind, belegte Maniura mit Zahlen aus einer 2018 von der britischen Regierung initiierten Umfrage.

Sie förderte Überraschendes zutage. Eine Mehrzahl der Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen antwortete laut Maniura nämlich auf die Frage nach dem bevorzugten Musikgenre: Klassik und Orchester. Das sagt zwar noch nichts über die Wahrnehmungsqualität aus, und höchstwahrscheinlich spiegelt sich darin auch der Einfluss der Computerspiele, die gerne mit üppiger digitaler Sinfonik auftrumpfen. Aber bei den Jungen ist der sogenannte „Klassiksound“ offensichtlich in. Zwei weitere Überraschungen: Von den 15- bis 34-jährigen Mediennutzern sind zwanzig Prozent an Klassik interessiert, und von allen auf Instagram vertretenen Musiksendern verzeichnet ein kommerzieller Klassikanbieter die meisten Zugriffe.

Kulturelle Institutionen und mediale Präsenz

Auch von Anbieterseite her geschieht etwas, wie weitere Umfrageergebnisse aus Großbritannien zeigen: Bereits 91 Prozent aller kulturellen Institutionen sind in irgendeiner Weise im Bereich „live to digital arts“ aktiv; darunter versteht man den Einsatz audiovisueller digitaler Mittel in Form von Onlinepräsenz, Fernseh- oder Kinoübertragungen. Kurze Clips haben daran den weitaus größten Anteil; doch etwas mehr als der Hälfte der Befragten veröffentlichen die Produktionen auch in vollem Umfang, ein Fünftel arbeitet mit live-Übertragungen. Wichtigster Grund für die Präsenz in den digitalen Medien ist für mehr als die Hälfte der Institutionen „audience development“, also die Werbung neuer Zuschauer;  die Möglichkeit, Einnahmen zu generieren, spielt nur für zwei Prozent eine Rolle.

Oper und digitale Medien: Gründe für die mediale Präsenz

Krise der Klassik? Es kommt auf den Blickwinkel an. In Deutschland ist der Anteil derer, die klassische Musik hören, heute zehnmal so hoch wie in der vermeintlich „guten alten Zeit“ vor 150 Jahren. Und er wächst ständig weiter. Aber auch ein Anteil von sieben bis zehn Prozent der Gesamtbevölkerung bleibt natürlich eine Minderheit. Andererseits existiert ein riesiges Publikumsreservoir, das digital erschlossen werden kann – nicht nur lokal, sondern auch global durch die Spartenkanäle, die über Satellit und Kabel inzwischen Hunderte von Millionen in der ganzen Welt mit der europäischen Klassik vertraut machen.

Neue Publikumsschichten fordern Teilhabe

Damit geht freilich auch ein Kulturwandel einher. Das hochkulturell gebildete Publikum, der qualifizierte Musikhörer, der zu Hause vielleicht auch Kammermusik spielt, die betuchten Festivalbesucher und Opernhabitués: Sie alle bekommen Konkurrenz durch die von außen hereindrängenden Neulinge. Diese hegen andere Erwartungen an die Musik und hören oft an der Oberfläche entlang, doch sie pochen auf ihr Recht, ernst genommen zu werden und zwingen die Veranstalter zu neuen Publikumsstrategien.

Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Die Vermittlungsformen, von der Wahl der Aufführungsorte über die Inhalte und die Art der Kommunikationskanäle bis zur Kritik – all das wird sich ändern müssen. Das Live-Ereignis im Saal wird damit nicht abgeschafft, doch es schrumpft zum Auslöser eines viel umfassenderen kulturellen Prozesses, der auch bislang ausgeschlossene Teile der Gesellschaft erfasst.

Eva Essvik und Mans Pär Fogelberg vom Göteborg Symphony Orchestra, das heute zu den Top Ten der weltweit wahrgenommenen Klassikveranstalter gehört, verwiesen auf die Aktiva in der digitalen Bilanz: Die Kulturinstitute entgehen der latenten Gefahr einer gesellschaftlichen Isolierung und verschaffen sich die zum politischen Überleben nötige Legitimation.

Eva Essvik präsentiert die Erfolgsstatistik des Göteborg Sinfonieorchesters
Birlmingham Opera: Soziale Schwerpunkte des Sponsoring

Subventionen fließen nicht mehr automatisch, und Sponsoren, so verriet nun Richard Willacy, der Direktor der Birmingham Opera, investieren zunehmend nicht mehr in Kunstwerke, sondern in kulturelle Aktivitäten, die dem Erhalt und der Verbesserung sozialer Strukturen dienen. Oper heißt hier denn auch nicht mehr Neudeutung der Tradition hinter verschlossenen Türen, sondern Transformation der originalen Werkgestalt in eine soziale Aktion, die im Alltag jener vierzig Prozent der Einwohner Birminghams stattfindet, für die der neuenglische Begriff „BAME“ – Black, Asean and minority ethnic – gilt. Die englische Tradition der Community Opera findet hier eine radikale Ausprägung.

So weit will man in Italien, dem Ursprungsland der Oper, nicht gehen. Nach Ansicht einer jungen, engagierten Mitarbeiterin der Scala sollte die Werkintegrität unbedingt respektiert werden, was jedoch den kreativen Umgang mit den digitalen Mitteln keineswegs ausschließt. Die Voraussetzungen und Sichtweisen mögen verschieden sein, doch war man sich in Mailänder einig: Möglich ist heute alles. Man muss es nur machen.

Oper und digitale Medien: Hier geht's zur Tagung.

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