Dmitri Tcherniakov inszeniert „Pelléas et Mélisande“ in Zürich
Auch so kann man Mélisande sehen, die rätselhafte Naturfrau in Claude Debussys Oper, halb Rapunzel mit langen Haaren, halb wassersüchtige Undine: Sie irrt nicht verstört im Waldesdickicht umher und wird von Golaud behutsam in sein Familienschloss geleitet. Bevor aus dem Orchestergraben des Zürcher Opernhauses die ersten Töne erklingen, verkündet nämlich eine Schriftprojektion, der Psychiater Golaud habe sich in seine Patientin Mélisande verliebt und bringe sie jetzt nach Hause, um die Therapie in privatem Rahmen fortzusetzen.
Dmitri Tcherniakov, Regisseur und Bühnenbildner, verpflanzt die Handlung des symbolistischen Fin de siècle-Dramas konsequent in ein heutiges Therapeutenmilieu. Vielleicht wollte er damit ja auch dem Genius loci huldigen; laut einer OECD-Statistik von 2014 ist in der Schweiz die Psychiaterdichte rund dreimal so hoch wie der Durchschnitt aller Mitgliedsländer, und die Geld- und Zwinglistadt Zürich gilt seit je als exzellenter Nährboden für solche Heilberufe.
Das düstere Waldschloss Allemonde wird bei Tcherniakov zur modernen Villa, darin der Patriarch Arkel und seine zerfallende Familie ihren gelangweilten Alltag verbringen. Als Angehörige eines degenerierten Psychoanalytikerhaushalts sind sie alle in irgendeiner Weise selbst beschädigt, emotional verarmt und unfähig zur Empathie. Da ist kein Platz mehr für die feuchten Grotten, Brunnenschächte und schattigen Waldlichtungen, die Debussy von Maurice Maeterlinck vorlagengetreu übernommen hat.
Geheimnisloses Intérieur
Tcherniakov ersetzt das alles durch das Einheitsbühnenbild eines hell ausgeleuchteten, mit Designermobiliar ausgestatteten Wohnraums, in dem es äußerlich keine Geheimnisse mehr gibt, wohl aber viel Unausgesprochenes, Verdrängtes. Das einzige, was noch an die atmosphärisch starken Naturbilder des Originalszenarios erinnert, ist der Laubwald, der durch die riesige Fensterfront im Hintergrund sichtbar wird und je nach Situation mal stürmisch bewegt, mal in abendliches Licht getaucht ist; die imposante Videoprojektion wurde von Tieni Burkhalter entworfen.
Die Verlagerung aus einer poetisch imaginierten Waldumgebung in ein bürgerliches Intérieur schafft interessante neue Perspektiven, geht aber nicht ohne Verluste ab. Weitgehend auf der Strecke bleibt etwa die raffinierte Wechselwirkung von Licht und Schatten, ein szenisches Leitmotiv, das sich auch in der musikalischen Struktur facettenreich spiegelt.
Dass man sich im Lauf des Abends dann zunehmend an die ungewohnte Sicht gewöhnt, ist nicht zuletzt der Musik selbst zu verdanken: Die aus dem Sprechtonfall abgeleitete gesangliche Prosodie Debussys kommt dem Realismus des Konversationsdramas, zu dem Tcherniakov die symbolistische Vorlage umgebogen hat, überraschend gut entgegen. Und wenn die Diskrepanz allzu deutlich wird, greift er zum Kunstmittel der Halluzination. Etwa beim Abstieg in die schauerliche Grotte, wo der verliebte Pelléas, nun ganz Psycho-Guru, Mélisande auf der Couch in Trance versetzt und so die Angstvisionen, von der Musik und Text erzählen, aus ihr herauskitzelt.
Gutbürgerlicher Psychohorror
Dem Horror dieses psychotechnisch hochgerüsteten Milieus, wo man den anderen offenbar auch mal per Videokamera beobachtet und sich notfalls mit desinteressiertem Wegsehen durch die Probleme des Zusammenlebens mogelt, ist Mélisande schutzlos ausgeliefert. In der sterilen hellen Umgebung ist sie ein schwarz gekleideter Fremdkörper, weniger eine geheimnisvolle Märchenerscheinung als eine traumatisierte Person von heute, mit leicht asozialem Flair. Vielleicht ist sie eine Junkie, vielleicht hat sie Golaud in der Gosse aufgelesen. Er will sie therapieren und verliebt sich in sie: ein klarer Fall von Sex mit Abhängigen und Ursache wüster Konflikte.
Golauds psychische Kontrolle über Mélisande weitet sich immer mehr zur brutalen physischen Gewalt aus, was Kyle Ketelsen gekonnt, mit finsterer Stimme und herrischem Gehabe ausspielt. Mélisande ist dem Eheterror hilflos ausgesetzt, den elaborierten, metaphernreichen Diskurs der Familienmitglieder versteht sie nicht. So wird sie zum Objekt, an dem sich alle der Reihe nach vergreifen. Der greise Arkel, der mit Brindley Sherratts gleichmäßig lautem Organ zwar stimmlich noch voll im Saft steht, aber kaum noch aufrecht halten kann, bedrängt sie auf unangenehmste Weise. Der verwöhnte Bengel Yniold (der Tölzer Sängerknabe Damien Göritz) macht sich noch an ihrer Leiche mit pietätloser Neugierde zu schaffen.
Corinne Winters als Mélisande findet mit ihrem wandlungsfähigen Sopran die Balance zwischen Widerspenstigkeit und hilflosem Reagieren, ihre seelische Zerstörung und das langsame Erlöschen ihrer Lebenskraft gestaltet sie mit berührender Intensität.
Verräter Pelléas
Und dann ist da noch Pelléas, romantischer Liebhaber von schwankendem Charakter. Jacques Imbrailo gibt ihn mit Leidenschaft und einem leicht heldisch eingefärbten Bariton. Für Tcherniakov freilich ist dieser Pelléas, wie alle anderen, zuallererst Mitglied der sauberen Familienbande, weshalb ihm Golaud die Einmischung in seine Eheangelegenheiten auch kumpelhaft nachsieht. Liebender ist er erst in zweiter Linie. Als er sich zum ersten Mal mit Mélisande trifft und sie Golauds Ring in die Luft wirft und verliert, steckt er ihn heimlich in die Tasche und beobachtet kühl, wie sie danach sucht – ein Verrat der ersten Stunde. Passend dazu lässt Tcherniakov in der Liebesszene im vierten Akt Pelléas auch nicht durch Golaud ermorden; er läuft vielmehr feige davon, während Mélisande als ein Häufchen Elend zurückbleibt und von Golaud schließlich weggetragen wird.
Das alles passt wider Erwarten gut zusammen, und die musikalische Interpretation unterstützte das realistische Konzept. Die Aufführung kann von einem ausgeglichenen, stimmlich präsenten Solistenensemble profitieren und wirkt abgerundet, auch wenn die lyrische, nach innen gekehrte Seite von Debussys Musik zwangsläufig unterbelichtet bleiben muss.
Alain Altinoglu dirigierte mit vorwärtsdrängender Energie, die Philharmonia Zürich glänzte mit schlankem Ton und Transparenz und ließ den delikaten Bläsermischungen, die der reichhaltigen Partitur Lichtpunkte aufsetzen, maximale Sorgfalt angedeihen.
Das lange Orchesterzwischenspiel im vierten Akt gestaltete Altinoglu als großen tragischen Kommentar zum Geschehen. Das hörte sich fast ein wenig wie eine Vorausnahme des Orchesterkommentars nach dem Tod von Wozzeck bei Alban Berg an – eine starke musikalische Parteinahme, bei allen musiksprachlichen Unterschieden. Debussy gelingt das auf seine charakteristische Art: strenger im Ausdruck, zurückhaltender in der Klangentfaltung, aber nicht weniger eindringlich.
Max Nyffeler
(Opernhaus Zürich, Premiere am 8. Mai 2016)