Siemens-Musikpreis für George Benjamin

Beim Komponieren sei er stark vom Wetter beeinflusst, meinte George Benjamin 2012 in einem Gespräch in München über sein Orchesterstück „Palimpsest“ mit leichtem Augenzwinkern, und präzisierte: „Ich liebe vor allem etwas, das in Großbritannien selten ist, das man aber hier in München, wo die Berge nahe sind, ganz bestimmt kennt: Sonnige Wintertage mit tiefem Lichteinfall und keine Wolken.Wenn die Luft vollkommen klar ist und es dieses heftige, direkte Licht gibt, das in den Augen beinahe schmerzt. Ein Licht, das die Verschiedenheit der Dinge akzentuiert und die Details einer Landschaft klarer erscheinen lässt. Das transformiert die Welt, man sieht sie mit anderen Augen an.“

Benjamin vermag solche sensuellen Eindrücke wie kein Zweiter in klare, transparente Strukturen umzusetzen; in „A Mind of Winter“ für Sopran und Kammerorchester hat er das beispielhaft realisiert. Das klingt zwar nach Impressionismus, und die Musik von Claude Debussy gehörte tatsächlich zu seinen frühen Anregungen. Aber sein Weg führte ihn zu einem persönlichen, von starker Assimilierungskraft gezeichneten Stil. Französische Einflüsse, die englische Tradition, für die Benjamin Britten beispielhaft steht, Einblicke in Schönbergs Reihendenken und ein durch Computerkenntnisse geschärftes Klangverständnis sind darin zur Synthese gebracht.

Hauptinstrument Orchester

In Benjamins Werken geht es immer auch um Inhalte jenseits des reinen Strukturdenkens. Seine Anregungen holt er sich aus der Literatur und der bildenden Kunst, menschliche Charaktere dienen als Vorlage für fein gestaltete Charakterstücke. Andererseits greift er, hier wieder ganz Verfechter einer musikalischen Autonomie, historische Satztechniken und Formmodelle auf, die er auf fruchtbare Weise neu interpretiert.

Benjamins Hauptinstrument ist das Orchester, dem er eine breite Palette von Farben abgewinnt. Es ist eine tragende Säule auch in seinen Opern, zumal in „Written on Skin“ (Aix 2012) und „Lessons in Love and Violence“ (London 2018), Schwerpunkten seines jüngeren Schaffens. Beide handeln von konflikthafter Liebe im Kontext von Herrschaft, die Vorlagen stammen aus dem Mittelalter und dem elisabethanischen Drama.

Das sind alles Werke eines skrupulös arbeitenden Komponisten, der sich von einem hochentwickelten Gehör leiten lässt und sein Klangmaterial gründlich reflektiert. Mit seiner individualistischen, keiner Schule oder Richtung zuzuordnenden Kompositionsweise bewegt sich George Benjamin in einem für England charakteristischen Traditionsfeld, über das im deutschsprachigen Kulturraum, wo allzu lange hauptsächlich Fragen des Materials und der Technik diskutiert wurden, gerne hinweggesehen wurde. Mit der Verleihung des mit 250.000 Euro dotierten Ernst-von-Siemens Musikpreises 2023 an Benjamin wird dieser Eindruck nun erfreulicherweise etwas korrigiert.

George Benjamin, ein Frühstarter

Seine Karriere war früh vorgezeichnet. Geboren 1960 in London, war er mit sechzehn Jahren nicht nur der jüngste, sondern auch einer der letzten Schüler von Olivier Messiaen in Paris. Ein ikonisches Foto aus vergangenen Tagen zeigt ihn mit seinem Lehrer und mit Pierre Boulez, der noch in den letzten Kriegsjahren ebenfalls noch im Jugendalter bei Messiaen studiert hatte.

Preisträger George Benjamin mit Olivier Messiaen und Pierre Boulez
Preisträger George Benjamin (links) mit Olivier Messiaen und Pierre Boulez

Die Studien setzte er in Cambridge bei Alexander Goehr fort, und mit zwanzig, noch als Student, war er mit seinem Orchesterstück „Ringed by the Flat Horizon“ der jüngste Komponist, der bei der traditionsreichen Konzertreihe der Proms in London aufgeführt wurde.

Dirigenten wie Simon Rattle, Pierre Boulez und Kent Nagano machten seine Orchesterwerke in der Folge international bekannt, das London Symphony Orchestra porträtierte ihn während der Saison 2002 mit zahlreichen Aufführungen. Der Preisträger George Benjamin – seit 2017 Sir George – unterrichtet seit 2001 am Londoner King’s College Komposition und hat sich auch als Programmmacher unter anderem beim Londoner Meltdown Festival, als Pianist und als Dirigent meist zeitgenössischer Musik einen Namen gemacht; in Deutschland hat er unter anderem die Rundfunk-Sinfonieorchester des SWR und des NDR dirigiert und ist vor allem dem Frankfurter Ensemble Modern verbunden.

Mit dem Siemens-Musikpreis für George Benjamin wird ein Allround-Musiker ausgezeichnet, der das Musikleben der letzten Jahrzehnte auf unspektakuläre, aber nachhaltige Weise geprägt hat und zweifellos noch lange nicht am Ende seiner vielseitigen Aktivitäten angelangt ist. In der gegenwärtigen, durch ökonomische Unsicherheit und strukturellen Wandel geprägten Situation sind solche Künstler Garanten für das Weiterleben der Musik durch alle Stürme hindurch.

Vokalwerke von George Benjamin
George Benjamin bei der Ernst-von-Siemens Musikstiftung
George Benjamin beim Verlag Faber&Faber

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