Das Internet hat mit Social Media und neuen Musikportalen die traditionelle Kulturlandschaft gründlich umgepflügt, und heute steht auch das altehrwürdige Sinfonieorchester vor der Frage, wie es die neuen Medien für sich nutzen soll. Sich in den Tempeln der Hochkultur einigeln geht nicht mehr, denn klar ist: Wer sich der technologischen Entwicklung verschließt, gerät ins Abseits.
Welche Vor- und Nachteile bringt die Digitalisierung mit sich? Welche neuen Methoden der Produktion und der Öffentlichkeitsarbeit ergeben sich für die Sinfonieorchester? Diese und andere Fragen wurden in einer Orchesterakademie praxisnah diskutiert, die das Internationale Musik- und Medienzentrum Wien (IMZ) unter dem Titel „Re-Imagining the Orchestra for the Digital Age“ Mitte August im Londoner Barbican Centre durchführte.
Das Thema ist offensichtlich virulent. Der Workshop, der sich an die Fachleute aus Sinfonieorchestern, Konzerthäusern und Rundfunkanstalten richtete, war hoffnungslos überbucht und soll im kommenden Jahr in etwas anderer Form und an anderem Ort eine Neuauflage erhalten.
„Dein Job ist, die klassische Musik in der Primetime zu halten“
„Wir alle haben eine Story“, sagt Peter Maniura, „aber wenn wir sie nicht erzählen, haben wir kein Publikum.“ Als er 1999 zum Leiter der Musikabteilung im BBC Fernsehen ernannt wurde, gab ihm sein Chef mit auf den Weg: „Dein Job ist, die klassische Musik in der Primetime zu halten.“ So machte er sich auf die Suche nach neuen Stories. Im herkömmlichen Konzertsaalambiente waren sie nicht zu finden, also führte er das Orchester hinaus an Orte, die eine neue filmische Erzählung ermöglichten.
2004 veranstaltete er mit der BBC in der großen Halle der Paddington Railway Station erstmals einen Flashmob mit klassischer Musik und inszenierte zwischen den Pendlermassen ein Pasticcio aus Opernszenen. Damals kam gerade das Mobiltelefon auf, und die Passanten meldeten das Ereignis in Echtzeit an ihre Freunde und Angehörigen zu Hause. Das Spektakel kam auf die Frontseiten der Zeitungen und diente unter anderem 2008 der viel beachteten „Traviata“ im Zürcher Hauptbahnhof als Vorlage.
Doch das war nur eine Zwischenstation in der rasanten technischen Entwicklung. Wie sich im Verlauf des Londoner Workshops nun zeigte, sind die Formen der Interaktion zwischen Musik und neuen Medien inzwischen vielfältiger, die Methoden der Vermittlung differenzierter geworden.
Neue digitale Strategien der Sinfonieorchester
Hauptreferenten in London waren neben Maniura Mitglieder der Leitungsteams des London Symphony Orchestra und des Sinfonieorchesters Göteborg; sie stellten ihre digitalen Strategien als Fallbeispiele vor. Beide Orchester gehören zu den Pionieren auf diesem Gebiet. Göteborg ist enorm erfinderisch in neuen Kooperationsmodellen, um an neue Hörerschichten heranzukommen.
Das LSO ist weltweit führend im Streaming – ein Viertel der Adressaten ist 18-25 Jahre alt; mit einem differenzierten, auch digitale Medien einbeziehenden System in den Bereichen Erziehung und Nachwuchsförderung – Motto: Discover the orchestra! – wirkt es weit in die Gesellschaft hinein.
Neben praxisnahen Überlegungen etwa zu Produktionsformaten, zu Medienkanälen und zum Nutzen einer eigenen App ging es in London vor allem um Grundsätzliches: um die Unterschiede zum linearen Fernsehen, um das fundamentale Prinzip des Teilens von Informationen, um neue, durch das Internet gesteuerte Formen der Kooperation und Organisation, um die aggregierende und akkumulierende Kraft von Webportalen. Ein komplexer sozialer und kultureller Organismus wie das Orchester kann davon nicht unberührt bleiben. Der Dirigent Leonard Slatkin wurde zitiert: Das Sinfonieorchester dürfe sich heute nicht mehr mit dem Spielen von Musik begnügen, sondern es müsse sich auch um die Hörer und das Repertoire der Zukunft kümmern.
Machen die Hörerdaten das Programm?
Die Arbeit mit den neuen Medien bringt die Gefahr mit sich, dass die quantitativen über die qualitativen Gesichtspunkte triumphieren. Wie viel Publikum, welche Altersgruppen erreichen wir, welches Geräte werden am häufigsten benutzt, was sind die bevorzugten Präsentationsformen? Bei den einschneidenden Veränderungen, denen das Verhältnis von Musik und Publikum heute unterworfen ist und deren Richtung noch niemand so richtig kennt, können solche Überlegungen als Wegweiser dienen. Bei den Programmentscheidungen der BBC spielen deshalb die eifrig erhobenen Hörerdaten eine immer wichtigere Rolle.
Aber noch längst lassen sich nicht alle Phänomene erklären und steuern, und schon gar nicht mit Daten. Warum bewerben sich so viele Menschen, die sich sonst kaum mit klassischer Musik befassen, plötzlich bei einem Dirigentenwettbewerb für Amateure? Was bedeutet es, wenn sich im fernen Kalifornien eine Gruppe von Senioren vor einem alten Fernseher versammelt, um die live-Übertragungen der Konzerte aus Göteborg zu verfolgen? Warum findet die Live-Übertragung eines Sinfoniekonzerts in die durch die Stadt kurvenden Taxis ein so lebendiges Echo?
Der renommierte Musikfilmautor und Multikamera-Regisseur Kriss Russman erinnerte in seinen praxisbezogenen Ausführungen daran, dass alle Faszination stets vom lebenden Menschen und seinem musikalischen Handeln ausgeht. Die Emotionen sind das Transportmittel, ohne sie läuft nichts. Dies gilt auch für Konzertaufnahmen mit acht Kameras und sechshundert vorprogrammierten Einstellungen. Die besten Geschichten, so Russman, erzählt immer noch die Musik selbst, und die Interpreten sind es, die diese Erzählungen weitergeben. Wer dafür kein Gespür hat, dem nützt auch die beste Technik nichts.
(September 2017)