Anmerkungen zur Autobiografie von Samuel Adler, der 1938 mit seinen Eltern aus Mannheim in die USA flüchtete und nun am 4. März 2024 seinen 96. Geburtstag feiern kann.
Von Jürgen Thym
„Geschichten aus dem Leben eines Komponisten“ lautet der Untertitel der Autobiografie Building Bridges with Music von Samuel Adler. Ja, ein Geschichtenerzähler ist er, aber beileibe nicht nur das. Das Projekt, einige dieser Geschichten aus der mündlichen Überlieferung zu „retten“ und sie für eine spätere Veröffentlichung zu fixieren, begann schon Mitte der 1980er Jahre, als Sam am Familientisch saß und manche dieser Anekdoten erzählte, während ein Tonbandgerät sie aufzeichnete. Die Transkriptionen dienten dreißig Jahre später dazu, seine Erinnerungen zu wecken und das Projekt der Autobiografie 2017 zum Abschluss zu bringen.
Die Episoden sind voller Humor und enthalten einen Hauch von Ironie; sie zeigen ein Bewusstsein für menschliche Schwächen, einschließlich seiner eigenen; sie zeugen von Verständnis und Toleranz. Und gelegentlich werden in den Geschichten ergreifende, mitunter traumatisierende Ereignisse der Geschichte – sogar der Weltgeschichte – aus einer persönlichen Perspektive geschildert: Zum Beispiel Dallas, Texas im November 1963 und New York City im September 2001. Samuel Adler ist in beiden Fällen ganz nah dran. Und schon als zehnjähriger Junge wurde er in seiner Heimatstadt Mannheim Zeuge der Gräueltaten der Novemberpogrome („Reichskristallnacht“) im Jahr 1938.
Ankunft in New York: Ein neues Leben beginnt
Zwei Monate später kam derselbe ‘Pimpf’ mit ängstlichem Blick auf der S.S. Manhattan in New York City an. Die Freiheitsstatue im Hintergrund verhieß die Aussicht auf ein neues und vielversprechendes Leben.
Und was für ein Leben es geworden ist: ein Leben, das in immer größeren konzentrischen Kreisen entworfen wurde; ein Leben, das sich darauf konzentriert, das Weltreich der Musik durch Unterrichten, Komponieren, Vortragen und Schreiben zu bereichern; ein Leben, das sich der Pflege von Freundschaften mit Künstlern in der ganzen Welt widmet. Selbstverständlich sind Adlers Erzählungen auch mit seinen vielen Reisen durch die Vereinigten Staaten, Europa und, in späteren Jahren, Südamerika und Asien verwoben. Seine Lebensgeschichte ist ein Beispiel dafür, wie sehr eine Gesellschaft gewinnen kann, wenn sie ‘Fremde’ aufnimmt und ihnen eine Chance für einen Neuanfang gibt.
Die Geschichten, die sich in Building Bridges with Music wiederfinden, sind nur eine Auswahl aus einem reichhaltigen Repertoire an Episoden und Anekdoten, die ebenso gut hätten erzählt werden können. Die autobiografischen Erzählungen werden durch Anhänge ergänzt: zwei Essays, die sich mit Adlers Tätigkeit als Komponist befassen, ein Interview über dessen Kompositionsunterricht und eine Liste seiner Studenten am College of Music der University of North Texas, an der Eastman School of Music (University of Rochester), an der Juilliard School (NY), am Bowdoin College in Maine und zuletzt an der Amerikanischen Akademie in Berlin.
Eine unterhaltsame Lektüre mit hohem Gebrauchwert
Die Memoiren von Samuel Adler, die im Großen und Ganzen chronologisch geordnet sind, können auf verschiedene Weise gelesen werden bzw. dem Leser nützlich sein. Auf einer sehr grundlegenden Ebene dienen sie als Informationsquelle für diejenigen, die sich mit Adlers Werk beschäftigen. Man findet interessante Details zur Struktur und Entstehungs- und Aufführungsgeschichte der Werke. Vor allem für Programmkommentatoren kann das Buch ein nützliches Nachschlagewerk sein.
Die Geschichten enthalten aber auch viele praktische Tips für junge Komponisten: wie Diplomatie gepaart mit Standhaftigkeit hilfreich bei der mitunter problematischen und konfliktreichen Verfolgung künstlerischer Ziele sein kann. Und dann gibt es natürlich noch die große Zahl von Studenten, Kollegen und Freunden von Samuel Adler, die Building Bridges with Music lesen werden: Zwar werden sie wahrscheinlich erkennen, dass sie einige dieser Geschichten und Anekdoten schon einmal gehört haben. Doch etwas Vertrautes zu finden, das nun in eine größere Erzählung eingebettet ist, kann eine höchst angenehme Leseerfahrung sein.
Samuel Adler, der Brückenbauer
Es gibt in der Tat eine größere Erzählung, die sich aus dem ergibt, was auf den ersten Blick wie ein kumulatives Mosaik von Geschichten aus dem Leben eines Musikers aussieht. Ich möchte mich auf drei Aspekte konzentrieren, die das Leben von Samuel Adler bestimmt haben: der Komponist als Sprachrohr der Gesellschaft, der Brückenbauer (oder Diplomat) und der Spender von Lebensfreude.
Samuel Adler ist ein Komponist, der seine Fähigkeiten in den Dienst der Menschheit stellt Er komponiert für das Hier und Jetzt. Schon als Junge half er einem Nachbarn in Worcester, Massachusetts, ein Lied fertigzustellen, indem er es harmonisierte. Als junger Mann schrieb er eine Hornsonate, weil seine damalige Freundin Hornistin war. Selbst als etablierter Komponist sah er es nicht als unter seiner Würde an, Grundschulkindern in seinem Ort dabei zu helfen, ihre Lieder zu notieren, damit sie für weitere Aufführungen verfügbar waren. Viele – oder sogar die meisten – von Adlers Werken entstanden, weil jemand sie in Auftrag gab (oder, um ein anderes Wort zu verwenden, sie wollte): Interpreten, Dirigenten, Freunde. Mitunter bat man ihn um eine Komposition, die nur wenige Stunden später als Konzertzugabe erklingen sollte.
Sam Adler hat Hunderte von Werken komponiert, meist Vokal- und Chorwerke, die bei Feiern und festlichen Anlässen in Synagogen oder Kirchen aufgeführt werden. Sie kommen in der Tat dem nahe, was Adlers Lehrer Paul Hindemith in den 1920er Jahren Gebrauchsmusik nannte.
Nur sehr wenige Werke Adlers mussten lange auf ihre Uraufführung warten. Der Komponist spricht ganz offen über die daraus mitunter erwachsenden „Enttäuschungen“. Schließlich fanden aber auch sein Oratorium Choose Life und die Sechste Symphonie ihre Interpreten. Und wer weiß: Vielleicht gibt es sogar ein Happy End für seine seit langem vollendete Oper, die aus rechtlichen Gründen in der Schublade schlummert: The Missionary, nach einer Kurzgeschichte von Philip Roth.
Zurück in Deutschland: Gründung des Symphonieorchesters der Siebten US-Armee
Samuel Adler scheint sein ganzes Leben lang ein Brückenbauer und Vermittler gewesen zu sein. Mehr als zehn Jahre nach seiner Vertreibung aus Deutschland kehrte er 1950 als Soldat der amerikanischen Armee in seine Heimat zurück. Nur einen Steinwurf von Mannheim entfernt war er für drei Jahre im rheinland-pfälzischen Baumholder (bei Ramstein) stationiert. Adler beschloss, das nach wie vor angespannte Verhältnis zwischen den „Besatzern“ bzw. Befreiern und der deutschen Bevölkerung mit Musik zu entkrampfen.
Zunächst engagierte er Einheimische für eine Aufführung von Händels Messias und bestand darauf, dass Musiker sowohl aus der evangelischen als auch aus der katholischen Kirche daran mitwirkten; zwischen Pfarrern und Priestern hatte es zuvor nicht viel Kommunikation gegeben, und es gelang ihm, zwei Gemeinden durch die Kraft der Musik zusammenzubringen. Sein Mannheimer Akzent mag dazu beigetragen haben, dass die Bevölkerung in der Pfalz ihn als vertrauenswürdig ansah.
Als zusätzliche vertrauensbildende Maßnahme schlug er vor, ein Orchester aus den für die US-Armee eingezogenen und in Deutschland dienenden Musikern aufzubauen. Seine Vorgesetzten billigten die Idee, und bald tourte ein Pick-up-Orchester unter Adlers Leitung durch deutsche Lande und Städte und spielte Mozart, Beethoven und Gershwin. Adler bestand darauf, dass eines der Werke auf dem Programm immer von einem amerikanischen Komponisten sein sollte. (Das war nur recht und billig und keineswegs ein Anzeichen für amerikanischen Kulturimperialismus, wie es zumindest ein Forscher in jüngster Zeit unterstellt hat.)
Die Deutschen nahmen das Angebot begeistert auf, wie es die zum Teil schwärmerischen Kritiken belegen. Das Symphonieorchester der Siebten US-Armee, war wohl eine der bemerkenswertesten “Institutionen”, die während des Kalten Krieges entstanden sind. Und deshalb konnte es auch nicht erstaunen, dass Sam Adlers vorbildliches Engagement von Präsident Eisenhower mit einer Medaille honoriert wurde.
Eine Begegnung in Heilbronn
Das Orchester existierte etwa zehn Jahre lang, mit ständig wechselnden Musikern und Dirigenten. Eine Anekdote kann ich mir nicht verkneifen: 1960 besuchte ein junger Mann im süddeutschen Heilbronn ein Konzert dieses in khakifarbenen Uniformen konzertierenden Soldatenorchesters. Aus einer kleinen Stadt im Norden des Landes stammend, in der es kein Sinfonieorchester gab, erlebte er in Heilbronns Musentempel “Harmonie” sein erstes Orchesterkonzert überhaupt. Viel später wurde gemunkelt, dass der junge Mann nach diesem Erlebnis beschloss, Berufsmusiker zu werden. So jedenfalls steht es in John Canarinas Buch mit dem Titel Uncle Sam’s Orchestra: Memories of the Seventh Army Symphony (Wortspiel beabsichtigt), das 1998 von der University of Rochester Press veröffentlicht wurde.
Bei dem jungen Mann, von dem hier die Rede ist, handelt es sich um den Autor dieser Zeilen. Es hat sich zwar nicht ganz so zugetragen – ich hatte damals bereits einen starken Hang zu einer musikalischen Karriere. Aber bei einem Treffen des Orchesters in Columbus, Ohio, im August 2010 habe ich den Chronisten des Ensembles meine Erlaubnis gegeben, die Geschichte so zu belassen, wie sie in dem Buch erzählt wird. Schließlich ist es eine schöne Geschichte, und sie bestätigt in gewisser Weise die Legende vom Orchester als Friedensstifter und Impulsgeber in einem entscheidenden geschichtlichen Moment.
Eine weitere Vignette persönlicher Natur, die nicht in Building Bridges with Music erzählt wird, die aber Adlers Fähigkeiten als Vermittler und Diplomat unter Beweis stellt: Im Jahr 1976 besuchte mich meine bald siebzigjährige Mutter in Rochester, NY. Ich lebte seit sieben Jahren in den Vereinigten Staaten, hatte an einer amerikanischen Universität promoviert und war seit drei Jahren an der Eastman School of Music der Universität von Rochester beschäftigt. Nach einem Eastman-Konzert lernte sie Sam Adler kennen. Er war einer der wenigen, die sich mit ihr auf Deutsch verständigen konnten, und deshalb äußerte sie ihm gegenüber die Hoffnung, dass ich zum Lebensabend meiner Eltern nach Deutschland zurückkehren und in ihrer Nähe leben würde. Er erfasste die Situation sofort und sagte, der geborene Diplomat, der er war: „Aber wir brauchen ihn doch hier!“ Zurück zu Hause berichtete sie dann von ihren netten Begegnungen und den hilfsbereiten Kollegen, die ich in dem Land jenseits des Ozeans gefunden hätte. Sam Adlers Argumente für meinen Verbleib in den USA hatten sie offenbar überzeugt.
Samuel Adler, der Brückenbauer zwischen den Religionen
Und nun spulen wir vor ins Jahr 2000 und zu Adlers ökumenischer Messe mit dem Titel Transfiguration (“Verklärung”), die den Komponisten erneut in der Rolle des Vermittlers und Brückenbauers zeigt. Auf Cape Cod (MA) in der kleinen Stadt Orleans (etwa am “Ellbogen” der armförmigen Halbinsel gelegen), lebt eine Gemeinschaft von Christen – weder katholisch noch protestantisch -, die sich dem Ziel verschrieben hat, die verschiedenen Strömungen des Christentums zu vereinen. Ein utopisches Ziel, gewiss, aber ein Ziel, das von Werten geprägt ist, die im religiösen Diskurs allzu oft auf der Strecke bleiben: Toleranz, gegenseitiger Respekt und die Betonung der Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen aller Glaubensrichtungen.
Samuel Adler erhielt den Auftrag, ein Werk für die Einweihung der im neoromanischen Stil errichteten “Verklärungskirche” (Church of the Transfiguration) zu komponieren. Er entschied sich für eine Messe mit Kyrie, Gloria, Sanctus und Agnus Dei als Hauptpfeiler. Ein Credo fehlt, da es dem ökumenischen Geist des Werks widersprochen hätte. Dafür verknüpft Adler die Sätze mit Texten aus dem Gebetbuch Gates of Prayer, das dem Reformjudentum zugeordnet wird.
Mit Transfiguration: An Ecumenical Mass geht er noch einen Schritt weiter als die Brückenbauer von Orleans, Massachusetts. Samuel Adler übernimmt hier die Rolle eines Vermittlers zwischen dem Christentum und dem Reformjudentum, indem er auf Gemeinsamkeiten zwischen religiösen Konfessionen hinweist, die nur in den Köpfen von Dogmatikern getrennt sind, die sich über Themen auf Stecknadelköpfen streiten. Denn wer würde schon den Worten aus Gates of Prayer widersprechen: „Stärke die Bande der Freundschaft und der Gemeinschaft unter allen Bewohnern der Länder … und möge die Liebe zu deinem Namen jedes Haus und jedes Herz heiligen. Gepriesen seist du, o Gott, der du den Frieden gibst!“
Samuel Adler: Kyrie aus Transfiguration
Optimismus und Lebensbejahung
Während die Episoden aus dem Leben eines emphatischen Menschen und kreativen Musikers am Leser vorbeiziehen, blitzt immer wieder dessen geradezu ansteckender Optimismus und lebensbejahender Geist auf. Jedes Kapitel ist davon durchdrungen, selbst jene Episoden, die von Zeiten der Trübsal und Entbehrungen Zeugnis ablegen. Das ist wohl das Hauptcharakteristikum von Building Bridges with Music: der Ausdruck grenzenloser Freude am Leben, an der Kommunikation mit Menschen, durch künstlerische Bemühungen an der Aufrechterhaltung der Musik als Leuchtfeuer der Hoffnung für eine bessere Welt gestaltend mitwirken zu können. „Violinen der Hoffnung“ war der Titel eines Konzerts in der Berliner Philharmonie im Januar 2015, bei dem Adlers Elegie für Streichorchester erklang – eine Musik, die der Erinnerung eine Stimme gibt und damit das Leben bejaht. „Musik als Hoffnung“ oder “Hoffnung durch Musik” könnte man als Motto über Samuel Adlers Lebensgeschichte schreiben.
Samuel Adler: Streichquartett Nr. 10 (2015)
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Dieser Text wurde 2016 als Einleitung zu Adlers Autobiografie Building Bridges with Music: Stories from a Composer’s Life (Hillsdale, NY: Pendragon, 2017) verfasst. Mit geringfügigen Änderungen wird er hier in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht. Eine erweiterte Fassung der Autobiografie wird demnächst bei Paraclete Press (Orleans, Massachusetts) in Druck gehen. Der 1928 in Mannheim geborene Komponist feiert am 4. März seinen 96. Geburtstag.
siehe auch: CD-Rezension
Lieber Jürgen
Eins A Bericht! Christa Fleischhack-Thym