Seiner Komposition „Cosa resta“ für Streichquartett und Stimme hat Salvatore Sciarrino einen Text zugrundegelegt, der auf bestürzende Weise schmucklos daherkommt. Diese lapidare Sachlichkeit, dieser Verzicht auf alle poetischen Metaphern, Feinheiten der Syntax und subjektiven Ausdrucksvaleurs! Etwas „Unkünstlerischeres“, Banaleres ist als Textbasis für eine Komposition nicht denkbar: „Einige wurmstichige Fässchen; 1 Kupferkanne mit vier Steinguttassen (Tassen fehlen); 2 Glasschalen (zerbrochen); 1 Messinglämpchen (in sehr schlechtem Zustand); 1 alter bemalter Hocker, vergoldet (nicht zu gebrauchen); 3 alte Arbeitstische (wurden verheizt).“
Bei dieser Aufzählung handelt es sich um einen Auszug aus dem Inventar des 1530 verstorbenen Florentiner Malers Andrea del Sarto; erstellt wurde die Liste vierzig Jahre später beim Tod der Witwe, die das alles geerbt hatte. Armselige Reste einer bedeutenden Künstlerexistenz der Renaissance, ein Stillleben der besonderen Art. Beschrieben wird eine Welt der toten Dinge, die einst für denjenigen, der sie besessen hatte, einen Sinn hatten und von Nutzen waren. Nun sind sie nutz- und sinnlos geworden.
In einem einleitenden Essay zur Partitur kommt Sciarrino einmal mehr auf ein Thema zu sprechen, das ihn sein Leben lang umtreibt und für ihn von existenzieller Bedeutung ist: die Einsamkeit als intime Konfrontation mit sich selbst – ein Lebensgefühl, das sich in seinem gesamten Werk als unverwechselbare Atmosphäre niedergeschlagen hat.
Er beschreibt seine eigene alltägliche Welt der Dinge, denkt nach über die Bibliothek mit den Büchern, die eine ganze Welt enthalten und eines Tages selbst zerfallen. Über die Gegenstände, die sich im Lauf der Jahre in den vier Wänden ansammeln und uns eine Zeitlang überleben werden. Und über die merkwürdigen Wege, wie Dinge und Gedanken zum Gegenstand von Musik werden können.
Sciarrinos Gedanken sind Gedanken über die Vergänglichkeit alles Bestehenden. Der Barock kannte dafür den lateinischen Ausdruck „Vanitas“, die Eitelkeit der Welt. Und „Vanitas“ heißt auch Sciarrinos Stillleben für Frauenstimme, Violoncello und Klavier von 1981. Es ist das vielleicht reinste Beispiel für seinen hochartifiziellen Manierismus im Stil der Malerei des 17. Jahrhunderts. Mit der für ihn charakteristischen, rituellen Ornamentik am Rande des Verstummens beschreibt die Singstimme die vergängliche Schönheit der Rose.
In dieser Tradition steht auch „Cosa resta“. Zum stark ausgedünnten Streichersatz, der vorwiegend die geräuschhaften Register und hohen Flageolettlagen nutzt und in der zweiten Hälfte zunehmend in ostinaten Tonrepetitionen erstarrt, zählt die Frauenstimme die wertlos gewordenen Gegenstände auf. Der Tonfall ist halb geflüstert, halb gesungen und öfters glissandierend, aber in Tonhöhe und Rhythmus stets klar definiert. Den Gesangsstil hat Sciarrino seit „Vanitas“ immer mehr perfektioniert und verfeinert: Enger Ambitus, entspannte Stimmlage, der Text meist Wort für Wort fragmentarisiert; jede Phrase beginnt mit einem längeren, oft in der Art einer Repercussio wiederholten Ton mit anschließender nervöser Ausfaserung abwärts. Die letzten Worte lauten: „In cuccina: nella bottega:“ – „in der Küche: in der Werkstatt:“
Cosa resta – Was bleibt? Der leere Raum. Damit endet Sciarrinos kleine Elegie des Verschwindens.
Max Nyffeler
Printversion: Programmheft der Musica viva München, Konzert vom 7.7.2017