Schmerzendes Gedächtnis

Wenn man etwas über die Gegenwart erfahren will, ist es manchmal nützlich, bei früheren Autoren nachzuschlagen. Zum Beispiel bei Friedrich Nietzsche. In der „Genealogie der Moral“ geht er der Frage nach, wie sich beim Menschen das Gewissen herausgebildet hat. Er bezeichnet diesen Prozess als eine der großen und zugleich schrecklichen Leistungen des vorgeschichtlichen Menschen. Dass der Mensch so etwas wie Verantwortlichkeit entwickeln konnte, sagt er, unterscheide ihn vom Tier. Voraussetzung dazu sei das Gedächtnis, die freiwillige Erinnerung an die geschaffenen Regeln. Deshalb lautet für ihn die entscheidende Frage: „Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss?“

Seine Antwort: „Dies uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. ‚Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss’ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden.“

Und dann blickt Nietzsche auf die Historie zurück: „Wir Deutschen betrachten uns gewiss nicht als ein besonders grausames und hartherziges Volk, noch weniger als besonders leichtfertig und in-den-Tag-hineinleberisch; aber man sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um dahinter zu kommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein ‚Volk von Denkern’ heranzuzüchten (…) Diese Deutschen haben sich mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtnis gemacht, um über ihre pöbelhaften Grund-Instinkte und deren brutale Plumpheit Herr zu werden: man denke an die alten deutschen Strafen, zum Beispiel an das Steinigen (– schon die Sage lässt den Mühlstein auf das Haupt des Schuldigen fallen), das Rädern (die eigenste Erfindung und Spezialität des deutschen Genius im Reich der Strafe!)“ – und dann zählt Nietzsche eine Serie von schauerlichen Tötungsarten auf, deren Darstellung wir hier den zartbesaiteten NMZ-Leser/innen ersparen wollen.

Aber weiter: „Mit Hülfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs ‚ich will nicht’ im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vortheilen der Societät zu leben, – und wirklich! mit Hülfe dieser Art von Gedächtniss kam man endlich ‚zur Vernunft’! – Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche Nachdenken heisst, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen: wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht! wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller ‚guten Dinge’!…“

Wozu dieses Nietzsche-Kolloquium, wo die nmz doch keine Philosophiezeitschrift ist? Einmal als kleiner Hinweis auf die Quellen von Adorno/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“. Aber der Hauptgrund ist: Es handelt sich um einen Schlüsseltext zum Verständnis des deutschen Regietheaters in der Ära nach Hitler.

Und jetzt die Zitate nochmals lesen.

Max Nyffeler

September 2105

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